Читать книгу Migration - Jochen Oltmer - Страница 14
Erscheinungsformen
ОглавлениеIn der Neuzeit lassen sich verschiedene Erscheinungsformen globaler räumlicher Bevölkerungsbewegungen unterscheiden.
Ein Großteil der Migrationen ist auf die Erhöhung der Handlungsmacht von Individuen, Familien und Kollektiven durch die Verbesserung von Erwerbsmöglichkeiten (oder die Erschließung von zukünftigen Erwerbsmöglichkeiten durch Bildung oder Ausbildung) ausgerichtet. Nicht auf den Erwerb, sondern auf den Konsum zielen demgegenüber Formen der Lebensstil-Migration (»lifestyle migration«).41 Kennzeichnend ist der relative Wohlstand der Migranten. Häufig war und ist ihre räumliche Bewegung privilegiert, Probleme des Übertritts von Grenzen, des Zugangs zu Visa und Aufenthaltstiteln bestehen für Lebensstil-Migranten in der Regel nicht. Ihre räumlichen Ziele sind solche, die höhere Lebensqualität und Selbstverwirklichung zu bieten scheinen: Finanziell weitgehend unabhängige Personen verlegen vor allem aus klimatischen, gesundheitlichen oder kulturellen Erwägungen ihren Wohnsitz auf Zeit oder auf Dauer – im späten 19. Jahrhundert zum Beispiel nach Nizza in Südfrankreich, Sotschi am Schwarzen Meer oder Darjeeling in Britisch-Indien, heute nach Mallorca oder in den »Sunshine State« Florida.
Im Kontext von Lebensstil-Migrationen können urbane Kulturund Bildungsräume attraktiv sein, in besonderen Fällen aber auch spezifische kulturelle Rückzugs- oder Experimentierräume, wie sie sich beispielsweise als »Künstlerkolonien« vornehmlich im Europa des späten 19. Jahrhunderts ausprägten (zum Beispiel Barbizon südlich von Paris, Worpswede bei Bremen oder Pont-Aven in der Bretagne). Hier zeigt sich, dass Lebensstil-Migration trotz der Orientierung an Konsum mit Erfordernissen des Erwerbs einhergehen kann: Künstlerkolonien als Räume der Selbstvergewisserung und Selbsterfahrung, aber auch der künstlerischen Produktion zur Sicherung der Subsistenz; Bildungs- und Universitätsstädte als kulturelle Zentren, aber auch als Arbeitsmärkte für Akademiker; mehr oder minder geschlossene Siedlungen (»gated communities«) von britischen oder deutschen Altersmigranten im Süden Spaniens oder auf Mallorca, die mit einer Infrastruktur britischer oder deutscher Ärzte und Geschäftsleute einhergehen.
Entsendungen bilden eine weitere spezifische Migrationsform. Die Institution (Handelsfiliale, multinationales Unternehmen, diplomatischer Dienst, Streitkräfte) initiiert und organisiert die räumliche Bewegung, in der Regel für einen begrenzten Zeitraum, und erleichtert die Teilhabe am Zielort. Entsendungen sind im ökonomischen Bereich Ausdruck langfristiger Unternehmensstrategien, die auf die konstante Präsenz von Spezialisten in den verschiedensten Unternehmensstandorten zielen.42 Sie rahmen den Aufenthalt in der Zielgesellschaft durch die Einrichtung oder Unterstützung spezifischer, nicht selten exklusiver Infrastrukturen (Schulen, Clubs, Vereine, Verbände).43
Nomadismus bildet eine weitere, traditionsreiche Migrationsform.44 Die Lebens- und Wirtschaftsweise der Nomaden ist ganz auf die Bewegung im Raum ausgerichtet; dauerhafte Mobilität erschließt natürliche, ökonomische und soziale Ressourcen, die die Sicherung der Subsistenz ermöglichen. Von anderen Wanderungsformen unterscheidet sich Nomadismus insofern, als Nomaden zwar den geographischen, nicht aber unmittelbar zugleich den sozialen Raum wechseln; vielmehr sind größere Kollektive mit festen Sozialstrukturen, also ganze Gesellschaften, mobil – anders als bei den meisten anderen Wanderungsformen, wo Einzelne oder kleinere Gruppen aus einer Gesellschaft in eine andere wechseln.
