Читать книгу Das Geheimnis des wahren Evangeliums - Band 1 - Johanne T. G. Joan - Страница 14
Оглавление8. Kapitel
Als er noch in der Ausbildung war, erinnerte sich Carlucci, im Benediktinerkloster von Monte Cassino, vor Jahren, in einer Truhe im Skriptorium, Fragmente mit ähnlichem Textinhalt entdeckt zu haben, doch diese waren in Hebräisch verfasst gewesen,6 und derart beschädigt, dass es ihm nur partiell gelungen war, den Inhalt des Textes zu verstehen.
„Handelte es sich möglicherweise um die gleichen Schriften, die in Hebräisch, vor dem aramäischen Essener Text verfasst wurden? Wenn ja, dann würde die Gegenüberstellung beider Manuskripte, der aramäischen und der hebräischen, ihre gegenseitige Authentizität beweisen“, schlussfolgerte der Geistliche aufgeregt.
Am nächsten Tag, beschloss er, dem Benediktinerkloster auf der Suche nach den hebräischen Fragmenten, einen Besuch abzustatten.
Unterdessen würde er die Übersetzung der aramäischen Manuskripte gleich in Angriff nehmen. Während er las, stellte er sich immer wieder die gleiche Frage: Wieso kommen im Friedensevangelium Worte- und Textelemente vor, die er aus den Evangelien des Neuen Testaments kennt, hier aber in einem ganz anderen Zusammenhang stehen?
Einerseits lehrt „Jesus“ im Friedensevangelium die Reinheit des Leibes über die Nahrung, die zur Reinheit des Geistes führt. Er erklärt, dass das Himmlische nur über das Irdische erreichbar ist, dass der Mensch aus seinem Leib, im Laufe eines Lebens im Einklang mit der Natur zum Tempel Gottes wird. Er erklärt uns, dass der gereinigte Körper, der Tempel des Geistes ist und der Geist der Tempel Gottes oder das Himmelreich; dass Körper und Geist eine Einheit sind, die einander beeinflussen, und dass das Himmelreich oder der Geist Gottes erst auf den gereinigten Tempel sich niedersenkt. Für das Erreichen der Vollkommenheit setzt also der Prophet die körperliche Reinheit voraus.
Wahrlich, ich sage euch, Gott und seine Gesetze finden sich nicht in euren Taten. Sie finden sich nicht in Schlemmereien und Trunkenheit, noch in liederlichem Leben oder Lüsternheit, noch in der Suche nach Reichtümern, noch im Hass auf eure Feinde. Denn all diese Dinge kommen alle aus dem Reich der Dunkelheit und vom Herrn allen Übels. Und all diese Dinge tragt ihr in euch selbst; und so dringen das Wort und die Macht Gottes nicht in euch ein, weil alle möglichen Übel und Abscheulichkeiten ihre Wohnung in eurem Körper und eurem Geist haben. Wenn ihr wollt, dass das lebendige Wort Gottes und seine Macht in euch eindringen kann, dann beschmutzt nicht euren Körper und euren Geist; denn der Körper ist der Tempel des Geistes, und der Geist der Tempel Gottes.7
Und als nächstes wurde dieses Gebot gegeben: „Du sollst nicht töten“, denn Leben wird allen von Gott gegeben, und das, was Gott gegeben hat, darf der Mensch nicht wegnehmen. Denn wahrlich, ich sage euch, von einer Mutter stammt alles, was auf Erden lebt. Darum tötet jeder, der tötet, auch seinen Bruder. Und von ihm wird sich die Erdenmutter abwenden und ihm ihre belebenden Brüste entziehen.
Und er wird von ihren Engeln gemieden, und der Satan wird in seinem Körper einziehen. Und das Fleisch geschlachteter Tiere in seinem Körper wird sein eigenes Grab werden. Denn wahrlich ich sage euch, der der tötet, der tötet sich selbst, und wer vom Fleisch erschlagener Tiere isst, isst vom Körper des Todes.8
Demgegenüber offenbart uns der Held des Neuen Testaments, Paulus, das Geheimnis Gottes über den Geist Jesu, dass die Nahrung nichts mit unserem Heil zu tun hat:
Die Speisen „sind“ für den Bauch und der Bauch für die Speisen; Gott aber wird sowohl diesen als auch jene zunichtemachen.
