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Ansätze und Untersuchungsfelder der Historischen Migrationsforschung

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Die Historische Migrationsforschung hat eine Vielzahl von Wanderungsvorgängen erschlossen. Gegenwärtig dominiert zwar immer noch der Blick auf das 19. und vor allem das 20. Jahrhundert, zuletzt aber haben sich auch jene Forschungsaktivitäten verstärkt, die auf die Frühe Neuzeit10, das Mittelalter11 und die Antike12 fokussieren. Damit entsteht gegenwärtig ein epochenübergreifendes Bild der historischen Wanderungsverhältnisse, das zudem immer stärker raumübergreifende beziehungsweise globale Bezüge zur Kenntnis nimmt.13

Historische Migrationsforschung untersucht räumliche Bevölkerungsbewegungen unterschiedlichster Größenordnung auf den verschiedensten sozialen und räumlichen Ebenen.14 Das gilt beispielsweise für die vor allem mit Hilfe von prozess-produzierten Massendaten und quantitativen Methoden in ihren Dimensionen, Formen und Strukturen erfassbaren europäisch-überseeischen Massenabwanderungen des »langen« 19. Jahrhunderts15 oder für die zwischen Land und Stadt beziehungsweise den verschiedenen Städtetypen und -größen fluktuierenden intra- und interregionalen Arbeitswanderungen im Prozess von Industrialisierung und Urbanisierung.16 Es gilt aber auch für die Frage nach den Motiven sowie nach den Migrations- und Integrationsstrategien einzelner Kollektive, Familien oder Individuen, wie sie sich beispielsweise für die zunehmende Beschäftigung aus anderen Staaten zugewanderter Arbeitsmigranten17 in den west-, mittel- und nordeuropäischen Industriestaaten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie mit deutlich größeren Dimensionen seit den 1950er-Jahren beobachten lassen.18

Für die Untersuchung solcher historischer Prozesse und Strukturen können unterschiedliche Materialien herangezogen werden, die sich mit verschiedenen Methoden untersuchen lassen: Hermeneutische Methoden erschließen Motive und Ziele der Migranten, ihr Handlungswissen, ihre Handlungsstrategien, Selbstkonstruktionen und identitären Verortungen auf der Grundlage insbesondere von Ego-Dokumenten (beispielsweise Briefe, Tagebücher, Lebensbeschreibungen, Zeitungsanzeigen) oder auch von visuellem Material (Gemälde, Zeichnungen, Fotos, Filme). Für den Kontext zeithistorischer Forschungen treten lebensgeschichtliche Interviews hinzu.

Von der Mehrzahl der Migranten der vergangenen Jahrhunderte und Jahrzehnte sind keine Ego-Dokumente überliefert oder nur mehr in Spuren verfügbar. Ein guter Teil des Materials, das unter Nutzung inhaltsanalytischer Methoden von der Historischen Migrationsforschung erschlossen wird, entstammt deshalb Beständen, Beobachtungen und Bewertungen anderer, insbesondere institutioneller Akteure: Solche liegen schriftlich vor (zum Beispiel Protokolle von Verhören und aus Gerichtsverfahren, Pässe, Einbürgerungsurkunden, Fallakten zu Einbürgerungen, Ausweisungen, Einreisen und Aufenthaltstiteln, amtliche, ärztliche oder wissenschaftliche Berichte) oder bestehen – deutlich seltener – aus mündlichen Informationen (Experten- oder Akteursinterviews). Häufig entstammen diese Überlieferungen den Diskursen und Praktiken von Herrschenden und von Eliten. Sie erfordern also spezifische hermeneutische Herangehensweisen, um beispielsweise die Aspirationen sowie die Welt- und Situationsdeutungen, die das Handeln von Migranten beeinflusste, erschließen zu können.

Historische Migrationsforschung untersucht Wanderungsprozesse, die auf dauerhafte Niederlassung in einem Zielgebiet ausgerichtet waren. Außerdem beschäftigt sie sich mit den Formen zeitlich befristeter Aufenthalte – von den saisonalen oder zirkulären Bewegungen über die mehrjährigen Arbeitsaufenthalte in der Ferne bis hin zu dem in der Regel über einen begrenzten Zeitraum aufrechterhaltenen Umherziehen als ortloser Wanderarbeiter. Damit überwindet sie eine lange in der historischen Forschung dominierende Sicht, die Migration vorwiegend als einen linearen Prozess verstand, der von der Wanderungsentscheidung im Ausgangsraum über die Reise in das Zielgebiet bis zur dort vollzogenen dauerhaften Niederlassung reichte.19

Auch die Entwicklung von Wanderungssystemen20 gehört zum Gegenstandsbereich moderner Historischer Migrationsforschung. Ein Wanderungssystem wird als eine relativ stabile und langwährende migratorische Beziehung zwischen einer Herkunfts- und einer Zielregion verstanden. Die Historische Migrationsforschung fragt danach, warum und auf welche Weise sich solche zum Teil über Jahrzehnte oder Jahrhunderte existierenden inter- und transregionalen Migrationsbeziehungen etablierten und stabilisierten – und verweist in der Regel auf bereits bestehende wirtschaftliche, politische oder kulturelle Verbindungen und Beziehungen, die einen engen interregionalen Güter-, Dienstleistungs-, Informations- und Personenaustausch ermöglichten und strukturierten. Untersuchungen zu Migrantennetzwerken und zur Etablierung von Wanderungstraditionen, insbesondere im Kontext von Arbeits- und Siedlungswanderungen zeigen, mit welcher Dynamik Migration die bestehenden Relationen transformierte.