Tabelle 3: Migrationsformen
Das aber schließt keineswegs vielfältige Wechselbeziehungen und zum Teil intensive Kontakte mit sesshaften Kollektiven aus: Nomaden sind sehr häufig auf Viehwirtschaft (zumeist Rinder, Pferde, Schafe, Rentiere oder Kamele) spezialisiert. Um pflanzliche Nahrungsmittel, darunter vor allem Getreide, oder Güter des täglichen Bedarfs und Luxusprodukte zu erwerben, suchen sie den ökonomischen Austausch mit der sesshaften Bevölkerung. Vertiefte wirtschaftliche, soziale, kulturelle und politische Beziehungen zu sesshaften Kollektiven ergeben sich zudem, wenn Nomaden die Viehwirtschaft als Zentralelement ihrer Ökonomie mit Tätigkeiten als Händler oder Handwerker kombinieren. Darüber hinaus sind Nomaden für ihre sesshaften Nachbarn wichtige Nachrichten- und Informationsträger. Neben die Kooperation tritt allerdings nicht selten die Konfrontation: Insbesondere über Landnutzung und Landnutzungsrechte entbrannten in der langen Geschichte nomadischer Kollektive immer wieder Konflikte bis hin zu langwährenden kriegerischen Auseinandersetzungen.
Die räumliche Bewegung der Nomaden folgt häufig mehr oder minder langen Zyklen und ist geprägt durch zum Teil sehr alte Wanderungstraditionen. Der Wechsel der Wanderungspfade bildet eine der zentralen Strategien der Anpassung an wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche oder umweltbedingte Veränderungen, der Übergang zur Sesshaftigkeit eine andere. Abwechselnde, jeweils längere Phasen von Sesshaftigkeit und von Mobilität kennzeichnen die (Übergangs-) Form des Teilnomadismus.
Eine spezifische, traditionsreiche Form des Teilnomadismus stellt die Transhumanz dar: der regelmäßige jahreszeitliche Wechsel der Weidegebiete. Sommer- und Winterweidegebiete sind in der Regel relativ eng umgrenzt, und eine saisonale Pendelwanderung von Hirten und Vieh verbindet zwei Kleinregionen. Dabei bildet eine der beiden Regionen den durch feste Gebäude geprägten Siedlungsraum, der regelmäßig wieder aufgesucht wird und in dem die Hirten(familien) für einen Großteil des Jahres sesshaft sind. Transhumanz ist vor allem durch den Wechsel zwischen – zum Teil mehrere Hundert Kilometer voneinander entfernten – Tal- und Höhenlagen gekennzeichnet. Zahlreiche Beispiele fanden sich lange in den Bergregionen des Mittelmeerraums, vor allem auf der Iberischen Halbinsel, in Frankreich und in Südosteuropa.
Andere Charakteristika weist der Bergnomadismus auf, bei dem es zwar auch einen saisonalen Wechsel zwischen Tal- beziehungsweise Steppen- und Höhenlagen zu unterscheiden gilt, das Kollektiv allerdings nirgendwo sesshaft ist. Bei Gruppen, die Brandrodungsfeldbau betreiben, wechseln sich längere Phasen der Sesshaftigkeit (und der Nutzung von durch Brandrodung gewonnenen Äckern) mit kürzeren Phasen der Mobilität (d.h. der Abwanderung in ein für das Abbrennen geeignetes Gebiet) ab.
