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Netzwerke
ОглавлениеOb und inwieweit eine temporäre, zirkuläre oder auf einen längerfristigen Aufenthalt andernorts ausgerichtete Migration als individuelle oder kollektive Chance verstanden wird, hängt entscheidend vom Wissen über Migrationsziele, -pfade und -möglichkeiten ab. Damit Arbeits-, Ausbildungs- oder Siedlungswanderungen einen gewissen Umfang und eine gewisse Dauer erreichen, bedarf es kontinuierlicher und verlässlicher Informationen über das Zielgebiet. Solcherlei Wissen vermitteln mündliche und schriftliche Auskünfte staatlicher, religiöser oder privater Organisationen oder Beratungsstellen. Die Medien verbreiten zudem Informationen, die für den Wanderungsprozess von Belang sein können – von der »Auswandererliteratur« des 19. Jahrhunderts über Artikel in Zeitungen und Zeitschriften bis hin zu Berichten im Rundfunk, im Fernsehen oder im Internet. Auch die staatliche oder private Anwerbung von Arbeits- oder Siedlungswanderern – zum Beispiel mit Hilfe von Agenten oder Werbern – kann als eine Form des Transfers von Wissen über Chancen der Migration verstanden werden.
Wesentlich bedeutsamer für die Vermittlung von Informationen über Chancen und Gefahren der Ab- oder Zuwanderung, über räumliche Ziele, Verkehrswege sowie psychische, physische und finanzielle Belastungen waren und sind allerdings vorausgewanderte (Pionier-) Migranten, deren Nachrichten aufgrund von verwandtschaftlichen oder bekanntschaftlichen Verbindungen ein hoher Informationswert beigemessen wird. Sie etablieren Kettenwanderungen, bei denen Migranten bereits abgewanderten Verwandten und Bekannten folgen.
Herkunftsräume und Zielgebiete sind mithin in der Regel über Netzwerke miteinander verbunden.28 Loyalität und Vertrauen bilden zentrale Bindungskräfte solcher Netzwerke. Die Bedeutung der Informationsvermittlung mithilfe verwandtschaftlich-bekanntschaftlicher Netzwerke kann nicht überschätzt werden: Mindestens 100 Millionen private »Auswandererbriefe« sind beispielsweise zwischen 1820 und 1914 aus den USA nach Deutschland geschickt worden und kursierten in den Herkunftsgebieten im Verwandten- und Bekanntenkreis.29
Vertrauenswürdige, zur Genese und Umsetzung des Wanderungsentschlusses zureichende Informationen stehen potenziellen Migranten häufig nur für einen Zielort, für einzelne, lokal begrenzte Siedlungsmöglichkeiten oder spezifische Erwerbsbereiche zur Verfügung, sodass realistische Wahlmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Zielen nicht bestehen. Die migratorische Handlungsmacht des Einzelnen bleibt damit zwar einerseits beschränkt, andererseits aber verfügt das Zielgebiet über ein umfangreiches Netzwerk verwandtschaftlich-bekanntschaftlicher Beziehungen. Je umfangreicher dieses ist und je intensiver soziale Beziehungen innerhalb des Netzwerks gepflegt werden, desto mehr ökonomische und soziale Chancen bietet es – gerade an der Intensität und Größe des Netzwerks bemisst sich immer auch die Attraktivität eines Migrationsziels.
