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Migrantinnen und Migranten zwischen Autonomie und institutioneller Regulierung

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Individuelles und kollektives Handeln von Migranten unterlag schon immer Kontroll-, Steuerungs- und Regulierungsanstrengungen unterschiedlicher institutioneller Akteure. Sie beschränken oder erweitern die Handlungsmacht von Individuen oder Kollektiven, die durch Bewegungen zwischen geographischen und sozialen Räumen Arbeits-, Erwerbs- oder Siedlungsmöglichkeiten, Bildungs- oder Ausbildungschancen zu verbessern suchen. Die einflussnehmenden Akteure reagieren auch auf beobachtete Handlungsweisen von Migranten, auf konkurrierende Kontroll-, Steuerungs- und Regulierungsanstrengungen anderer institutioneller Akteure sowie auf durch Migrationsprozesse induzierten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandel. Migrationsbewegungen werden mithin durch Migrationsregime, also ein Geflecht von Normen, Regeln, Konstruktionen, Wissensbeständen und Handlungen institutioneller Akteure, mitgeprägt, die Migrationsbewegungen kanalisieren und die Migranten kategorisieren.50

Institutionelle Akteure können staatliche (legislative, exekutive, judikative), suprastaatliche sowie internationale Instanzen sein oder kommunale Apparate, aber auch private Träger (Unternehmen, Vereine, Verbände). Ihre Interessen, Beobachtungsweisen, Normen und Praktiken bringen und brachten sehr unterschiedliche Kategorisierungen von Migranten hervor, die die Teilhabe am Zielort beeinflussten. Hilfsorganisationen und Interessenverbände wiederum leisten folgenreiche Beiträge zu der Frage, welche Menschen oder welche Kollektive in Bewegung mit welchen Erwartungen verbunden, in welche Erfahrungshorizonte gefügt und mit welchen Fremdbildern und Stereotypen bedacht werden. Auch die modernen Massenmedien gehören in diesen Kontext, bestimmen sie doch die Sichtbarkeit von Migrationsprozessen in Vergangenheit und Gegenwart in erheblichem Maß mit und nehmen durch Wirklichkeitskonstruktionen Einfluss auf deren Wahrnehmung und Deutung. Es bestehen je spezifische, von Akteur zu Akteur unterschiedliche, stets im Wandel befindliche Paradigmen, Konzepte und Kategorien, um Migration vor dem Hintergrund der jeweiligen Interessen zu benennen, zu beschreiben und daraus Wirklichkeitskonstruktionen und Handlungen zu formen.

Für institutionelle Akteure waren und sind Migranten Anlässe für Problematisierungen und Maßnahmen, gleichzeitig stellen sie Konkurrenten in Konflikten oder Umworbene dar: (Potenzielle) Migranten reagieren auf restriktive Interventionen (zum Beispiel Ab- oder Zuwanderungsverbote), auf Zwangsmaßnahmen (zum Beispiel Ausweisung, Vertreibung) oder auf attrahierende Angebote (zum Beispiel Anwerbung durch Unternehmen, Zuwanderungspolitik zur Gewerbeförderung, Gewinnung von Hochqualifizierten). Sie entwickeln Strategien, um in einem durch Herrschaftspraktiken und Identitätszuschreibungen strukturierten Feld eigene räumliche Bewegungen durchzusetzen und aufrechtzuerhalten, Aspirationen geltend zu machen, Gründe vorzubringen sowie Lebensläufe zu präsentieren und anzupassen.

Migranten agieren als Individuen und in Netzwerken oder Kollektiven mit unterschiedlichen Autonomiegraden vor dem Hintergrund verschiedener Erfahrungshorizonte im Gefüge von gesellschaftlichen Erwartungen und Präferenzen, Selbst- und Fremdbildern, Normen, Regeln und Gesetzen. Sie verfolgen dabei ihre eigenen Interessen und Ziele, verfügen über eine jeweils unterschiedliche Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem, sozialem, juridischem und symbolischem Kapital mit der Folge je verschieden ausgeformter Handlungsspielräume. Migrantische Infrastrukturen und Identitätsmanager entwickeln unter anderem Selbstbilder, die Vergemeinschaftungsprozesse von Migranten identitätspolitisch steuern.

Kenntnisse über Migrationsformen und Wanderungsmotive helfen nur bedingt bei der Rekonstruktion von Prozessen der Niederlassung und Integration, zumal Absicht und Ergebnis von Wanderungen nicht übereinstimmen müssen. In der historischen Lebenswirklichkeit war Integration weder für die Zuwanderer noch für die Mehrheitsbevölkerung ein Globalereignis der Anpassung an eine Gesellschaft. Integration bedeutet vielmehr das langwährende, durch Kooperation und Konflikt geprägte Aushandeln von Chancen der ökonomischen, politischen, religiösen oder rechtlichen Teilhabe. Sie wird von Individuen, Gruppen oder Organisationen in der Zuwanderer- wie in der Mehrheitsbevölkerung in ihren je verschiedenen Stadien unterschiedlich wahrgenommen und vermittelt. Die lange Dauer des Prozesses bedingt, dass er zugleich Teil eines mehr oder minder tiefgreifenden Wandels von Wirtschaft und Gesellschaft, Politik und Kultur im Ankunftsraum ist. Dabei verblassen als distinkt verstandene Unterschiede zwischen Einwanderern und länger Eingesessenen in der Wahrnehmung der Einwanderungsgesellschaft immer weiter: ethnische Zugehörigkeit, kulturelle Muster, nationale oder regionale Identitäten, Sprache.

Teilhabe von Einwanderern schreitet in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit voran – eine uneingeschränkte Teilhabe des Einwanderers am Arbeitsmarkt bedeutet beispielsweise nicht, dass er rasch eine Wohnung findet, ungehindert im Wohnort am Vereinsleben teilnehmen kann oder die Teilhabechancen für seine Kinder im Erziehungssystem günstig sind. Die Möglichkeiten der Teilhabe an Politik, Arbeitsmarkt, Bildungs-, Rechts- oder Sozialsystem von Migranten sind unterschiedlich stark beschränkt. Begrenzte Teilhabemöglichkeiten und eingeschränkte Handlungsmacht führen oft zu Diskriminierung und Marginalisierung, Ausbeutung und beschränktem Schutz durch (staatliche) Institutionen oder Gerichte. In den Zielländern werden Migranten nicht selten als Konkurrenten um begehrte Ressourcen (etwa Erwerbsmöglichkeiten, Versorgungsgüter oder Sozialleistungen) wahrgenommen und müssen deshalb mit Ablehnung bis hin zu Hass rechnen. Außerdem gelten sie nicht selten als Gefahr für die innere und äußere Sicherheit und für gesellschaftliche Gewissheiten, wie beispielsweise Vorstellungen über die Homogenität von Bevölkerungen oder Kulturen.

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