Das Auftreten von Nomadismus ist nicht an bestimmte Klima- und Vegetationszonen gebunden. Allerdings ergaben sich in der Vergangenheit wegen der häufigen Verbindung von Nomadismus und extensiver Weidewirtschaft relativ klare räumliche Muster: Im Europa der Neuzeit verloren die ohnehin nur in den Peripherien in größerem Maßstab verbreiteten Formen extensiver Weidewirtschaft fortschreitend an Bedeutung und bildeten seit dem späten 19. Jahrhundert nur noch ein marginales Phänomen. In Asien und Afrika hingegen gestalteten relativ viele und umfangreiche Kollektive mobiler Viehzüchter Wirtschaft und Gesellschaft auch noch im 19. und 20. Jahrhundert. Hirtennomadismus prägt große Teile der Bevölkerung im durch Wüsten, Halbwüsten, Steppen und Savannen gekennzeichneten Trockengürtel von Nordchina und der Mongolei über den Hindukusch, Zentralasien und Anatolien bis nach Arabien und Nordafrika. Das galt – abgesehen von den Küstengebieten – ebenfalls für den Gürtel südlich der tropischen Zone Afrikas. Noch am Ende des 19. Jahrhunderts sollen Nomaden beispielsweise im Iran ein Viertel der Bevölkerung gestellt haben.
Auch wenn nomadische Lebensweisen aufgrund von Industrialisierung, Urbanisierung, Agrarmodernisierung, der Verkehrsrevolution und der zunehmenden Verdichtung staatlicher Herrschaft an Bedeutung verloren, sind Nomaden dennoch nicht zuletzt aufgrund traditionell sehr flexibler Anpassungsstrategien bis in die Gegenwart ein selbstverständlicher Teil mancher regionaler Ökonomien und Gesellschaften geblieben – von den Samen im skandinavischen Norden über die westsibirischen Nenzen und die ostafrikanischen Massai bis hin zu den südwestafrikanischen Himba.
Eine weltweit in Vergangenheit und Gegenwart äußerst gewichtige Migrationsform bilden Gewaltmigrationen. Formen von Gewaltmigration lassen sich dann ausmachen, wenn staatliche, halb-, quasi- und zum Teil auch nichtstaatliche Akteure Lebensmöglichkeiten und körperliche Unversehrtheit, Rechte und Freiheit, politische Partizipationschancen, Souveränität und Sicherheit von Einzelnen oder Koliektiven so weitreichend beschränken, dass diese sich zum Verlassen ihrer Herkunftsorte gezwungen sehen. Gewaltmigration kann dann als eine Nötigung zur räumlichen Bewegung verstanden werden, die keine realistische Handlungsalternative zuzulassen scheint.45
Der Begriff der »Flucht« verweist auf das Ausweichen vor Gewalt, die zumeist aus politischen, ethno-nationalen, rassistischen, gender-spezifischen oder religiösen Gründen ausgeübt oder angedroht wird. Im Fall von Vertreibungen, Umsiedlungen oder Deportationen organisieren und legitimieren institutionelle Akteure unter Androhung und Anwendung von Gewalt räumliche Bewegungen. Ziel ist es zumeist, Zwangsarbeitskräfte zu gewinnen oder (Teile von) Bevölkerungen zur Durchsetzung von Homogenitätsvorstellungen sowie zur Sicherung oder Stabilisierung von Herrschaft zu entfernen.
Durch Androhung oder Anwendung von offener Gewalt bedingte räumliche Bewegungen sind kein Spezifikum der Neuzeit. Fluchtbewegungen, Vertreibungen und Deportationen finden sich vielmehr in allen Epochen. Die heiligen Schriften des Judentums, des Christentums und des Islam sind durchsetzt mit Berichten über Flüchtlinge, deren Aufnahme oder Abweisung. Antike Schriftsteller berichten ausführlich über Fluchtbewegungen: Zahllose Kriege und Bürgerkriege ließen Menschen fliehen, Repressionen führten zum Ausweichen ganzer Bevölkerungen, politische Gegner wurden ins Exil geschickt: Vergil erzählt in seinem Epos »Aeneis« von der Flucht des Aeneas und seiner Getreuen aus dem im Krieg überwältigten Troja nach Italien. Seine Nachfahren, Romulus und Remus, hätten, so der Ursprungsmythos der Römer, die Stadt Rom gegründet und als erste Siedler einen heiligen Bezirk abgesteckt, der allen Menschen, die verfolgt wurden, Asyl und Schutz bieten sollte. Rom, so lautete die Botschaft römischer Autoren, sei deshalb so mächtig geworden, weil es immer und in großer Zahl Verfolgte aufgenommen habe.
