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Europäische und afrikanische Bevölkerungen in den Amerikas
ОглавлениеNach dem Eintreffen Christoph Kolumbus’ in der Karibik 1492 kamen die spanischen und portugiesischen Eroberungszüge in Süd- und Mittelamerika mit bemerkenswert wenig europäischem Personal aus. Dies war ein Resultat der technisch-taktischen Überlegenheit der extrem gewaltbereiten Europäer, die mit der erfolgreichen Politik korrespondierte, innere und zwischenstaatliche Konflikte unter den Einheimischen für die eigenen Interessen zu nutzen. Ihre neuen Territorien verstanden die spanischen und portugiesischen Herrscher nicht als Siedlungsgebiete, sondern als Kolonien zum Zwecke wirtschaftlicher Ausbeutung. Die Kosten für die Aufrechterhaltung der kolonialen Herrschaft mussten die abhängigen Gebiete selbst aufbringen. Darüber hinaus kam vor allem dem spanischen Kolonialbesitz die Funktion zu, die Großmachtpolitik des Mutterlandes in Europa zu finanzieren. Symbol dafür war die jährliche Flotte, die europäische Fertigwaren nach Mittel- und Südamerika transportierte und mit in Mexiko (vor allem in Zacatecas) und in Bolivien (Potosí) gewonnenem Silber ein überaus wertvolles Handelsgut nach Europa zurückbrachte.51
In den ersten drei Jahrhunderten der europäischen Kolonisation seit dem späten 15. Jahrhundert verließen insgesamt rund acht bis neun Millionen Menschen Europa52, meistenteils als maritime und militärische Arbeitsmigranten. Nur der geringere Teil siedelte sich dauerhaft andernorts an, wobei die Amerikas das Hauptziel bildeten: In die spanischen Kolonien der »Neuen Welt« kamen bis 1600 ca. 240.000 Europäer, bis 1650 soll ihre Zahl auf rund 440.000 gestiegen sein. Die Männer dominierten dabei klar – um 1600 stellten Frauen lediglich ein Viertel der europäischen Bevölkerung in den Amerikas. Die spanische Auswanderungspolitik beziehungsweise die koloniale Einwanderungspolitik blieb durchgängig restriktiv und wurde strikt zentralistisch gehandhabt – die Krone begrenzte die Zuwanderungen in die amerikanischen Besitzungen und wählte die Migranten nach wirtschaftlicher Nützlichkeit und politisch-religiöser Zuverlässigkeit aus. Jede Bewegung in die Kolonien bedurfte einer staatlichen Erlaubnis. Zugelassen wurden vornehmlich Adlige, Bauern und Handwerker, selten Nicht-Spanier. Die Migration sollte möglichst im Familienverband stattfinden und überschritt zwischen 1500 und 1650 eine jährliche Durchschnittsziffer von 3000 Menschen nicht.
In den Teilen der Amerikas, die der portugiesischen Krone unterstanden, lag der Anteil der europäischen Bevölkerung Mitte des 16. Jahrhunderts bei 3000 bis 4000 und erreichte im Jahr 1600 rund 30.000 Personen. Das war ein Zuwachs, der nicht nur aus der Zuwanderung, sondern auch aus der natürlichen Bevölkerungsentwicklung resultierte. Bis 1820 war die brasilianische Bevölkerung auf rund 3,5 Millionen angestiegen, von denen ca. zwei Millionen afrikanischer und eine Million europäischer Herkunft waren, der Rest meistenteils »Mischlinge«. Der Anteil der Ureinwohner an der Gesamtbevölkerung blieb marginal. Dieser Sachverhalt war in ganz Mittel- und Südamerika darauf zurückzuführen, dass viele der Bakterien und Viren, die die Eroberer mitgebracht hatten und gegen die sie immun waren, für die Einheimischen tödlich wirkten. Die Gesamtbevölkerung im spanischen Süd- und Mittelamerika der vorkolumbianischen Zeit von geschätzten 40 Millionen soll bis 1570 auf rund neun Millionen und bis 1620 auf nur mehr vier Millionen zurückgegangen sein. Damit war die als Ziel der kolonialistischen Durchdringung der Amerikas formulierte »Inwertsetzung« durch die Erschließung und den Abbau der Bodenschätze sowie die Produktion von Agrargütern gefährdet, weil sie auf eine große Zahl von Arbeitskräften angewiesen war.53
Das war der Hintergrund für die Etablierung eines sehr umfangreichen Systems der Beschäftigung afrikanischer Sklaven. Legitimationsgrundlage der Versklavung von Afrikanern waren rassistische Vorstellungen in Europa. Diese allein aber erklären das Ausmaß und die lange Dauer des Phänomens nicht. In erster Linie sprachen wirtschaftliche Erwägungen für den Einsatz von Sklaven: Wegen des epidemiologischen Kontakts zwischen Europa und Afrika über lange Zeiträume waren Afrikaner gegen die von den Europäern in die »Neue Welt« eingeschleppten Krankheiten resistent; gegen Tropenkrankheiten sollen sie sich sogar als noch resistenter als die Kolonisatoren erwiesen haben.
