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Konjunkturen des Begriffs »Migration«
ОглавлениеDer Begriff »Migration« verweist auf das lateinische Verb »migrare«. Römische Historiker verwendeten für die Beschreibung von räumlichen Bevölkerungsbewegungen allerdings nur selten »migrare«: Der spätantike Schriftsteller Ammianus Marcellinus benennt im 4. Jahrhundert mit dem Verb »migrare« und dem Substantiv »migratio« den Ortswechsel von größeren Kollektiven unter Zwang. Tacitus verweist in seiner »Germania« drei Jahrhunderte zuvor auf die Bewegungen germanischer Gruppen und benutzt die Begriffe »immigrare« (im Sinne von »einwandern«, »einziehen«) beziehungsweise »commigrare« (im Sinne von »hinwandern«, »hinziehen«). Den Begriff »commigrare« verwendet er beispielsweise dort, wo er von der Übersiedlung germanischer Gruppen nach Gallien berichtet.3 Wanderungen von Individuen und Familien sind kaum jemals Gegenstand antiker literarischer Texte, in aller Regel geht es um Bewegungen großer Kollektive. Antike Autoren gebrauchen »migrare« meist, wenn sie die räumlichen Muster von Nomaden beschreiben wollten. Dieser Sachverhalt verweist auf die dichotomische Vorstellung der Antike von Sesshaftigkeit und Nomadismus: Sesshaftigkeit galt als zivilisatorische Norm, Nomadentum einerseits als Lebensform der nicht-zivilisierten Barbaren, andererseits als längst überwundene Vorform der eigenen Zivilisation. Migration trat »als vergegenständlichtes Paradigma der Furcht vor Regression und Niedergang« auf.4
Auch im Kontext der verstärkten Rezeption des klassischen Latein und der antiken Schriftsteller im Humanismus fanden sich Verwendungen von »migrare« und Komposita wie »demigrare« und »emigrare« oder »transmigratio« im Sinne von »Übersiedlung«. In antiker Tradition verwies »migrare« auch in der Bibelübersetzung Luthers auf die Lebensform von Nomaden. Im Kontext des Zuges der zwölf Stämme Israels durch die Wüste verwendete Luther nicht den Begriff »wandern«, sondern sprach von »wandeln«, »ziehen« und »reisen«. Auch die erste Übertragung von Tacitus’ »Germania« durch Johann Eberlin von Günzburg 1526 übersetzte die Komposita von »migrare« mit »ziehen« und »kommen«.
Im 18. Jahrhundert fand sich dann für den Gegenstandsbereich der spätantiken »Völkerwanderung« (»migratio gentium«) die Verwendung des Begriffs der »Wanderung« im Deutschen häufiger. 1733 hatte sich der aufgeklärte Schriftsteller und einflussreiche Literaturtheoretiker Johann Christoph Gottsched noch gegen die Verwendung des Begriffs »Wanderung« gewandt: Die Bildung auf die Endung -ung sei schlechtes Deutsch und »migrare« ohnehin falsch übersetzt.5 Kaum später aber nahm »Zedlers Universallexikon« (1732–1754) bereits das Stichwort »Völkerwanderungen« auf – noch allerdings nicht mit einem eigenen Eintrag, sondern mit dem Hinweis, der Gegenstand werde unter dem Eintrag »Züge ganzer Völker« definiert und eingeordnet.6
Wie wenig die Begriffe »Migration« oder »Wanderung« verbreitet waren, zeigt sich auch an dem dortigen Eintrag »Migratio«: »migratio« beziehungsweise »migrare«, meine »Wanderung«, unter diesem Stichwort müsse der geneigte Leser nachsehen, der Begriff habe aber »eigentlich« im römischen Recht die Bedeutung des Auszugs aus einem Mietverhältnis. Trotz des Verweises findet sich ein eigenständiger Eintrag »Wanderung« nicht, der Begriff lässt sich aber in einer anderen Verwendung ausmachen: »Zug, ist im gemeinen Leben die Reise oder Wanderung und wird von den Zügen gantzer Völcker unten ein besonderer Artickel vorkommen.«
Der Eintrag »Züge gantzer Völcker, oder Wanderungen der Völcker« handelt wiederum von den in der Forschung aktuell intensiv diskutierten spätantiken »Völkerwanderungen«.7 Das Nachschlagewerk versteht »Migration« und »Wanderungen« in antiker Tradition als Bewegung großer Kollektive.
Dass auch neuzeitliche Wanderungsphänomene häufig auf den Kontext der »Völkerwanderung« bezogen wurden, belegt ein Beispiel aus dem England des frühen 18. Jahrhunderts: Als im Herbst 1709 mehr als 10.000 Menschen, die aus Südwestdeutschland abgewandert waren, in London eintrafen, in der Hoffnung, kostenlos nach Nordamerika weiterreisen zu können, sprach der deutsche Hofprediger Anton Wilhelm Böhme von einer »ungemeynen Migration« der »Pfälzer«, die in Zeltlagern untergebracht und mithilfe von Spenden versorgt werden mussten. Diese »unbesonnene Migration« bezog Böhme ganz offensichtlich auf den Begriff der »migratio gentium« in der Spätantike, so wie er sie verstand: als einen Einfall von Barbaren in die Zivilisation, eine Flut von nicht-erwünschten Menschen, die Instabilität und Unordnung mit sich brachten.8
Im 1832 begonnenen Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm wird »migrare« und »migratio« mit »Fortzug«, der Möglichkeit des »freien Abzugs« übersetzt und »emigrare« mit »auswandern«, »exsul« sei ein »Auswanderer«. Grimms Wörterbuch stellt schließlich als allgemeine Wortbedeutung von »wandern« fest: »wandern im gegensatz zum sesshaften leben« und »besonders wird wanderung (nach migratio) von den zügen der völker gebraucht«.9
Im 19. Jahrhundert hatten sich mithin verschiedene Formen des Begriffs »Wanderung« etabliert. Der Begriff »Migration« wurde demgegenüber erst im Zuge der Etablierung einer modernen Migrationsforschung gebräuchlich – resultierend aus der Übernahme aus dem englischsprachigen Kontext, an dem sich die seit den 1980er-Jahren aufstrebende Migrationsforschung in der Bundesrepublik Deutschland orientierte.
Der wissenschaftliche Begriff rückte auch in der medialen Debatte seit den 1990er-Jahren immer stärker in den Vordergrund. Nicht selten knüpfen dabei Debatten an ältere Muster an: Bis in die Gegenwart wird Migration häufig als Ergebnis von Krisen, Katastrophen und Defiziten verstanden und ihre Folgen als Gefahr für Sicherheit, Wohlstand sowie gesellschaftliche und kulturelle Homogenität. Migration erscheint damit als Risiko, das dringend der restriktiven politischen Vor- und Nachsorge bedarf.