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9 Gehirn. Genom. Geheim

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Nicht nur das Hämoglobin und die Lunge, auch das Gehirn ist ein Abbild der Welt, die uns umgibt: So gehen die Genfer Neurowissenschaftler Pierre Magistretti und Delosan Lossana, aber auch der Kinderpsychiater François Ansermet davon aus, dass das Gehirn kein genetisch streng determiniertes Organ sei, sondern die Reizaufnahme aus der äußeren Wirklichkeit Spuren im Nervensystem hinterlässt. Das Gehirn wird dynamisch, der Epigenese folgend, interpretiert. Außenwelt und Erfahrung wirken sowohl auf neuronaler wie auch auf synaptischer Ebene prägend, was bis ins Unterbewusste reichen kann.

Synapsen regulieren die Erregungsübertragung zwischen den Nerven; daran sind einfache Moleküle, Neurotransmitter, dazu Elemente und Ionen beteiligt. Im Unterschied zur früheren Auffassung, dass das alles genetisch vorbestimmt wäre, neigt man heute eher zu der Meinung, die Plastizität sei so groß, dass unser Gehirn bei der Ausformung von Synapsen die Außenwelt mitpartizipieren lässt.

Dadurch wird die Neurogenese von der Umwelt mitgestaltet. Die Zahl der Neuronen ist keineswegs endgültig fixiert, wie das noch vor nicht allzu langer Zeit die Meinung der Schulmedizin war. Durch die Neuroplastizität bekommt das Gehirn eine hohe Anpassungsfähigkeit, die zum Abbild der uns umgebenden Wirklichkeit wird. Das würde auch gut mit Freuds Auffassung zusammengehen, der meinte: Die Erfahrung durch Prozesse der Assoziation, Verschmelzung und Verzerrung wird im Nervensystem mehrmals umgeschrieben, bis sie schließlich die Form unbewusster Fantasievorstellungen annimmt.

Das heißt, das Hirn passt sich nachweislich dem an, was es sieht und versteht. Es sind hochkomplexe mikrobiologische Vorgänge im Nervensystem, die an der Impulsvermittlung teilhaben. Je mehr neue Eindrücke entstehen, desto stärker können sich Rezeptoren ausbilden, wodurch sich auch die Leistungsfähigkeit der Neuronen verstärkt. Viele Signale sind so fein, dass wir sie nicht gleich zu deuten wissen. Aber es sind alles Informationen. Botschaften.

Der Empfangende, so könnte man Sloterdijk zitieren, hält mit dem Absender ein Zwiegespräch und ist andererseits von ihm geprägt.

In stillen Momenten könnte man es wortlose Kommunikation nennen. Manchmal auch Beten.

Dass an einen Abbildcharakter zu glauben nicht unvernünftig ist, weisen die vielen biologischen Instrumente aus, die nicht nur eine permanente Anpassung und eine gerichtete Evolution denkwürdig machen, sondern auch – für den Gläubigen – a priori eine Prägung durch einen Gott.

Zur Anpassung und zur Spiegelung der Außenwelt hat die Evolution eine eigene Logik und eine gefinkelte Logistik entwickelt, um über einen uns noch nicht bekannten Algorithmus Innen – und Außenwelt miteinander zu verbinden.

Einige Beispiele dazu: Unser Genom, dieser wunderbare, elektrostatische Würfel, der ununterbrochen oszilliert, um sich der Umwelt anzupassen, besitzt vielfältige Instrumente, um nicht nur die Verpackung, sondern selbst die Anatomie, also die Hardware des Genoms, so zu verändern, dass er Abbild der ihn umgebenden Umwelt wird, um überleben zu können. Man könnte sagen, es ist ein wundersamer Chamäleoneffekt in der DNA.