(1 Kor 6,13)
Hingegen lehrt uns Paulus, dass allein der Glauben an das Opfer Jesus Christus am Kreuz, der Sohn Gottes, die Seele reinigt und rettet; dass der Leib ganz und gar nicht mit der Seele zusammenhängt, dass nicht einmal die guten Werke uns vor der Hölle retten können.
Andererseits spricht der Essener Jesus von dem menschlichen Körper, der nach der Wiedergeburt, nach der Reinigung auferstehen und zum Tempel des Geistes wird; …
Darum reinigt den Tempel, damit der Herr des Tempels darin wohnt und einen Platz einnehmen kann, der seiner wert ist.Und von allen Versuchungen eures Körpers und Geistes, die von Satan kommen, zieht euch zurück unter den Schatten von Gottes Himmel.
Erneuert euch und fastet. Denn ich sage euch wirklich, dass der Satan und seine Plagen nur durch Fasten und Beten ausgetrieben werden können. Bleibt allein und fastet und zeigt euer Fasten keinem Menschen. Der lebendige Gott wird es sehen und groß wird die Belohnung sein. Und fastet bis Beelzebub und alle seine Übel euch verlassen und all die Engel eurer Erdenmutter kommen und euch dienen.8
… Paulus aber unterteilt diesen menschlichen Körper in Bauch und Leib.
Der Essener Jesus spricht von Unzucht der Seele, die die Abhängigkeit zum Weltlichen bedeutet, wovon die Hurerei des Körpers mit sexuellen Ausschweifungen nur einen Teil der Unzucht darstellt. Paulus aber setzt beide Begriffe, Hurerei und Unzucht, auf eine Stufe.
Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe. {O. hat sich genaht} Laßt uns nun die Werke der Finsternis ablegen und die Waffen des Lichts anziehen.
Laßt uns anständig wandeln wie am Tage; nicht in Schwelgereien und Trinkgelagen, nicht in Unzucht und Ausschweifungen, nicht in Streit und Neid; {O. Eifersucht} sondern ziehet den Herrn Jesus Christus an, und treibet nicht Vorsorge für das Fleisch zur Erfüllung seiner Lüste. {O. zur Erregung seiner Lüste; w. zu Lüsten}
Den Schwachen im Glauben aber nehmet auf, doch nicht zur Entscheidung zweifelhafter Fragen. {Eig. Von Überlegungen} Einer glaubt, er dürfe alles essen; der Schwache aber ißt Gemüse. Wer ißt, verachte den nicht, der nicht ißt; und wer nicht ißt, richte den nicht, der ißt; denn Gott hat ihn aufgenommen. (Röm 13,12–14,3)
daß, wenn ich wiederkomme, mein Gott mich eurethalben {O. vor od. bei euch} demütige, und ich über viele trauern müsse, die zuvor gesündigt und nicht Buße getan haben über die Unreinigkeit und Hurerei und Unzucht, die sie getrieben haben. (2 Kor 12,219)
Während Carlucci die Texte untersuchte, wurde er immer wieder darin bestätigt, dass beide Lehren einander gegensätzlich sind und wie Wasser und Feuer, Licht und Finsternis, Gerechte und Ungerechte, einander ja sogar abstoßen und egal wie er es drehte und wendete, konnte keinen gemeinsamen Nenner entdecken.
Der Essener Jesus muntert uns auf, die Vollkommenheit anzustreben, die natürliche Reinheit neu zu erlangen und das göttliche Geschenk des Lebens wertzuschätzen. Nicht Resignation und Aussichtlosigkeit jemals etwas Gutes zustande zu bringen, ist sein Grundsatz, sondern der Glaube an die Fähigkeit, das Niedere selbst kreuzigen zu können, der Glaube an die Wiedergeburt des Leibes und dessen Verwandlung durch ein Leben in Reinheit, in einen Tempel Gottes, der Grad der Vollkommenheit, die Gott für seine Kinder vorgesehen hat: Gott im Menschen.