Zuverlässige, auf einer breiten Quellenbasis zusammengeführte Berechnungen gehen heute von einer Zahl von ca. elf Millionen Afrikanern aus, die zwischen 1519 und 1867 als Sklaven in die Amerikas transportiert worden sind. Hatte der Sklavenhandel bis zum Ende des 16. Jahrhunderts 266.000 Menschen aus Afrika umfasst, so stieg er im 17. Jahrhundert auf mehr als 1,2 Millionen an. Die Hochphase bildeten das 18. und das 19. Jahrhundert: Zwischen 1701 und 1800 wurden 4,2 Millionen Sklaven von Afrika aus in die »Neue Welt« transportiert, bis 1867 folgten weitere 3,4 Millionen. Herkunftsräume waren Westafrika und das westliche Zentralafrika vom Senegal bis Angola. Der europäische Sklavenhandel im Westen Afrikas bildete nur einen Teilbereich eines weitreichenden Systems von Sklaverei und Sklavenhandel, das weite Teile Afrikas umfasste und nicht nur Ziele in Afrika und den Amerikas hatte, sondern auch im Bereich des Indischen Ozeans und in Arabien. Ohne eine intensive Kooperation mit afrikanischen Herrschern und Kaufleuten hätte sich der Nachschub an Sklaven für die europäischen Sklavenhändler nicht realisieren lassen. Sie übernahmen die Sklaven in der Regel erst an der Küste im Westen Afrikas. Versklavung war im afrikanischen Binnenland das Ergebnis 1. von Gefangennahmen im Kontext von Kriegen, 2. von Raubzügen mit dem Ziel des Sklavenfangs, 3. von Strafen, 4. der Schuldknechtschaft oder 5. eines Kaufs.54
Von den rund 9,5 Millionen Sklaven, die zwischen 1519 und 1867 in den Amerikas ankamen, gelangten mit 3,9 Millionen mehr als zwei Fünftel nach Brasilien, andere Angaben sprechen sogar von fünf Millionen.55 Unter den karibischen Inseln stachen Jamaika mit mehr als einer Million sowie das französische Saint-Domingue (Haiti) mit beinahe 800.000 hervor. Vor allem das Beispiel Saint-Domingue verweist auf die ökonomische Bedeutung der Sklavenarbeit: 1789, im Jahr der Französischen Revolution, produzierten ca. 8000 Plantagen mit rund 500.000 Sklaven Zucker, der so wertvoll war, dass er zwei Drittel des gesamten französischen Außenhandels ausmachte.56
Das britische Nordamerika beziehungsweise die Vereinigten Staaten von Amerika waren in diesem Kontext mit 361.000 importierten Sklaven nachrangig. Tatsächlich wurden nach Süd- und Mittelamerika beinahe dreißigmal mehr Sklaven gebracht als nach Nordamerika. Um 1900 aber lag die Zahl der Afro-Amerikaner in Lateinamerika nur dreimal höher als jene in Nordamerika. Dieser Widerspruch erklärt sich aus den unterschiedlichen Arbeits- und Lebensverhältnissen: In der Karibik und in Südamerika hielten nur die permanenten Sklaventransporte den Umfang der Sklavenbevölkerung stabil oder ließen ihn ansteigen: Die hohe Sterblichkeit, ein ausgeprägter Überschuss an männlichen gegenüber weiblichen Sklaven, das geringe Interesse der Sklavenhalter, die Gründung von Familien zuzulassen, sowie die schwierigen Unterkunftsbedingungen für Familien beschränkten die natürliche Reproduktion. In Nordamerika gab es demgegenüber ein hohes natürliches Wachstum der Sklavenbevölkerung. Hier setzte sich im 18. Jahrhundert unter den Sklavenbesitzern die Auffassung durch, das Leben des Sklaven in einer Familie stabilisiere die sozialen Beziehungen auf der Plantage und spare Kosten, weil die Kinder der Sklaven als Arbeitskräfte eingesetzt werden konnten.57