Über Jahrhunderte war die Vorstellung weit verbreitet, durch Vertreibungen, Umsiedlungen und Deportationen ließe sich Herrschaft stabilisieren oder könnten Gebiete gesichert werden, die während eines Kriegs erobert worden waren. In den vergangenen Jahrhunderten verband sich Gewaltmigration nicht selten mit Zwangsarbeit.46
Tabelle 4: Typologie der Gewaltmigrationen
Vor allem die Weltkriege des 20. Jahrhunderts bildeten elementare Katalysatoren in der Geschichte der Gewaltmigration in der Neuzeit. Allein die Zahl der Flüchtlinge, Vertriebenen und Deportierten im Europa des Zweiten Weltkriegs wird auf 60 Millionen geschätzt und damit auf mehr als zehn Prozent der Bevölkerung des Kontinents.47 Die Nachkriegszeit beider Weltkriege war zudem durch millionenfache Folgewanderungen gekennzeichnet. Dazu zählten zum einen Rückwanderungen von Flüchtlingen, Evakuierten, Vertriebenen, Deportierten oder Kriegsgefangenen sowie zum anderen Ausweisungen, Vertreibungen oder Fluchtbewegungen von Minderheiten aufgrund der Bestrebungen von Siegerstaaten, die Bevölkerung ihres, zum Teil neu gewonnenen, Territoriums zu homogenisieren.48 Aber auch die langwährenden Prozesse von Kolonisation und Dekolonisation brachten weltweit umfangreiche Fluchtbewegungen und Vertreibungen mit sich.
Neben Krieg und Bürgerkrieg wurde das Handeln autoritärer Systeme zum Hintergrund von Gewaltmigration. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts prägten nationalistische, faschistische und kommunistische Systeme, die ihre Herrschaft durch die Homogenisierung ihrer Bevölkerungen zu sichern suchten: um politische Homogenität durch die Marginalisierung oder Austreibung politischer Gegner zu erreichen; um soziale Homogenität durch gewaltsame Nivellierung von Lebensverhältnissen und Lebensentwürfen durchzusetzen; um »ethnische« oder »rassische« Homogenität zu erzwingen. Als Gefahr für Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur verstandene und als distinkt konstruierte politische, nationale, soziale, ethnische oder »rassische« Kollektive innerhalb der eigenen Grenzen wurden zum Teil derart ihrer politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Handlungsmacht beraubt, dass ein Ausweichen alternativlos zu sein schien oder Vertreibungen und Umsiedlungen möglich wurden.
Gewaltmigration und Schutzsuche: Vietnamesische »boat people« werden im Südchinesischen Meer am 15. Mai 1984 gerettet.
Die Geschichte der Gewaltmigration des 20. Jahrhunderts lässt sich nicht auf eine Auseinandersetzung mit den Hintergründen, Bedingungen und Formen der Nötigung zur räumlichen Bewegung beschränken. Vielmehr gilt es, auch nach den Mustern der Aufnahme von Schutzsuchenden zu fragen, die der Gewalt in ihren Herkunftsländern und -regionen entkommen waren beziehungsweise ausgewiesen oder vertrieben wurden. Die Vergabe eines Schutzstatus verweist auf die Akzeptanz von Menschenrechten und die Verpflichtung zur Hilfeleistung unabhängig von nationaler, politischer und sozialer Herkunft. Erst im Jahrhundert der Massengewaltmigrationen, das mit dem Ersten Weltkrieg beginnt, haben sich ausdifferenzierte internationale, regionale, nationale und lokale Regime des Schutzes von Flüchtlingen etabliert.49