Während in den Evangelien des Neuen Testaments alles darauf hindeutet, dass der Mensch sein Leben geringschätzen sollte und das Martyrium buchstäblich für die Verbreitung des Evangeliums verherrlicht, lehrt uns der Apostel Paulus, dass wir nicht in der Lage sind, die Gebote zu halten, dass wir alle miteinander „Versager“ sind und auf die Gnade Gottes angewiesen sind, deshalb sei auch Jesus am Kreuz gestorben, als Opfer für unsere Sünden – jene, die wir getan haben und weiterhin tun werden:
Denn wir wissen, daß das Gesetz geistlich ist, ich aber bin fleischlich, {Eig. fleischern} unter die Sünde verkauft; denn was ich vollbringe, erkenne ich nicht; {O. billige ich nicht} denn nicht, was ich will, das tue ich, sondern was ich hasse, das übe ich aus. Wenn ich aber das, was ich nicht will, ausübe, so stimme ich dem Gesetz bei, daß es recht {Eig. schön, trefflich;} ist.
Nun aber vollbringe nicht mehr ich dasselbe, sondern die in mir wohnende Sünde. Denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt; {Eig. Gutes nicht wohnt} denn das Wollen ist bei mir vorhanden, aber das Vollbringen dessen, was recht ist, [finde ich] nicht. Denn das Gute, das ich will, übe ich nicht aus, sondern das Böse, das ich nicht will, dieses tue ich. Wenn ich aber dieses, was ich nicht will, ausübe, so vollbringe nicht mehr ich dasselbe, sondern die in mir wohnende Sünde. Also finde ich das Gesetz für mich, der ich das Rechte ausüben will, daß das Böse bei mir vorhanden ist. Denn ich habe Wohlgefallen an dem Gesetz Gottes nach dem inneren Menschen; aber ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meines Sinnes widerstreitet und mich in Gefangenschaft bringt unter das Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist. Ich elender Mensch! wer wird mich retten von {W. aus} diesem Leibe des Todes? (Röm 7,14-24)
Sein Leben lang hatte er an die Paulus-Botschaft der Gnade geglaubt, die der Apostel, nach eigenen Angaben, vom Geist Christus persönlich offenbart bekam.
Carlucci war verwirrt. Ein Evangelium sagte mit nahezu den gleichen Worten, das Gegenteil des anderen.
Wer hätte Interesse daran, mit einem derartigen Aufwand, die Aussage der Evangelisten für eine Reinheitslehre zu fälschen? Und warum? Hatte sein Vorgänger Msgr. Mondeo Recht? Handelte es sich bei diesen Schriften, um eine gnostische Fälschung?“
Er musste sich zu seiner Schande dennoch ehrlich eingestehen, dass der Essener Jesus, dessen Worte wie reines Quellwasser zu sprudeln scheinen, ihn wahrhaftig erquickten und seinen Seelendurst zu löschen vermochten, sympathischer war, als Jesus aus den kanonisierten Evangelien.
„Was heißt ‚gnostische Fälschungen‘?“, überlegte er. „Diese Worte, die das Geheimnis der Schöpfung beinhalten, wie können sie gefälscht sein?“, fragte er sich.
„Auf einen Punkt gebracht: ich habe zwei Evangelien, die einander sehr ähnlich und dennoch völlig gegensätzlich sind. Da beide nicht richtig sein können, handelt es sich also um ein echtes Evangelium und um eine Fälschung. Nun was ist das Richtige und was die Fälschung. Warum sollte man entweder ein Evangelium zugunsten der Gnadenlehre oder zugunsten der Reinheitslehre fälschen?“ Das waren die Fragen, die sich in seinem Kopf im Kreis drehten. Die Gegensätze zwischen diesen beiden Evangelien nahmen immer deutlichere Konturen an:
In den Essener Schriften vermisste er den widerspenstigen und renitenten Jesus, der seine eigenen Jünger notgedrungen, wie ein Klotz am Bein mit sich herumzuschleppen schien, der mit seinem Volk ins Gericht ging und von der jüdischen Obrigkeit verfolgt wurde. In den Essener Schriften gab es, im Gegensatz zu den Evangelien aus dem Neuen Testament, keine Wunder, keine Auferweckung von Toten, keinen Jesus, der auf dem Wasser geht oder Brote und Fisch vermehrt. Es gab nur die göttliche Botschaft, die Reinigung durch die Taufe und die Hoffnung auf das ewige Leben. Alles war auf natürlichem Weg nachvollziehbar. In den aramäischen Schriften vermisste er zudem die Anspielung auf einen Verrat Judas oder gar auf seinen notwendigen bevorstehenden Tod. Keine Drohung oder Worte der Bitterkeit sind in diesen Essener Schriften zu finden, sondern Verständnis und Nachsicht für den Sünder, Harmonie und Worte der Liebe, wie man sie von einem von Gott gesandten Propheten erwartet.