Beiträge aus der Historischen Migrationsforschung bieten darüber hinaus Momentaufnahmen der gesamten Migrationssituation in einem Raum, bei der Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Wanderungsformen in einer spezifischen sozialen, ökonomischen, demographischen und politischen Konstellation ausgeleuchtet werden. Der Erschließung dienen in diesem Kontext unter anderem veröffentlichte und unveröffentlichte Unterlagen der amtlichen Statistik: Den großen räumlichen Bevölkerungsbewegungen wurde in der Regel unmittelbare statistische Aufmerksamkeit zuteil, denn sie galten als bevölkerungs-, wirtschafts-, sozial- und sicherheitspolitisch relevante Phänomene.

Kern des Aufstiegs der modernen amtlichen Statistik seit dem 17. Jahrhundert bildete die Bevölkerungsstatistik, die insbesondere wegen der Erfassung von Steuer- und Militärpflichtigkeit für die Planung und Durchführung staatlicher Aktivitäten ein hohes Gewicht hatte. In diesem Kontext bildete von Beginn an auch die Registrierung von Umfang, Dynamik, Zielrichtung und sozialer Zusammensetzung von Migrationsbewegungen ein wichtiges Element. Das gilt für Volkszählungen, die zunächst sporadisch, fallweise und wenig differenziert, seit dem 19. Jahrhundert dann regelmäßig und mit hohem Aufwand die Bevölkerung vermaßen – und den je spezifischen Interessen der Produktion von statistischem Wissen unterlagen, die im Hinblick auf Kategorien- und Begriffsbildungen, Erfassungskriterien und Vermittlungsformen in hohem Grad die Wahrnehmung des sozialen Phänomens Migration beeinflussten und weiterhin beeinflussen.21

Für die Historische Migrationsforschung aufschlussreich sind darüber hinaus meldestatistische Angaben (Bevölkerungs-, Melderegister) auf der Ebene von Staaten oder Kommunen sowie Informationen über den Umfang von Grenzübertritten, Ausweisungen und die Ausgabe von Dokumenten (Pässe, Visa). Seit dem späten 19. Jahrhundert gewannen arbeitsmarktstatistische Angaben an Gewicht.

Prozess-produzierte Daten zu den verschiedensten migratorischen Phänomenen liegen für die Neuzeit in unterschiedlichster Güte und Reichweite vor. Ihre Bandbreite ist enorm, auch in Hinsicht auf die beteiligten Akteure und deren Interesse an der Produktion von Daten: Die Angaben sind zunächst schlichte Einschätzungen über den Umfang einzelner Bewegungen, mit dem beschleunigten Verwaltungsausbau und dem Aufstieg interventionsstaatlicher Maßnahmen seit dem späten 19. Jahrhundert bieten sie aber auch hochdifferenzierte Daten, die eine detaillierte quantitative Analyse ermöglichen – von der Arbeitsmarktbeteiligung von Migranten über die soziale Zusammensetzung, demographischer Kennziffern bis hin zu Heiratsverhalten, Medienkonsum und Ernährungsgewohnheiten. Verfahren der deskriptiven Statistik dominieren dabei methodisch gegenüber solchen der explorativen Statistik.

Historische Migrationsforschung fragt vornehmlich nach 1. Migrationsaspirationen, den Hintergründen von Migrationsentscheidungen, der Entwicklung von Migrationsstrategien im Kontext individueller und kollektiver Migrationsprojekte unter je spezifischen wirtschaftlichen, sozialen, politischen, ökologischen sowie kulturellen und sprachlichen Bedingungen; 2. den vielgestaltigen Mustern räumlicher Bewegungen zwischen Herkunfts- und Zielgebieten im Kontext der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wechselbeziehungen zwischen beiden Räumen; 3. der Konstitution und der Funktionsweise von migrantischen Netzwerken und Organisationen; 4. den Erwartungen und Erfahrungen von Migranten; 5. den Dimensionen, Formen und Folgen der Zuwanderung im Zielgebiet, die temporären Charakter haben, aber auch in einen generationenübergreifenden Prozess dauerhafter Ansiedlung und Integration münden können; 6. den Lebensverhältnissen, Lebensläufen und Lebensentwürfen von Migranten; 7. den Selbstkonstruktionen, Praktiken und Herausforderungen der Identitätsbildung im Prozess von Migration und Integration; 8. den Bemühungen von Obrigkeiten, Staaten und nicht-staatlichen Organisationen um Einflussnahme auf Migration und Integration; 9. der (wissenschaftlichen) Wissensproduktion über Migration; 10. der Genese von Migration als Medienereignis sowie 11. den Rückwirkungen der Abwanderung auf zurückbleibende Angehörige von Familien und Kollektiven sowie auf die wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Strukturen und Dynamiken in den Ausgangsräumen.

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