Vor diesem Hintergrund erhöht ein Migrantennetzwerk nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Migration stattfindet. Vielmehr konstituiert es auch Wanderungstraditionen und beeinflusst damit die Dauerhaftigkeit einer Migrationsbewegung zwischen Herkunftsraum und Zielgebiet, die zum Teil über Generationen existieren. 94 Prozent aller Europäer, die um 1900 in Nordamerika eintrafen, suchten zum Beispiel zuerst Verwandte und Bekannte auf, verringerten damit ihre Verwundbarkeit und erhöhten ihre Handlungsmacht vor Ort.30
Am Zielort garantieren Migrantennetzwerke Schutz und Orientierung im fremden Raum, vermitteln Arbeits- und Unterkunftsmöglichkeiten, helfen bei Kontakten mit Obrigkeiten, staatlichen und kommunalen Institutionen. Die Migrantennetzwerke werden nicht nur durch Kommunikation und durch den Austausch von Leistungen auf Gegenseitigkeit aufrechterhalten, sondern reproduzieren sich durch (nicht selten translokal und transkontinental ausgehandelte) Eheschließungen31, die Etablierung von Vereinen und Verbänden32, eine spezifische Geselligkeits- oder Festkultur33, aber auch gemeinsame ökonomische Aktivitäten. Die (Historische) Migrationsforschung hat beispielsweise eine Anzahl von Migrantengruppen mit identischem Herkunftsgebiet ausgemacht, für die bestimmte Berufe charakteristisch zu sein scheinen:
Tabelle 2: Hintergründe und raum-zeitliche Dimensionen von Migration
Beinahe alle Fish-and-Chips-Imbisse der Republik Irland befanden sich so an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert in der Hand von Personen, die aus dem Dorf Casalattico in der mittelitalienischen Provinz Frosinone stammten oder aus einem Umkreis von rund zehn Kilometern um dieses Dorf.34 Der erste von Italienern aus diesem Herkunftsgebiet betriebene Fish-and-Chips-Imbiss in Irland wurde 1904 eröffnet. Gegenwärtig stammen drei Viertel aller Migranten italienischer Herkunft in Irland aus dem Dorf Casalattico. In der Frühen Neuzeit und bis in das 19. Jahrhundert hinein finden sich europaweit Führer dressierter Bären aus der italienischen Provinz Caserta oder bis in die 1930er-Jahre auf Gemüseanbau spezialisierte Wandergärtner aus Bulgarien.35 Wanderhändler für Setzlinge und Blumenzwiebeln stammten aus dem französischen Département Isère und übten ihr Gewerbe nicht nur in ganz Europa, sondern auch in Asien aus.36 Die lippischen Ziegler, die aus dem kleinen Fürstentum Lippe-Detmold kamen, dominierten vom 17. bis zum 19. Jahrhundert die Ziegel- und Dachpfannenherstellung in bestimmten Segmenten der Produktion in ganz Nordwesteuropa.37 In den Vereinigten Staaten von Amerika leben gegenwärtig rund 50.000 Patel, die aus der indischen Provinz Gujarat seit den 1950er-Jahren eingewandert sind. Sie besitzen 18000 Motels und damit den größten Teil der nicht-kettengebundenen Herbergen an den US-Fernstraßen.38
Dabei sind bei diesen Formen berufsspezifischer Migration, für die sich viele weitere Beispiele finden lassen, die in bestimmten Nischen angebotenen Qualifikationen nicht auf die jeweilige, in der Regel sehr eng umgrenzte Herkunftsregion zurückzuführen. Arbeitswanderung war hier mithin nicht Wanderung von Fachkräften; spezifisches berufliches Wissen war vielmehr erst Ergebnis der Arbeitswanderung. In weiten Teilen Europas tätige Zinngießer aus den italienischen Alpen erwarben ihre Kenntnisse beispielsweise erst mit dem Verlassen des Herkunftsgebiets, in dem es keine Tradition dieses Handwerks gab.39 Das galt gleichermaßen für die lippischen Ziegler, die über viele Generationen hinweg den spezifischen »Migrantenberuf« Ziegler erst in den Zielgebieten erlernten.
Vermittelt wurden die beruflichen Spezialkenntnisse fest umrissener Migrantengruppen innerhalb der Kommunikationsnetze, die auch die Arbeitsmöglichkeiten innerhalb des spezifischen Berufssegments boten. Pioniermigranten nahmen, mehr oder minder zufällig, Arbeitsmarktchancen wahr und gaben, falls sich denn das Segment als geeignet für die Entwicklung weiterer Marktchancen erwies, spezifisches Wissen an Bekannte und Verwandte weiter. Diese wiederum standen nach erfolgter Ausbildung als Anbieter von Wissen für neue Migranten zur Verfügung. Auf diese Weise konnte eine Gruppe bestimmte Arbeitsmarkt- oder Produktnischen dominieren und diese Monopole über lange Zeiträume in bestimmten Regionen aufrechterhalten.
Migrantennetzwerke bedeuten für den Einzelnen aber immer auch soziale Zwänge und Verpflichtungen. Die Aufrechterhaltung des Netzwerks fordert Loyalität und die mit Leistung und Gegenleistung verbundene Akzeptanz kollektiver Verantwortung. Migranten werden genötigt, spezifische Normen, Handlungsrationalitäten und Handlungsziele zu teilen. Mitglieder der Netzwerke unterliegen wegen der Geschlossenheit der verwandtschaftlich-bekanntschaftlichen Verbindungen enger sozialer Kontrolle, selbst über Tausende von Kilometern Entfernung hinweg. Vertrauen wird erzwungen40, Sanktionsmöglichkeiten mit zahlreichen Abstufungen gibt es viele: Verlust von Reputation aufgrund des Schwunds von Vertrauenswürdigkeit, Entzug von Leistungen, soziale Isolation und Exklusion. Im Kontext der Migration erhöhen alle diese Faktoren die soziale Verletzbarkeit sowie die Risiken enorm und minimieren die Möglichkeiten der Chancenwahrnehmung.