Während er die aramäischen Texte übersetzte, stieß er auf eine Stelle, die er aus einem Paulusbrief an die Korinther gut kannte und die in dem aramäischen Essener Evangelium beinah wörtlich zu lesen war.
„Das Hohelied der Liebe“
Durch Liebe werden der Himmelsvater und die Erdenmutter und der Menschensohn eins. Denn der Geist des Menschensohns wurde aus dem Geist des Himmelsvaters geschaffen, und sein Körper aus dem Körper der Erdenmutter. Und so liebt euren Himmelsvater, wie er euren Geist liebt. Und so liebt eure Erdenmutter, wie sie euren Körper liebt. Und so liebt eure wahren Brüder, so wie euer Himmelsvater und eure Erdenmutter sie lieben. Und dann wird euch euer Himmelsvater seinen heiligen Körper geben. Und dann werden die Menschensöhne sich wie wahre Brüder lieben mit der Liebe, die sie von ihrem Himmelsvater und ihrer Erdenmutter erhielten, und sie werden einander trösten. Und dann wird von der Erde alles Übel und alle Traurigkeit verschwinden, und es wird Liebe und Freude auf Erden geben. Und dann wird die Erde wie der Himmel sein, und das Königreich Gottes wird kommen. Und dann wird der Menschensohn in all seiner Herrlichkeit kommen, um das Reich Gottes zu erben. Und die Menschensöhne werden ihre göttliche Erbschaft teilen, das Königreich Gottes. Denn die Menschensöhne leben im Himmelsvater und in der Erdenmutter, und der Himmelsvater und die Erdenmutter leben in ihnen. Und mit dem Reich Gottes wird das Ende der Zeiten kommen; denn die Liebe des Himmelsvaters gibt sich allem Leben im Reich Gottes immerdar. Denn Liebe ist ewig, Liebe ist stärker als der Tod.
Wenn ich mit den Zungen der Menschen und Engel rede, aber keine Liebe habe, klinge ich wie Blech oder weine scheppernde Zimbel; wenn ich Kommendes voraussagen kann und alle Geheimnisse kenne und alle Weisheit, auch wenn ich so einen starken Glaube habe wie der Sturm, der Berge versetzen kann, aber keine Liebe haben, bin ich nichts. Und wenn ich alle meine Güter hergebe, um die Armen zu ernähren, und alle mein Feuer, das ich von meinem Vater erhalten habe, aber keine Liebe habe, nützt es mir nichts. Liebe ist geduldig, Liebe ist gütig. Liebe ist nicht neidisch, schafft nichts Böses, kennt keinen Stolz; sie ist weder grob noch selbstsüchtig, bleibt gegenüber Ärger gelassen und stellt sich kein Unheil vor, fällt nicht in Ungerechtigkeit, sondern erfreut sich der Gerechtigkeit. Liebe verteidigt alles, Liebe hofft alles. Liebe erträgt alles; sie erschöpft sich nie; doch Worte allein werden vergehen, und Wissen wird verschwinden. Denn wir haben teilweise Wahrheit und teilweise Irrtum, doch wenn die Fülle der Vollkommenheit gekommen ist, wird alles Unvollkommene ausgelöscht. Im Kindesalter sprach ein Mensch wie ein Kind, verstand wie ein Kind, dachte wie ein Kind; aber als Erwachsener legte er die kindlichen Dinge ab; aber noch sehen wir durch trübes Glas und durch dunkle Worte. Noch haben wir nur Teilwissen, aber sind wir vor Gottes Gesicht gekommen, werden wir kein Teilwissen mehr haben, sondern ein Wissen, wie er es uns lehrt. Und nun verbleiben diese drei:
