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1 Einführung
ОглавлениеBild Seite 7: »Ich wandere aus!« Titelbild der Zeitschrift »Revue. Die Weltillustrierte« vom 29. April 1950. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Zahl der Auswanderer aus Deutschland stark angestiegen.
Die deutschen, europäischen und globalen Migrationsverhältnisse, ihre Dimensionen, Muster und Ausprägungen, aber auch die mit den räumlichen Bewegungen verbundenen Chancen und Risiken werden insbesondere seit der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert breit diskutiert. Vornehmlich die intensiven Debatten des Jahres 2015 um die globale Flüchtlingsfrage und deren Gewicht für Europäische Union und Bundesrepublik Deutschland haben die Aufmerksamkeit gegenüber dem sozialen Phänomen Migration wachsen lassen. Dass Migration auch in Zukunft ein Thema zu bleiben verspricht, beweist das intensive Interesse an Stellungnahmen über mögliche migratorische Effekte in Bezug auf die Alterung der europäischen Gesellschaften, den Klimawandel oder den Mangel an Fachkräften innerhalb zunehmend komplexerer und international eng vernetzter »Wissensgesellschaften«. Gegenwart und Zukunft Deutschlands, Europas und der Welt lassen sich mithin nur unter Berücksichtigung des Wandels der Migrationsverhältnisse zureichend beschreiben.
Der Aufschwung einer geschichtswissenschaftlichen Migrationsforschung hat insbesondere seit den frühen 1990er-Jahren deutlich gemacht, dass Wanderungsbewegungen seit jeher die Welt veränderten: Inzwischen lassen unzählige Beispiele wissen, in welch hohem Maß Arbeits- oder Siedlungswanderungen, Fluchtbewegungen oder Vertreibungen die Bevölkerungszusammensetzung, ökonomische Strukturen, kulturell-religiöse Orientierungen, staatliches Handeln oder politische Debatten beeinflussten. Räumliche Bewegungen bildeten von Beginn der Menschheit an ein zentrales Element der Anpassung an Umweltbedingungen und gesellschaftlichen Wandel – und veränderten zugleich Umwelt und Gesellschaften. Wahrscheinlich vor rund 100.000 bis 120.000 Jahren verließ der anatomisch moderne Mensch der Gattung Homo sapiens erstmals den afrikanischen Kontinent und verbreitete sich vom Nahen Osten und von der Arabischen Halbinsel aus über die Welt.1
Ohne Bewegung im Raum war für den Homo sapiens über Jahrzehntausende hinweg Überleben gänzlich unmöglich. Vor rund 40.000 Jahren erschloss er sich die gemäßigten Zonen Eurasiens nördlich von Alpen, Himalaja und Kaukasus. Europa besiedelte er vermutlich von Südosteuropa ausgehend, schließlich war er mit dem Ende der letzten Eiszeit vor rund 12.000 Jahren in allen Großräumen der Kontinente präsent. Allerorten lassen sich schon vor Jahrtausenden und über Jahrtausende weiträumige Bewegungen von Menschen ausmachen, die nach Siedlungs- und Erwerbsmöglichkeiten suchten. Hinzu traten Flucht und Vertreibung im Kontext von Kriegen sowie die Migration von Eliten in den ausgedehnten Reichen, die sich seit dem 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung etablierten (ägyptische Reiche, Babylon, chinesische Großstaaten, Alexander-Reich, Römisches Reich). Um es auf die kurze Formel des Historikers und Migrationsforschers Klaus J. Bade zu bringen: »Den ›Homo migrans‹ gibt es, seit es den ›Homo sapiens‹ gibt.«2