Es sind vor allem – und das alles wusste Feuerbach natürlich nicht – mobile, sprungfähige Erbgutteile, die einen Anteil des Genoms bei höheren Arten ausmachen und eine reaktive Plastizität der Gene ermöglicht. Sie haben nämlich die Fähigkeit, wie der Name schon sagt, zu springen. Hops. Und sich an neuen Stellen des Genoms zu platzieren. Diese Elemente beinhalten die sogenannten DNA-Transposons, autonome Retrotransposons und nichtautonome Retrotransposons. Mit Details möchten ich Sie nicht langweilen, das machen wir schon auf manchen Medizinerkongressen. Wichtig ist die Message: Dass dieses biologische Orchester nur nach den Noten des Zufalls spielt, ist die wissenschaftliche Hypothese der Atheisten. Dass es hingegen dahinter Gesetzmäßigkeiten geben könnte, ist eine andere Denkart, die nicht minder vernünftig erscheint. Wenn der Wiener Quantenphysiker Anton Zeilinger von einer »uns noch unbekannten Information spricht, die hinter der Physik ruht«, so könnte das auch in der Biologie der Fall sein und die ungeheuren Anpassungsmechanismen modulieren.

Die DNA-Sprünge ereignen sich nicht zufällig. Sie folgen einer unbekannten Kette von Information. Einem Code, den wir noch nicht entschlüsselt haben.

Die Werkzeuge für diese Spiegelung in unseren Genen entdeckte eine Frau. Barbara McClintock. Sie wurde 1902 in Hartford, Connecticut geboren. Ihre Eltern nannten sie zunächst Eleanor. Bald spürten sie, dass der Name für ihre Tochter zu zart war, und begannen sie Barbara zu nennen, was der Entschlossenheit des Kindes besser entsprach.

Im Jahr 1944 war sie die dritte Frau, die in die National Academy of Sciences gewählt wurde, und die erste Frau, die in den Vorstand der Genetics Society aufstieg. Kurz darauf entdeckte sie, dass bestimmte genetische Regionen in Mais springen können und dass dies Einfluss auf die Farbe der gesprenkelten Maiskolben hat, von Goldgelb bis hin zu Dunkelviolett. Sie nannte es »Controlling-Einheiten«, die später eben als ­Transposons bezeichnet wurden.

Mitte der 1950er-Jahre spürte McClintock, dass der wissenschaftliche Mainstream nicht bereit war, ihre Idee zu akzeptieren, und sie hörte auf, ihre Forschungsergebnisse zu veröffentlichen, um eine Entfremdung von der wissenschaftlichen Welt zu vermeiden. Denn man konnte sich nicht vorstellen, dass das Genom eine derartige Plastizität hat, um die Umwelt zu registrieren und sich ihr anzupassen.

Allerdings saß auch hier die Wahrheit am längeren Ast. Bald sah die geneigte Kollegenschaft, dass die smarte Barbara sehr wohl recht hatte: Unser Genom ist wie eine Drehtür, es kommen und gehen neue Erbgutabschnitte. Vorteil ist, dass dieser genetische Durchzug zur Evolution beiträgt. Nachteil ist, dass dabei auch Krankheiten entstehen. So werden manche Formen der Hämophilie von solchen mobilen Elementen ausgelöst, die bei der Geburt (oder sogar schon bei der Konzeption) bewirken, dass sich die Blutgerinnungskontrolle verändert.

Heute kennt man verschiedene Klassen von transponierbaren Elementen in den Genomen unterschiedlichster Arten, von der Fruchtfliege über den Eisbären bis hin zum Menschen. Ungefähr drei Prozent des menschlichen Genoms besteht aus Transposons der DNA – so wie sie McClintock im Mais studiert hat.

Eine weitere Art sind die Retrotransposons, häufiger in unserem Genom anzutreffen als Partygäste bei Charlie Sheen. Sie beinhalten transponierbare Elemente, die ihren Ursprung in Viren haben und rund 10 Prozent unseres Genoms ausmachen. Diese Elemente kann man Jahrtausende zurückverfolgen. Sie entstanden, als Viren sich in das Genom von Spermien oder Eizellen integrierten, und so von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurden.

Bestimmte Retroposons sind auch in der Lage, sich selbst von einem Bereich des Genoms auf einen anderen zu kopieren und können dabei angrenzende genetische Sequenzen im Huckepack-Verfahren mitnehmen. Denn der Stopp-Befehl solcher Retrotransposons ist meist so schwach, dass die Enzyme der Transkription an diesem Signal nicht halten und weiter in das benachbarte Genstück hineinwirken.

Die Interaktion zwischen Genom und Epigenom – ein weiterer Berührungspunkt zwischen Erbgut und Umwelt.