Glaube, Hoffnung und Liebe; aber das größte davon ist die Liebe. Und nun spreche ich zu euch mit der lebendigen Sprache des lebendigen Gottes, durch den heiligen Geist unseres Himmlischen Vaters. Es gibt noch niemanden unter euch, der alles, was ich sage, verstehen kann. Einer, der euch die Schriften auslegt, spricht mit einer toten Sprache toter Menschen zu euch, durch seinen kranken und sterblichen Körper. Ihn können deshalb alle Menschen verstehen, denn alle Menschen sind krank, und alle sind des Todes. Keiner sieht das Licht des Lebens. Blinde Menschen führen blind auf die dunklen Pfade der Sünden, Krankheit und Leiden: und zuletzt fallen alle in die Todesgrube.9
Ohne sich allzu viel von der Sache zu versprechen, verglich er das Hohelied der Liebe aus dem Korintherbrief mit dem Text aus dem Essener Evangelium und stellte als erstes fest, dass der Satz, der eindeutig die Verfasserschaft Jesus bewies (denn allein Jesus sprach von seinem Vater) …allmein Feuer, das ich von meinem Vater erhalten habe10 vom Verfasser des Korintherbriefes unterschlagen wurde. Dazu kam, dass Paulus, wie der Essener Prophet selbst, ebenfalls in der Ich-Form schrieb, doch Paulus sprach nie von seinem Vater, sondern immer nur von seinem Herrn Jesus oder Christus.
Carlucci las noch einmal die Predigt aus dem Essener Evangelium:
Und wenn ich alle meine Güter hergebe, um die armen zu ernähren, und all mein Feuer, das ich von meinem Vater erhalten habe, aber keine Liebe habe, nützt es mir nichts.11
Und anschließend die Version aus dem Neuen Testament:
Und wenn ich alle meine Habe zur Speisung ‚der Armen‘ austeile und wenn ich meinen Leib hingebe, damit ich Ruhm gewinne, aber keine Liebe habe, so nützt es mir nichts.
(1Kor 13,3)
Die Verwirrung war nun komplett. Und dann begann er sich zu fragen, warum der Apostel Paulus, der nach eigenen Angaben, sein Leben Jesus geopfert und für ihn so viel gelitten hatte, sich mit „fremden Federn“ schmückte. Warum riss Paulus diesen wunderbaren Inhalt aus seinem Kontext heraus und gab ihn in seinem Brief, als sein Eigenes, mehr oder weniger, aus der Luft gegriffen wieder?
Die zuvor entdeckten Widersprüchlichkeiten aus beiden Evangelien- Fassungen und das Rätsel, das daraus entstanden waren, hatten allein für Skepsis gesorgt, doch die flagrante Umformulierung des „Hohelieds der Liebe“ setzte der Sache die Krone auf. Es waren einfach zu viele Frage auf einmal. Wenn die künftigen Text-Abweichungen diesen Kurs beibehalten, dann ist die Rechnung ganz einfach und es gab nur eine Schlussfolgerung, überlegte der Geistliche und hielt sich den Kopf mit beiden Händen, als könnte er dadurch seine Gedanke besser ordnen: Es besteht nun kein Zweifel mehr, überzeugte er sich ein weiteres Mal: Ein Text stellt ein Original und der andere eine Fälschung dar.
Das plötzliche Gefühl der Ohnmacht, das ihn überkam, löste einen Magenkrampf aus, ein Zustand, der ihm Angst machte. Um sein Unwohlsein zu vertreiben, stand er auf, atmete tief durch und trat instinktiv einige Schritte von dem Tisch, auf dem die Essener Schriften lagen, zurück. Ein inneres Zittern hatte ihn vereinnahmt, ängstlich und misstrauisch betrachtete er die Unterlagen auf seinem Arbeitstisch, wie einer, der sich davor fürchtet von einem giftigen Skorpion, der sich in unmittelbarer Nähe befindet, gebissen zu werden. Er zitterte am ganzen Körper und war unfähig, seine Forschung fortzusetzen, fluchtartig verließ er den Raum.
Die darauffolgenden Tage machte er einen großen Bogen um sein Arbeitszimmer und vermied, es zu betreten, als ob der Teufel leibhaftig darin hausen würde.
