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II. Verfassungsmäßigkeit des § 370 – Gesetzliche Bestimmtheit
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Gemäß dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG (und § 369 Abs. 2 i.V.m. § 1 StGB), kann eine (Steuer-) Straftat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde (siehe dazu sowie zu weiteren verfassungsrechtlichen Vorgaben auch Vorbem. zu § 369 Rn. 10 ff.). Gesetz ist im formellen und nicht lediglich im materiellen Sinne zu verstehen. Jedenfalls die wesentlichen Fragen der Strafwürdigkeit sind im parlamentarischen Prozess zu klären und die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen.[1] Der Straftatbestand des § 370 genügt nach der Rspr. des BVerfG als solcher den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG.[2] Er verweist für zahlreiche Tatbestandsmerkmale auf das Steuerrecht. So sind bei der Tathandlung des § 370 Abs. 1 Nr. 1 die Merkmale „Finanzbehörden“, „steuerlich erhebliche Angaben“, „Steuern verkürzt“ bzw. „Steuervorteile erlangt“ solche des Steuerrechts, die sich erst durch Heranziehung der Steuergesetze bestimmen lassen. Von der in Rspr. und Literatur vorherrschenden Meinung wird § 370 daher – meist ohne nähere Begründung – als Blankettgesetz eingeordnet.[3] Teilweise lässt der BGH die Frage auch ausdrücklich offen[4] oder verweist auf die dazu ergangene Rechtsprechung des BVerfG, ohne diese ausdrücklich als eigene Rechtsauffassung kenntlich zu machen.[5] Blankettvorschriften zeichnen sich dadurch aus, dass sie nur Art und Maß der Strafandrohung aufstellen, hinsichtlich der mit Strafe bedrohten Handlung aber auf „ausfüllende Vorschriften“ (Gesetz, Rechtsverordnung oder Verwaltungsakt) verweisen.[6] Andere Stimmen betrachten die auf das Steuerrecht verweisenden Normen als normative Tatbestandsmerkmale, die zu ihrer Auslegung der Heranziehung steuerlicher Normen bedürfen.[7] Zudem werden die beiden Auslegungen kombiniert, indem die Norm als Blankettvorschrift bezeichnet wird, gleichzeitig aber betont wird, dass die Tatbestände des § 370 normative Tatbestandsmerkmale enthalten, deren Auslegung einen Rückgriff auf andere Steuergesetze erfordert.[8] Innerhalb dieses Rahmens sind zahlreiche Einzelheiten umstritten.[9] Die Unterscheidung spielt insb. für die Frage eine Rolle, inwieweit die Merkmale der steuerlichen Vorschriften vom Vorsatz umfasst sein müssen (s. dazu Rn. 263 ff.).[10]
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Die Annahme, bei § 370 würde es sich um ein Blankettgesetz handeln, kann deshalb nicht richtig oder jedenfalls nicht rechtmäßig sein, weil der Tatbestand nicht durch „Ausfüllungsnormen“ des Steuerrechts vervollständigt wird. Der BGH hat dazu außerhalb des Steuerstrafrechts entschieden, dass bei Blankettstrafgesetzen „ein vollständiger Straftatbestand nur [vorliegt], wenn sowohl eine wirksame Verhaltens- als auch eine rechtswirksame Sanktionsnorm vorliegen, die durch entsprechende Verweisung miteinander verknüpft sind“.[11] § 370 umfasst aber selbst den vollständigen Tatbestand der Steuerhinterziehung sowie die dafür zu verhängende Sanktion, so dass der Rückgriff auf die Steuergesetze nur zur Auslegung der in § 370 geregelten Tatbestandsmerkmale erforderlich ist. Abgesehen davon erscheint zweifelhaft, dass der „Verweis“ auf das Steuerrecht den allgemein an Bankettvorschriften gestellten Anforderungen genügen soll. Blankettstrafgesetze genügen den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots nur dann, wenn sich einerseits die möglichen Fälle der Strafbarkeit schon aufgrund des Gesetzes voraussehen lassen und andererseits auch die das Blankettstrafgesetz ausfüllenden Vorschriften den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG (ggf. i.V.m. Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG),[12] somit u.a. der für die Auslegung geltenden Wortlautgrenze und dem Analogieverbot genügen (siehe auch Vorbem. zu § 369 Rn. 40 ff. zu Wortlautgrenze und Vorbem. zu § 369 Rn. 46 ff. zu Analogieverbot).[13]
