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»Peuplierung« als migrationspolitisches Konzept
ОглавлениеDie Siedlungsbewegungen nach Südosteuropa und in den Raum nördlich des Schwarzen Meeres bildete den letzten Ausfluss eines politischen Konzepts, das seit Mitte des 17. Jahrhunderts an Gewicht gewonnen hatte: Im Gefolge des Dreißigjährigen Kriegs strebte eine merkantilistisch operierende Migrationspolitik nach einer Höchstzahl von – erwerbstätigen und steuerzahlenden – Untertanen. Diese »Peuplierung« wirkte zunächst vornehmlich in den mitteleuropäischen Gebieten, die von den Zerstörungen des Dreißigjährigen Kriegs besonders stark betroffen waren. Sie beinhaltete den Einsatz von Werbern in den Abwanderungsgebieten und die Gewährung von Privilegien und Vergünstigungen für Zuwanderer (Freijahre, kostenloses Siedlungsland, günstiger personen- und besitzrechtlicher Status, freies Bau- und Brennholz).62
Ein skizzenhafter Überblick über die im Zuge des Dreißigjährigen Kriegs schwer verwüsteten Gebiete im deutschsprachigen Raum lässt grob die Muster regionaler und interregionaler kriegsfolgenbedingter Migration erkennen: Elsass und Baden wurden Ziele starker Siedlungswanderungen aus der Schweiz, zum geringeren Teil aus Flandern und Wallonien. Schweizerische Einwanderer dominierten auch in Württemberg, zusammen mit Vorarlbergern, Bayern und Tirolern. Nicht selten aus Glaubensgründen mobilisierte Migranten aus den österreichischen Territorien prägten die Zuwanderung nach Franken und Schwaben. In der Mark Brandenburg war die Zuwanderung reformierter niederländischer, schweizerischer und seit den 1680er-Jahren hugenottischer ländlicher Neusiedlergruppen von Bedeutung, denen das besondere Interesse des konfessionsverwandten brandenburgischen Herrscherhauses galt.63
Auch über Brandenburg hinaus bot die Bewegung der Hugenotten eine bedeutende Zuwanderung im frühneuzeitlichen Deutschland. Von den 150.000 bis 200.000 Hugenotten, die nach dem Widerruf des 1598 verkündeten Edikts von Nantes im Jahr 1685 Frankreich verließen, wanderten etwa 38.000 bis 40.000 in deutsche Territorien vorwiegend nördlich des Mains ein, unter denen Brandenburg-Preußen mit rund der Hälfte zum wichtigsten Zuwanderungsland wurde, mit weitem Abstand vor Hessen-Kassel, anderen hessischen Territorien und den welfischen Herzogtümern. Weniger als ein Viertel der hugenottischen Zuwanderer blieb im deutschen Süden und hier vor allem in der Pfalz, in Württemberg, Ansbach und Bayreuth. Bedeutender als deutsche Gebiete waren als Ziele für hugenottische Migranten England mit rund 35.000 bis 45.000 Menschen und die Niederlande (einschließlich der Kolonialbesitzungen) mit 35.000 bis 50.000.
Nur in Deutschland kam es zur Gründung geschlossener Hugenottensiedlungen, die auf die Initiative landesherrlicher Regierungen zurückgingen: Kassel-Neustadt und Karlshafen (Hessen-Kassel), Friedrichsdorf (Hessen-Homburg), Christian-Erlang (Bayreuth). Zentrales Dokument für die Verknüpfung des konfessionspolitischen Strebens nach Aufnahme und Integration konfessionsverwandter Glaubensflüchtlinge mit dem Interesse der Peuplierung als Element merkantilistischer Wirtschaftspolitik war das Potsdamer Edikt des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm vom Oktober 1685.
Wichtigste ländliche Aufnahmeräume für Hugenotten in Brandenburg-Preußen wurden Regionen, die aufgrund des Dreißigjährigen Kriegs stark entvölkert waren: das Ruppiner Land sowie die Umgebung von Potsdam und die Uckermark. Das Ruppiner Land verzeichnete einen Verlust von 60 bis 70 Prozent, die Uckermark sogar von 90 Prozent der Vorkriegsbevölkerung. Primäres städtisches Wanderungsziel wurde Berlin, wo um 1700 jeder fünfte Bewohner hugenottischer Herkunft war. Sie waren für den Aufschwung Berlins zu einer europäischen Metropole von weitreichender Bedeutung.
Dennoch zählte nur der kleinere Teil der Einwanderer zur Gruppe der erfolgreichen Unternehmer und Händler, auch unter den Hugenotten dominierten Angehörige der Mittel- und Unterschicht. Aber auch sie waren wegen ihrer (manchmal von den Obrigkeiten nur angenommenen) besonderen Fähigkeiten, zum Beispiel im Manufakturwesen und in der Landwirtschaft, zum Teil so begehrt, dass für einzelne Bereiche geradezu von einer Art konfessionsbedingtem Technologietransfer gesprochen werden kann. Die Integration wurde, trotz vieler und häufig sogar tiefgreifender Reibungen mit den Einheimischen, entschieden erleichtert durch das obrigkeitliche Interesse an Peuplierung und Innovation mit Hilfe von Zuwanderung.
Brandenburg-Preußen blieb auch im 18. Jahrhundert eines der wichtigsten deutschen Einwanderungsländer. Zentrale Aufnahmegebiete waren die Mark Brandenburg, Ostpreußen und Schlesien (seit 1740). Zwischen 1640 und 1786 nahm Brandenburg-Preußen rund eine halbe Million Einwanderer auf. Dabei dominierten nach dem Ende der Periode der Neuansiedlung zwei große Peuplierungsmaßnahmen in kriegszerstörten Regionen: einerseits im durch eine Pestwelle und andere Epidemien zu Beginn des 18. Jahrhunderts schwer geschädigten Ostpreußen; andererseits in den durch großangelegte Kultivierungen neu erschlossenen Gebieten in den Niederungen von Oder, Netze und Warthe in der Regierungszeit König Friedrich Wilhelms I. (1713–1740) und König Friedrichs II. (1740–1786). In diesen Kontext gehörte auch die Ansiedlung von Salzburger Protestanten, die 1731/32 aus ihrer Heimat vertrieben und von Friedrich Wilhelm I. förmlich zur Ansiedlung in Ostpreußen eingeladen worden waren. Von den insgesamt rund 20.000 Salzburger Emigranten wurde der überwiegende Teil in Ostpreußen unter Gewährung günstiger Bedingungen angesiedelt. Kleinere Gruppen gingen in andere protestantische Gebiete Deutschlands, in die Niederlande und nach Nordamerika.64