Irgendwann hatte ihn jedoch die Neugierde wieder eingeholt und, obwohl er dem Raum mit dem gefährlichen „Biest“ immer noch auswich, setzte er seine Überlegungen fern von der Gefahrquelle, in einem anderen Raum fort:
„Wenn die ‚Essener-Schriften‘ älter sind, und davon ist ja auszugehen, da sie in Aramäisch und in Hebräisch verfasst wurden, dann sind die Evangelien aus dem Neuen Testament im Anschluss an sie verfasst worden“, leitete er ab. ‚Doch warum so verzerrt? Was heißt verzerrt? Es ist eine Gegenlehre‘, brachte er schließlich über die Lippen.
‚Warum sollten die Jünger Jesu die Wahrheit so verdreht haben? Und was für eine Rolle spielte Paulus wirklich? ‘
Carlucci lehnte sich in sich zusammengesackt in seinem Stuhl zurück und suchte einen Anhaltspunkt, der ihm ermöglichen würde, seine Überlegungen logisch fortzusetzen. Wie er auch die Sache anpackte, konnte er die verschiedenartigen Schriften nicht unter einen Hut bringen. Er fühlte sich überfordert. Alles was er bisher über Gott gehört und gelernt hatte, drehte sich in seinem Kopf und stürzte vor seinem inneren Auge wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Jesus der Widerspenstige – die Wunder – Jesus, der Essener Täufer, der Gutmütige; die bösen Juden, die Jesus verfolgten – die Kreuzigung – der Verrat Judas – Paulus – die Lehre der Gnade – die Lehre der Vollkommenheit…
Mit anderen Ansätzen versuchte er immer wieder Schritt für Schritt im Geiste eine neue Ordnung aufzubauen, um den Inhalt aus dem Essener Evangelium in Einklang mit dem Neuen Testament zu bringen, doch wie er es auch anging, es fand keinen Halt.
Er richtete sich wieder auf und wie ein in Rage geratenes Tier, das in einem Käfig eingesperrt ist und nach einer Lücke, um zu entkommen spürt, lief er erneut in seinem Zimmer auf und ab, herbeisehnend den versteckten Durchlass zu entdecken, der ihm eine Antwort auf dieses Mysterium geben würde. Plötzlich leuchteten seine Augen unheilvoll: Möglicherweise sind diese Schriften ein Werk des Teufels. Wahrscheinlich hatte Satan, der nur die „Auserwählten“ versucht, es auf ihn abgesehen, er wollte ihn verwirren und verunsichern. Sein Glauben war jetzt geprüft. Hier und jetzt musste er sich bewähren; seinen Glauben an den Christus, der für ihn starb, unter Beweis stellen.
Blitzartig griff er nach einem großen Kreuz aus schwerem Holz, das an einer Wand hing und streckte es, wie eine Feuerfackel beschwörend vor sich, als würde er einen angreifenden Tiger vertreiben wollen und rief bedrohend:
„Weiche von mir Satan! Ich habe mit dir nichts zu schaffen! Ich gehöre Christus an! Geh dorthin zurück, wo du hergekommen bist und wo du hingehörst, in die Finsternis!“
Er sprach noch einige Male den Namen „Jesus Christus“ aus, denn er hatte gelernt, dass die bösen Mächte vor diesem Namen weichen müssen. Und dann ließ er im Geiste das Blut des Gekreuzigten über seinen Kopf fließen, als Zeichen der Reinigung und als Abwehrschild und Schutz gegen den Widersacher.
Immer wieder rief der Geistliche die mahnende Formel, bis er sich schweißgebadet und erschöpft in seinen Sessel fallen ließ. Es hatte funktioniert. Er konnte wieder atmen und fühlte sich tatsächlich besser.
Und so endete der Tag. Msgr. Carlucci war fest entschlossen, die Angelegenheit zu vergessen. Am besten sollte er diese Teufelsschriften einfach verbrennen.
6 Das Evangelium der Essener: „ Die Geheimarchiven des Vatikans“, S. 337.
7 Das Evangelium der Essener: „Das Friedensevangelium“, S. 17.
8 Ebenda, S. 41.
8 Ebenda, S. 17.
9 Ebenda, S. 22.
10 Ebenda.
11 Ebenda.