Читать книгу Das Geheimnis des wahren Evangeliums - Band 1 - Johanne T. G. Joan - Страница 7
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In einem Sessel, vor dem Kamin, beobachtet Msgr. Carlucci das Funkeln der Flammen. Heute kommt es ihm wie ein Feuerwerkvor, das allein für ihn bestimmt ist und das Ende seiner Forschung
zu krönen scheint. In seiner feuchten Hand glänzt ein kleiner Schlüssel, neben ihm auf einer Stuhllehne sein Priestergewand, auf dem Fußboden ein gepackter Koffer.
Msgr. Carlucci ist Präfekt der Geheimarchive des Vatikans. Er ist ein Forscher und ein Perfektionist zugleich, Eigenschaften, denen er sein Amt verdankt.
Als überzeugter Anhänger der christlichen Lehre war er Jesus, dem Christus, in allem ergeben und er zweifelte nicht im Geringsten an der Wahrhaftigkeit der „Bibel“. Die „Heiligen Schriften“ waren das Wort Gottes. Sicherlich gab es dort Ungereimtheiten, sogar sehr viele, aber wie auch seine Kollegen hatte er für sich einen Weg gefunden, sich mit ihnen so zu arrangieren, dass sie für seinen Glauben keine Bedrohung darstellten.
Voller Dankbarkeit betete er täglich zu Jesus, dem er, armer Sünder, durch seine Wunden, Leid und Tod am Kreuz, sein seelisches Heil verdankte. Jesus, der Christus wurde geboren, um zu sterben für die Sünde der Menschheit. Das war das Geschenk, das Gott für seine Schöpfung bereitet hatte, die Rettung der Seele durch die Gnade.
Paulus, den der Herr Jesus auserwählte, die Heiden über dieses Geheimnis der Gnade zu belehren und der seinen Auftrag couragiert und furchtlos, ohne Rücksicht auf das eigene Leben ausführte, war zweifelsohne der Richtige für diese Mission gewesen. In dieser Hinsicht konnten ihm sogar die eigenen Apostel Jesus, die eher einen kleingläubigen, feigen und ängstlichen Eindruck machten, dem Apostel für die Heiden, das Wasser scheinbar nicht reichen.
Paulus, der Held des Christentums, das lebende Beispiel eines jeden Berufenen, der Überwinder, der kein Leid fürchtete und so viel für seinen Herrn Jesus litt und ertrug, war sein Vorbild. Der große Paulus, einst der Feind der Christen, später ihr Anführer, trat unerschrocken vor römischen Obrigkeiten auf, ließ sich für seinen Herrn auspeitschen, steinigen, ins Gefängnis werfen und bot den Juden, die ihm ständig auf den Fersen waren und ihm nach dem Leben trachteten heldenhaft die Stirn. Nichts konnte ihn aufhalten, seinen Auftrag zu erfüllen. Dieser Paulus kam an zweiter Stelle in seinem Leben, oder hatte gar Paulus den ersten Platz eingenommen? Das wusste er manchmal selbst nicht so genau. Das herauszufinden wäre eine sehr unangenehme Sache gewesen, deswegen vermied er jegliche Gedanken in diesem Zusammenhang.
„War Paulus für seine Sünden gestorben?“, wies er sich immer wieder zurecht.
„Erfährt er, der Sünder Carlucci, nicht die Gnade durch das Opfer Jesu am Kreuz, durch die Taufe und den Glauben an seine Gottessohnschaft?“ „Ja doch!“ Das half.
In dieser Überzeugung lebte Msgr. Carlucci sein Leben, Tag ein, Tag aus, und versuchte nach allen Regeln der Kunst, ein guter Christ zu sein.
Doch vor sieben Jahren stieß er auf Dokumente, die seinem Glauben tödliche Wunden zufügten und sein weiteres Leben auf den Kopf stellen sollten.
Damals hatte er Originalschriften entdeckt, die eine Verschwörung schon während des Entstehens der Evangelien und überhaupt, des gesamten Neuen und größten Teils des Alten Testaments, vermuten ließen.
Der Präfekt, der sein geregeltes und gesichertes Leben mit Ansehen und Anerkennung genoss, war sehr zufrieden mit seinem Los und nicht bereit, ohne weiteres irgendwas daran zu ändern. Die Tage vergingen und er gab sich große Mühe den Wink des Schicksals zu übersehen, doch wie er es auch anstellte, die Erkenntnis über eine mögliche Fälschung der „Heiligen Schrift“, die für ihn bis dato das Wort Gottes war, wollte nicht von ihm weichen. Die Gedanken an diese Angelegenheit verfolgten ihn und wurden schließlich so lästig wie ein Spreißel in seinem Fleisch. Um sich selbst zu beweisen, dass an der Sache nichts dran war, erlaubte er sich ein wenig zu „stöbern“ und setzte sich schließlich mit diesen fraglichen Dokumenten auseinander.
