Читать книгу Migration - Jochen Oltmer - Страница 9

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Die Ausmaße, die Richtungen und die Muster von Migration waren stets im Fluss. Die Wahrnehmung dessen, was in welcher Form als Wanderung verstanden wurde, verschob sich ständig. Mit dem Beginn der Neuzeit und vor allem im Kontext von Industrialisierung, Urbanisierung und Agrarmodernisierung seit dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert veränderten sich die Migrationsverhältnisse erneut: Vor dem Hintergrund sich beschleunigender technologischer (Schiffe, Eisenbahnen, Flugzeuge, Buchdruck, Telefon, Internet) und organisatorischer Innovationen (Handels-, Post-, Finanz- und Verkehrssysteme) und des nachhaltigen Überschreitens intellektueller Horizonte (Weltbilder, geographische Kenntnisse, wissenschaftliche Lehren) wuchsen die Migrationsdistanzen. Räumliche Bewegungen konnten sich nunmehr auch als trans- und interkontinentale Bewegungen in zunehmendem Umfang ausprägen. Neue Zielregionen wurden erschlossen, Europa entwickelte sich zum wesentlichen Herkunftsraum umfangreicher Bewegungen über große Distanzen.

Ein zentrales Element ökonomischer Aktivitäten blieb in der gesamten Neuzeit die Verfügbarkeit des Produktionsfaktors Arbeit und die Bewegung von Arbeitskräften im Raum zur Erschließung standortgebundener natürlicher Ressourcen. Arbeitswanderungen wurden so zu Konjunktur- und Krisensymptomen; die Veränderung ihrer Dimensionen und Verläufe spiegelt die Entwicklung globaler, nationaler oder regionaler Ökonomien. Räumliche Bevölkerungsbewegungen blieben aber auch gebunden an die Genese von Herrschaftsverhältnissen und den Wandel staatlicher Strukturen, der in den Siegeszug des Nationalstaats mündete: Individuelles und kollektives Handeln von Migranten unterlag – und unterliegt – staatlichen, politischen und administrativen Einflüssen und Einflussnahmen. Gewaltmigrationen wiederum waren Ausdruck der staatlichen und gesellschaftlichen Akzeptanz der Beschränkung von Freiheit und körperlicher Unversehrtheit. Menschen reagierten auf bewaffnete Konflikte mit Bewegungen im Raum. Bis in die Gegenwart ist die Vorstellung verbreitet, durch die Nötigung zur Migration ließe sich Herrschaft stabilisieren oder politisches Interesse durchsetzen.

Das vorliegende Buch bietet Einblicke in zentrale Muster der deutschen, europäischen und globalen Migrationssituation in der Neuzeit und insbesondere seit dem späten 18. Jahrhundert. Es versucht, den Wandel der Migrationsverhältnisse auf ein breites Spektrum an wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Hintergründen, Rahmenbedingungen und Effekten zu beziehen. Der Blick richtet sich dabei vornehmlich auf jene Zeiten und Räume, in denen Wanderungsbewegungen gesellschaftliche Veränderungen beschleunigten; denn Migration ist Voraussetzung und Bestandteil der Vernetzung von Individuen und Kollektiven, bildet ein Element der Verdichtung von sozialen Interaktionen, die die Transformation von Bevölkerung, Wirtschaft und Gesellschaft antreiben. Ziel ist es, durch den Blick auf lange Linien des historischen Wandels grundlegende Bedingungen, Formen und Folgen von Migration aufzuzeigen und auf diese Weise einen Beitrag zu leisten, die Wanderungsverhältnisse der Gegenwart zu erklären und Perspektiven zu absehbaren migratorischen Zukunftsfragen zu entwickeln.

Dazu wird in Kapitel 2 auf die grundlegende Frage eingegangen, wie sich der Begriff »Migration« definieren lässt, aus welchen Gründen Wanderungsbewegungen stattfinden und auf welche Weise sich unterschiedliche Erscheinungsformen von Migration einordnen lassen. Kapitel 3 blickt auf den für die Neuzeit grundlegenden Prozess der europäischen Expansion, der seit dem 16. Jahrhundert eine zunehmende interkontinentale migratorische Verflechtung zur Folge hatte. Kapitel 4 fragt nach den Hintergründen und Ausprägungen dieses Prozesses. Kapitel 5 handelt von den ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Transformationen, die eine Industrialisierung, Urbanisierung und Agrarmodernisierung im Europa des 19. Jahrhunderts auslösten – und die mit sehr umfangreichen Migrationsbewegungen einhergingen. Kapitel 6 gilt wesentlichen räumlichen Bevölkerungsbewegungen, die die Hochphase des Kolonialismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts kennzeichneten. Kapitel 7 konzentriert sich auf Gewaltmigrationen, die mit den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts enorm an Gewicht gewannen. Kapitel 8 setzt sich mit den spezifischen migratorischen Folgen der Teilung Deutschlands, Europas und der Welt im »Kalten Krieg« auseinander, Kapitel 9 fokussiert auf die Jahrzehnte nach dem Ende des »Kalten Kriegs« und untersucht Effekte der Öffnung des »Eisernen Vorhangs« für die Migrationssituation in Europa. Außerdem greift es einige zentrale Diskussionen über die Gegenwart und Zukunft der Wanderungsverhältnisse auf.

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