Um es auf eine einfache Formel zu bringen: Im Süden der Amerikas dominierte bis in das 19. Jahrhundert die (Gewalt-)Migration afrikanischer Sklaven, den Norden hingegen prägte die europäische Zuwanderung. Anders als die spanischen und portugiesischen Besitzungen, die als Beherrschungs- und Ausbeutungskolonien ausgelegt waren, wurden die britischen Kolonien im Norden des amerikanischen Doppelkontinents von Beginn an als Besiedlungskolonien verstanden. Die britische Kolonialpolitik strebte nach einer Erhöhung der kolonialen Profite durch die Zulassung europäischer Einwanderer – egal woher, welcher sozialer Herkunft und religiöser Orientierung. Die Kolonisation galt den politischen Eliten im »Mutterland« außerdem als eine Möglichkeit, sich als »überflüssig« und »überschüssig« erachteter Menschen von den britischen Inseln einschließlich Irlands zu entledigen. Dazu zählten nicht nur Straffällige, sondern auch Arme und Obdachlose. Der Abwanderung religiöser oder politischer Nichtkonformisten wurden ebenfalls keine Hindernisse in den Weg gelegt. Bis 1700 waren wohl rund 140.000 Engländer und Waliser in den britischen Nordamerikakolonien eingetroffen, die dort rund 90 Prozent der gesamten europäischen Einwanderung ausmachten.
Im 18. Jahrhundert sank der Anteil der Engländer und Waliser zugunsten von Schotten oder Iroschotten ab, also schottischen Siedlern aus der irischen Provinz Ulster (ca. 145.000 Einwanderer), sowie von Iren (etwa 100.000) und Deutschen (wohl 100000). 1790, im Jahr der ersten Volkszählung in den nunmehr unabhängigen Vereinigten Staaten von Amerika, betrug die Bevölkerung europäischer Herkunft 3,9 Millionen Menschen, von denen fast die Hälfte englischer Herkunft war, ca. zwölf Prozent Schotten und rund zehn Prozent Deutsche. Der Anteil der Menschen afrikanischer Herkunft lag mit ca. 19 Prozent doppelt so hoch wie derjenige der Deutschen. Verantwortlich für den Anstieg der Bevölkerungszahl war neben der stetigen, moderaten Einwanderung vor allem das im Vergleich zu den europäischen Herkunftsländern hohe natürliche Bevölkerungswachstum aufgrund relativ günstiger Ernährungsbedingungen und des Ausbleibens von Seuchen.
Europa verließen neben den für die Etablierung und Aufrechterhaltung der Herrschaft nötigen Soldaten und Beamten auch zahlreiche Missionare. Europäer stellten zudem Kaufleute, Plantagenbesitzer, aber auch städtische Handwerker, Bauern sowie zu vielleicht einem Drittel Arbeitskräfte, die als Unfreie auf den Doppelkontinent gekommen waren: Dazu zählten die rund 50.000 Sträflinge, die die britische Kolonialmacht zwischen 1718 und 1775 in die nordamerikanischen Kolonien Virginia und Maryland transportierte. Wesentlich umfänglicher aber war die Gruppe jener europäischen Vertragsarbeitskräfte, die als »Indentured Servants« beziehungsweise »Engagés« das Angebot an Arbeitskräften in den Kolonien Großbritanniens und Frankreichs ergänzen sollten. Diese »Kontraktknechte« verpflichteten sich in Europa für drei bis zehn Jahre einem Arbeitgeber, der die Überfahrt sowie Kost und Logis bezahlte. Eine Lohnzahlung erfolgte nicht, meist stand den Vertragsarbeitskräften jedoch am Ende ihrer Vertragslaufzeit ein Stück Land zu.
Viele der »Kontraktknechte« begaben sich freiwillig in die Hand eines Farmers oder Pflanzers, weil sie sich durch die befristete Bindung an einen Arbeitgeber eine Verbesserung ihrer Situation erhofften. Darüber hinaus aber nutzten die Obrigkeiten in Europa das System der Verträge dazu, Marginalisierte oder Straffällige aus Europa zu entfernen. Weil sich die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Vertragsarbeitskräfte nicht selten als prekär herausstellten, sie den Herren als veräußerbarer Besitz galten und das Machtgefälle zwischen Herren und »Kontraktknechten« so groß war, dass Misshandlungen und eine Missachtung der Vertragsbestimmungen an der Tagesordnung waren, ließ im 18. Jahrhundert die Bereitschaft nach, sich in ein solches Vertragsverhältnis zu begeben.