Er machte sich an die Arbeit und ging noch einmal alle Schriften durch, die er in seiner Studienzeit gelesen hatte, die Kirchenväter, die Schriftrollen vom Toten Meer, die Qumran-Schriften, die zwischen 1947 und 1956 in Felshöhlen nahe der Ruinenstätte Kirbet Qumran im Westjordanland entdeckt worden waren; die Nag Hammadi-Schriften, die 1945 in der Nähe des kleinen ägyptischen Dorfs Nag Hammadi von Bauern gefunden worden waren. Sie sind eine Sammlung frühchristlicher Texte, die hauptsächlich der Gnosis1 zuzurechnen sind. Schriften der Historiker, aber diesmal unter einem anderen, unter einem kritischeren Blickwinkel, als damals und er opferte schließlich jede freie Minute, um die Geschehnisse des ersten Jahrhunderts n. Chr. in einem anderen Licht zu durchleuchten. Ohne, dass er es merkte oder gar sich zugestehen wollte, bekam sein Leben von diesem Moment an eine völlig neue Wende, die der Behaglichkeit seines Daseins ein Ende bereiten sollte. Er lernte einen feigen Carlucci kennen, der versuchte, angesichts seiner Entdeckung, einen großen Bogen um seine Verantwortung zu machen. Die Tage und Wochen waren geprägt von Höhen und Tiefen: Der mutlose und ängstliche Geistliche hatte mit dem Tapferen, der ihn wie mit einer Kordel um den Hals in seine Richtung ziehen wollte, den Kampf aufgenommen. Die Geister, die seine Neugierde geweckt hatten, wollten nun nicht mehr von ihm weichen und sie verfolgten ihn sogar bis in die Nacht hinein.
Schleppend folgte er dem roten Faden, der ihn schließlich zum Ziel führen sollte. Aus dem „Stöbern“ wurde eine erbarmungslose Jagd nach der Wahrheit, er hatte Blut geleckt und funktionierte wie ein Roboter, wie ein Läufer, der während seines Wettrennens jeden Augenblick sein Bestes gibt, um das Ziel zu erreichen und keine lästige Gedanken zu sich durchdringen lässt, nicht einmal solche vom Sieg.
Sieben Jahre mühsamer Recherche sind nun vergangen, in denen er sich nie die Frage gestellt hatte, warum ihm ausgerechnet diese Aufgabe auferlegt wurde; er arbeitete stur und verbissen an seiner „Bestimmung“, blind für alle andere Dinge der Welt. So musste Albert Einstein empfunden haben, als er im Begriff war, die Relativitätstheorie zu formulieren, dachte er, als er seinen Eifer und seine Leidenschaft beschreiben wollte.
Sein „Rennen“ endet hier und heute. Er sitzt am Kamin und sieht auf die Uhr. Sein Freund Gilberto wird heute noch kommen, um ihn mitzunehmen, für immer fort aus diesen luxuriösen und sehr vertrauten Räumen – aus den Geheimarchiven des Vatikans.
Auf seinem Schreibtisch liegen vier Manuskripte, die das Ergebnis einer Odyssee durch die Zeit und die Lüge vereinigen und die die ganze Wahrheit über die Person Jesus von Nazareth offenbaren.
Vier Manuskripte, vier Papierhaufen, die den Lauf der Welt verändern werden, aber nicht mehr wie vier Stapel vulgärer Tageszeitungen aussehen, die im nächsten Augenblick für den Papierkorb bestimmt sind.
Den Tanz der Flammen im Kamin betrachtend, scheint er aus einem langen Traum zu erwachen. Überlegungen, die während seiner Nachforschungen nie vorkamen, attackieren ihn plötzlich. Nun begreift er, was wirklich auf dem Spiel steht. Blitzartig wird es ihm klar, dass nach der Publikation seines Werkes nichts mehr so sein würde, wie es je gewesen war. Er weiß, dass ihm seine Kollegen und viele andere Menschen, Familie, Bekannte, die an die „bequeme Wahrheit“ glauben wollen, den Angriff auf die Kirche nie verzeihen und ihn in alle Ewigkeiten verfluchen würden. Doch er weiß auch, dass die aufrichtigen „Suchenden“, jene, die von der Wahrheit, die die Kirche zu bieten hat, nicht überzeugt sind, seine Arbeit würdigen und als ein Licht am Ende des Tunnels betrachten werden. Heute aber, da sein Werk vollendet auf seinem Schreibtisch liegt, stellt er mit Verwunderung fest, dass all seine Courage ihn verlassen hat.