Andere Mechanismen, die eine Korrespondenz zwischen Umwelt möglich machen, hat ein Forscherteam unter der Leitung des Molekularbiologen John Rinn von Harvard möglicherweise gefunden, als er die unnützen Chromosomenabschnitte, den genetischen Müll, durchsucht und dabei Codes für etwa 1.600 Ribonukleinsäuren fand, die linc-RNA genannt werden. Sie dienen nicht als Grundlage für die Proteinsynthese, sondern greifen regulierend in den Zellstoffwechsel ein. Wenn sich differenzierte Zellen teilen, müssen sie Informationen in sich tragen, die ihnen den Befehl geben, ähnlich wie oder anders als die Mutterzelle zu werden. Das Genom alleine kann das nicht übernehmen, da jede Zelle alle Gene mit sich schleppt. Man vermutet, dass es – neben der epigenetischen Information – diese linc-RNA sind, die das Schicksal der Zellen nach jeder Teilung determiniert und die bis zu einem bestimmten Grad von außen und auch epigenetisch geprägt werden können. Damit steht der Evolution ein wirksames spiegelhaftes Anpassungsinstrument zur Verfügung.

Dass es der Ablesemodus von einzelnen Genen ist, der die Entwicklung der Arten bestimmt, und dass dadurch ein weit besserer Mechanismus als die mutation per random, willkürlich, für die Anpassung und Adaption zur Verfügung stünde, haben vor kurzem US-amerikanische Forscher in Nature berichtet. Unmittelbar vor der Aufspaltung zwischen Homo sapiens und den übrigen Primaten gab es offensichtlich einen richtigen Tsunami im Erbgut des zukünftigen Menschen. Zahlreiche Genabschnitte wurden verdoppelt – allerdings ausschließlich solche, die als »dunkle Materie« zwischen den einzelnen Genen lokalisiert sind und die von früheren Forschergenerationen als junk DNA, als wertlose Pausenfüller, eingestuft wurden. Ihre Aufgabe besteht aber offensichtlich darin, die Formbarkeit einzelner Genabschnitte zu modulieren und mitzuentscheiden, ob manche Gene länger oder kürzer abgelesen werden. Sie sind Relais-Stationen zwischen »außen« und »innen« und scheinen für die Entwicklung der Arten von hoher Bedeutung gewesen zu sein.

Im Hinblick auf die junk DNA nimmt das Genom aller Säugetiere ohnedies eine Sonderstellung ein. Wie Axel Meier im Journal of Molecular Evolution (Hoegg et al., 1990) zeigte, ist die Verteilung dieser bedeutungslosen »Genhülsen« im Erbgut der Plazentatiere häufiger vorgekommen als bei Mikroben, Insekten und Pilzen. Sie bleiben in der weiteren Evolution hoch konserviert, ein Indiz für ihre wirkliche Bedeutung in der Evolution.

Die hohe Adaptionskraft von Lebewesen und der Dialog mit der Umwelt könnte durch viele weitere Beispiele illustriert werden: So informiert der als »Sigmafaktor« bezeichnete Transmitter die RNA-Polymerase darüber, dass bei ansteigender Wärme Schutzmaßnahmen notwendig sind. Die Frage war, woher der Bote die Nachricht erhielt, dass plötzlich eine gefährliche Temperatur eintritt. Die Information kommt, wie neueste Erkenntnisse zeigen, von der DNA.

Die Werkzeugkästen der Evolution sind voll mit genialen Instrumenten, um sich der Umwelt anpassen zu können.

Feuerbachs Religionskritik hatte noch eine Theologie vor sich, in der man davon ausging, dass der Weltenbaumeister in die Naturvorgänge eingreift. Dass dem nicht so ist, haben in der Zwischenzeit manche Theologen gelernt. Lernen musste aber auch die Naturwissenschaft, dass der Mensch zum großen Teil ein Spiegel von außen ist. Auch seine Gedanken und »Erfindungen«. Was bedeutet, dass jeder von uns, Sie und ich, möglicherweise geprimt, also beeinflusst wurde, bevor er einen Gedanken hervorbringt.

Die zündende Idee wäre dann nur das Ergebnis eines Wisperns aus der Unendlichkeit. Als würde jemand ganz leise flüsternd einsagen.

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