Bei § 370 kann keine Rede von einer Verweisung auf (bestimmte) Steuernormen sein.[14] Zunächst verweist die Vorschrift nicht als solche auf das Steuerrecht, sondern enthält mehrere Tatbestandsmerkmale, die zu ihrem Verständnis der Heranziehung des Steuerrechts bedürfen und daher auch jedes für sich daraufhin zu untersuchen sind, ob es sich um deskriptive, normative oder blankettartige Merkmale handelt.[15] Normative Tatbestandsmerkmale sind nach der Rspr. Merkmale, die – wie z.B. das Merkmal „fremd“ des § 242 StGB – nicht aufgrund der bloßen Wahrnehmung, sondern nur mit Hilfe einer rechtlichen Bewertung der wahrgenommenen Tatsachen oder Umstände als vorhanden festgestellt werden können.[16] Demgegenüber handelt es sich bei Blankettmerkmalen um Merkmale, die lediglich auf die Tatbestände anderer Gesetze verweisen.[17]
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Mit Ausnahme der „Steuern“ (§ 3) und „(Finanz-)Behörden“ (§ 6) sind die Merkmale des § 370 nicht in bestimmten steuerlichen Normen definiert, sondern müssen durch Anwendung und Auslegung zahlreicher im Einzelfall einschlägiger Vorschriften ermittelt werden.[18] Bei dem insoweit durch § 370 in Bezug genommenen Steuerrecht handelt es sich um eine unüberschaubare Fülle von unterschiedlichen, häufigen Änderungen unterworfenen Vorschriften, die in einer Vielzahl von nationalen Gesetzen, internationalen Abkommen, europäischen Vorgaben usw. geregelt, zu einem Großteil auslegungsbedürftig, durch Rspr. und Verwaltungsanweisungen näher bestimmt und/oder in der Auslegung umstritten sind. Der Verweis auf eine solche unbegrenzte Rechtsmaterie im Wege einer Blankettvorschrift lässt sich mit den vom BVerfG an Blankettvorschriften gestellten Anforderungen im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbaren.[19]
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Da es – worauf Ransiek zutreffend hinweist – nicht darum geht, „ob der Tatbestand eines formellen Steuergesetzes gegeben ist oder nicht, sondern allein um das Ergebnis, das sich aus der Anwendung des (gesamten) Steuerrechts ergibt“,[20] handelt es sich bei den Tatbestandsmerkmalen „steuerlich erhebliche Tatsachen“, „Steuerverkürzung“ und „Steuervorteil“ um normative Tatbestandsmerkmale.[21] Aber auch die „Pflichtwidrigkeit“ des § 370 Abs. 1 Nr. 2 ist – ebenso wie die „Pflichtwidrigkeit“ im Rahmen der Untreue gem. § 266 StGB –[22] nicht als Blankettverweisung, sondern als normatives Tatbestandsmerkmal einzuordnen[23] (s. dazu näher Rn. 268).
Unabhängig von der richtigen Einordnung der Tatbestandsmerkmale des § 370 führt die zur Ausfüllung des Tatbestandes erforderliche Heranziehung weiterer Normen zu Problemen im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot. Zwar gilt für die Vorschriften, welche die normativen Tatbestandsmerkmale ausfüllen nach h.M. das Analogieverbot und die Wortlautgrenze des Art. 103 Abs. 2 GG nicht. Bei diesen sollen für die ausfüllenden Vorschriften ausschließlich die Anforderungen aus dem jeweiligen Rechtsgebiet gelten, durch dessen Wertungen das jeweilige Merkmal des Straftatbestandes ausgefüllt wird.[24] Die Auslegung des normativen Tatbestandsmerkmals als solchem muss aber dem Bestimmtheitsgrundsatz genügen.[25]
Nach Rechtsprechung des BVerfG darf der Gesetzgeber bei der Umschreibung des Tatbestandes auch auf Vorschriften anderer Normgeber, u.a. auch auf das Unionsrecht verweisen.[26] Innerstaatliche Rechtsvorschriften, die eine Richtlinie oder eine Verordnung der Europäischen Union in deutsches Recht umsetzen, sind nur in dem Umfang am Maßstab des GG zu messen, in dem die Richtlinie oder die Verordnung den Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum lässt. Außerhalb dieses Spielraums sind sie am Unionsrecht zu messen.[27] Grundsätzlich unschädlich ist es dementsprechend nach Auffassung des BGH, wenn sich die Strafbarkeit gem. § 370 aufgrund europarechtskonformer Auslegung ergibt.[28]