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Motive
ОглавлениеMigrationsentscheidungen unterliegen in der Regel multiplen Antrieben. Meist sind wirtschaftliche, soziale, politische, religiöse und persönliche Motive in unterschiedlichen Konstellationen mit je verschiedenem Gewicht eng miteinander verflochten. Hoffnungen und Erwartungen hinsichtlich einer Verbesserung der Situation nach der Abwanderung können dabei immer auch Enttäuschungen über die individuelle Lage in der Herkunftsgesellschaft widerspiegeln.
Sieht man von den Gewaltmigrationen ab, streben Migranten danach, durch den temporären oder dauerhaften Aufenthalt andernorts Erwerbs- oder Siedlungsmöglichkeiten, Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Ausbildungs- oder Heiratschancen zu verbessern und sich neue Chancen durch eigene Initiative zu erschließen.25 Die räumliche Bewegung soll ihnen zu vermehrter Handlungsmacht verhelfen. In diesen Kontext gehören beispielsweise die großen interkontinentalen Wanderungen von wahrscheinlich 55 bis 60 Millionen Europäern im »langen« 19. Jahrhundert.26 Diese auffällig starke Massenabwanderung aus Europa darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Wanderungsbewegungen ansonsten meist kleinräumig waren und nur zu einem geringeren Teil Grenzen von Herrschaftsräumen oder gar Kontinenten überschritten.
Menschen, die migrieren, weil sie andernorts Chancen suchen, verfügen über wirtschaftliche und gesellschaftliche Potenziale: Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der finanziellen, sozialen und emotionalen Kosten von Migration sind sie motiviert, ihre Kompetenzen und Kenntnisse, ihre Arbeitskraft und ihre Kreativität dort einzusetzen, wohin sie sich bewegt haben. Dafür sind sie oft bereit, Lebens-, Erwerbs- oder Wohnbedingungen in Kauf zu nehmen, die Einheimische ablehnen. Migration verbindet sich häufig mit biographischen Wendepunkten und Grundsatzentscheidungen wie Wahl von Arbeits-, Ausbildungs- oder Studienplatz, Eintritt in einen Beruf oder Partnerwahl und Familiengründung; der überwiegende Teil der Migranten sind folglich Jugendliche und junge Erwachsene. Migration ist eng mit spezifischen sozial relevanten Merkmalen, Attributen und Ressourcen verbunden, darunter vor allem Geschlecht, Alter und Position im Familienzyklus, Habitus, Qualifikationen und Kompetenzen, soziale und berufliche Stellung sowie die Zugehörigkeit und Zuweisung zu »Ethnien«, »Kasten«, »Rassen« oder »Nationalitäten«, aus denen nicht selten Privilegien und (Geburts-) Rechte resultieren.
Angesichts einer je unterschiedlichen Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem, sozialem, juridischem und symbolischem Kapital erweisen sich damit die Grade der Autonomie von Migranten als Individuen und in Netzwerken oder Kollektiven als unterschiedlich groß. Ein Migrationsprojekt umzusetzen, bildete in den vergangenen Jahrhunderten häufig das Ergebnis eines durch Konflikt oder Kooperation geprägten Aushandlungsprozesses in Familien, in Familienwirtschaften beziehungsweise Haushalten oder in Netzwerken. Die Handlungsmacht derjenigen, die die Migration vollzogen, konnte dabei durchaus gering sein, denn räumliche Bewegungen zur Erschließung oder Ausnutzung von Chancen zielten keineswegs immer auf eine Stabilisierung oder Verbesserung der Lebenssituation der Migranten selbst. Familien oder andere Herkunftskollektive sandten vielmehr häufig Angehörige aus, um mit den aus der Ferne eintreffenden »Rücküberweisungen« oder anderen Formen des Transfers von Geld die ökonomische und soziale Situation des zurückbleibenden Kollektivs zu konsolidieren oder zu verbessern.
Solche mehr oder minder regelmäßigen Geldüberweisungen durch Migranten haben bis in die Gegenwart eine ausgesprochen hohe Bedeutung für einzelne Haushalte, für regionale Ökonomien oder selbst für ganze Volkswirtschaften.27 Indien empfängt gegenwärtig die weltweit höchsten Transferzahlungen: Über 70 Milliarden US-Dollar, die vornehmlich von indischen Arbeitswanderern in den Golfstaaten stammen, machten im Jahr 2015 mehr als vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts des südasiatischen Staates aus. Eine zentrale Bedingung für das Funktionieren solcher translokaler ökonomischer Strategien bildet die Aufrechterhaltung sozialer Bindungen – Netzwerke – über zum Teil lange Dauer und große Distanzen. Die Abwandernden senden häufig nicht nur Geld in die Herkunftsregion, sondern fungieren auch innerhalb ihrer Netzwerke als Mittler anderer Weltsichten, neuer technischer oder technologischer, ökonomischer oder kultureller Kenntnisse und Kompetenzen. Damit verschaffen sich Migranten, aber auch jene, die in den Herkunftsgesellschaften Geld und Wissen empfangen, ein Mehr an Handlungsmacht, das heißt mehr Einfluss und Entscheidungskompetenz.