„Kannst du die Konsequenzen, die du durch die Veröffentlichung dieses Werkes auslöst, verantworten?“, drängt sich die Stimme des feigen Carlucci nach Jahren wieder auf. Msgr. Carlucci erschrickt. Er überlegt und gibt sich schließlich selbst die Antwort:
„Haben die Menschen nicht das Recht, die Wahrheit zu erfahren? Ich hatte nicht darum gebeten, diese Aufgabe zu übernehmen; ich war zufrieden mit meiner alten Wahrheit, dieses Amt wurde mir buchstäblich aufgedrängt“, rechtfertigt er sich.
„Was willst du überhaupt erreichen?“, fragt der Ankläger in ihm.
„Die Wahrheit denen bringen, die sie suchen, denn für sie ist sie einst von einem heiligen Mann ja geschrieben worden. Diejenigen, für die diese Wahrheit nicht geschrieben wurde, werden es ohnehin nicht annehmen“, antwortet er.
Msgr. Carlucci starrt wie hypnotisiert auf den Reigen der Flammen, die sich in Form von bedrohlichen Schwertern strecken und die anstatt des Scheits, seine Seele zu verzehren scheinen. Wie Dämonen, die ihm einen Spotttanz vorführen, reflektiert das Feuer im Hintergrund seines Arbeitszimmers; lange, furchterregende und unruhige dunkle Schatten auf die Bücherwand breiten sich aus, wo einst seine Seele im Glauben an das Opfer des gekreuzigten Jesus verwurzelt war.
Ein Gefühl der Enge in seiner Brust überkommt ihn und löst eine quälende Übelkeit aus. Er fasst sich am Bauch und krümmt sich, sein Herzschlag nimmt zu, Schweißperlen rinnen über seine Stirn. Er sieht zu dem Regal hinter sich. Er überlegt und vermag nicht abzuschätzen, wie viele Bücher über den Glauben, wie ihn die Kirche lehrt, geschrieben wurden.
Wie viele Menschen haben im guten Glauben, die Wahrheit entdeckt zu haben, ihr Leben für diese Wahrheit geopfert?
Zweitausend Jahre sind Menschen aus Unwissenheit dieser „Wahrheit“ gefolgt und haben ihr ihr ganzes Leben gewidmet. Unzählige haben die Armut gesucht oder sind für diese Wahrheit sogar freiwillig einen Märtyrertod gestorben. Wie viele waren es? Er wagt keine Zahl zu schätzen.
Hatte er das Recht, durch seine Veröffentlichung, alle die, die an die gemeingültige Wahrheit geglaubt haben, und sogar solche, die selbstlos ihr Leben für ihre Nächsten eingesetzt haben, dem Hohngelächter der Andersdenkenden preiszugeben?, fragt der Gegner in ihm.
Msgr. Carlucci richtet sich wieder auf. „Im Grunde geht es nicht darum, eine neue Wahrheit zu verkünden“, verbessert er sich. „Die Wahrheit muss jeder einzelne Mensch für sich selbst erkennen. Meine Aufgabe vielmehr ist, die Wahrheit über die Lüge zu zeigen“, und erleichtert über die gelungene Formulierung ergänzt er, „und die Lüge kann nur erkannt werden, wenn sie der Wahrheit gegenübergestellt wird.“
Er sieht auf die Uhr, in drei Stunden wird sein alter Freund Gilberto, der mit ihm durch die Irrfahrt der Lüge gegangen und eine große Hilfe gewesen war, ihn aus diesem Gebäude, das viele Jahre sein zu Hause war, fortbringen. Nur noch wenige Stunden und er wird diesen Ort nie wieder betreten. Er hat sich dazu entschieden, es gab keinen Weg daran vorbei. Ein Hauch von Nostalgie streift ihn, als er den Kamin, die Möbel, die Bücher in den Regalen, die Ölgemälde an den Wänden und alle Dinge, die zu ihm gehörten, ein letztes Mal betrachtet.
Im Schein des Kaminfeuers, fast melancholisch, fixiert der alte Mann den kleinen feucht warmen Schlüssel, der durch die Spiegelung des Feuers in seiner Hand zu glühen scheint, und erinnert sich, wie alles begann.
1 Religiöses Geheimwissen.