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Die Pubertät und der Prägestempel
ОглавлениеSchwierig, schwierig. Und doch so aufschlussreich. Die Zeit der inneren Irritationen. Sturm und Drang ohne Maß und Ziel. Wo geht die Reise hin, hm? Man weiß es nicht zu richtig zu deuten, woher auch, wozu auch. Der Geist der Rebellion erwacht.
Gesellschaftliches, soziales und weltanschauliches Verhalten entscheidet sich meist in der Kindheit und in der Pubertät. Es ist die Prägephase, in der die elektronischen Medien zunehmend die Funktion des Idols übernehmen. Dazu die sozialen Medien, die Wertungen, die Mahnstimmen der bloggenden Umwelt. Alles Weichen, wichtige Weichen. Da diese Kurseinstellung junger Menschen jahrzehntelang anhält und nicht den Genen selbst zugrunde liegt, darf man eine epigentische Wirkung der elektronischen Medien vermuten.
Eine internette Auswirkung.
Der epigenetische Einfluss der Medien ist gut untersucht. Daneben gibt es viele andere Varianten, die unsere Physiologie und unsere Lebenseinstellungen prägen.
Die härtesten Daten gibt es derzeit aus der TV-Welt. Seit 17 Jahren testet Peter Winterstein, Kinderarzt in Baden-Württemberg, fünf – bis sechsjährige Kinder und lässt sie dabei zeichnen. Dieser Blick in die Kinderseele hat eine Überraschung gezeigt: Während Vorschulkinder mit einem TV-Konsum von weniger als 16 Minuten pro Tag Männchen mit Haaren, Kleidern und Schuhen zeichnen, begnügen sich gleichaltrige Kinder, die täglich drei Stunden und mehr fernsehen, mit der Darstellung verkrüppelter Strichmännchen, denen Glieder aus der Hüfte wachsen oder Beine aus dem Kopf. Winterstein macht für solche Entwicklungsdefizite vor allem den Medienkonsum verantwortlich. Dabei besuchten aber alle Untersuchten eine Schule und ab dem Alter von drei Jahren mindestens halbtags den Kindergarten.
Winterstein gehört mit seinen Untersuchungen zu jenen Medizinern, die nicht müde werden, vor den Folgen kindlichen TV-Konsums zu warnen. Er schrie es geradezu heraus: Passt auf, liebe Mütter und Väter, der Flachbildschirm ist nicht so harmlos, wie er ausschaut. Fernsehen verändert.
Ähnlich der deutsche Neurophysiologe Manfred Spitzer, ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Uniklinik Ulm. Er liefert Erklärungen, wie es zu medialen Schäden kommt: In einem Gehirn prägen sich nur jene Dinge besonders gut ein, die über mehrere Sinne erfasst werden können, die also Ohr, Auge, Nase, Tast – und Geschmacksinn beschäftigen. Fernsehen sei dagegen eine, verglichen mit der wirklichen Welt, armselige Angelegenheit. Sie führe zu einer Reduktion der Vorstellungswelt. Sprich: Beim Zappen geht die Fantasie flöten.
Solche Erkenntnisse haben sich längst in einer Empfehlung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung niedergeschlagen. Demnach sollten Kinder im Vorschulalter nicht länger als 30 Minuten pro Tag fernsehen, für Grundschulkinder sei eine Stunde akzeptabel. Daran halten sich nur wenige Eltern. Manche, die es dank ihrer Ausbildung besser wissen sollten, bezeichnen scherzhaft das Fernsehen als ihr Kindermädchen. Vor dem die Kinder ruhig gehalten werden können. Wozu mit den Rackern reden, wenn es die Teletubbies gibt.
Obwohl die Faktenlage erdrückend scheint, tut sich, wie Christian Seel in Die Welt schrieb, die Forschung immer wieder schwer, einen Wirkungszusammenhang zwischen TV-Konsum und Bildungschancen zu belegen. Zum einen sind Fernsehabstinenzler als Vergleichsgruppe kaum verfügbar, zum anderen kann man den hohen TV-Konsum auch als Symptom für andere Dinge werten, die im kindlichen Umfeld schief laufen. So ergab vor kurzem eine große Studie in Nordrhein-Westfalen an 5.500 Kindern, dass der Medienkonsum umso geringer ist, je wohler sich die Kinder in ihrer Familie fühlen. Bekannt ist, dass in bildungsferneren Schichten besonders exzessiv ferngesehen wird. Wer sich nichts zu sagen hat, gibt der Fernbedienung einen Ruck. Netflix ist die neue Religion.
Der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Pro 7, Thomas Ebeling, beschrieb seine Zuschauer so: »Sie sind Menschen, ein bisschen fettleibig und ein bisschen arm, die immer noch gerne auf dem Sofa sitzen, sich zurücklehnen und gerne unterhalten werden wollen.« Ebeling hat nach dieser seiner Analyse den Hut nehmen müssen.
In Österreich und Deutschland ist Fernsehen wie Alkohol. Absolut okay. Es kann hin und wieder sogar mehr sein, schadet nicht und bringt gute Laune. Diese Denke ist nicht unproblematisch. Die Mehrheit der Leute legt über diesen Missbrauch den Schleier der Toleranz, ein neuer OLED-3D TV soll ja ausgiebig eingeweiht werden. Wenige sind bemüht, den Off-Knopf zu drücken. Anstatt die Probleme primär zu verhindern, wird für die Spätfolgentherapie ein Trupp von Logopäden und Therapeuten zu Hilfe gerufen. In langen Gesprächen sollen sie die Sünden wiedergutmachen. Und dann macht man natürlich auch die Lehrer für die schlechten Leistungen der Schüler verantwortlich. Ich will hier keine PISA-Diskussion anzetteln, nur anmerken, dass manche Schwierigkeiten hausgemacht sind.
Zu den größten Untersuchungen, die sich dem Thema Wie Fernsehen die Menschen formt widmeten, gehört die UNESCO Global Media Violence Study. Sie hat das Verhalten von Kindern vor dem Bildschirm in 23 Ländern untersucht. Ein Resultat ließ schon am Beginn der Untersuchungen aufhorchen: Rund 93 Prozent der schulpflichtigen Kinder, die in elektrifizierten Städten wohnten, verbrachten mehr als 50 Prozent der Freizeit vor dem TV-Schirm. Mehr als die Hälfte ihrer gesamten Freizeit.
Die unabhängige Television Commission aus England notierte bereits 1998, dass 46 Prozent aller Kinder einen Fernsehempfänger in ihrem Schlafzimmer haben und nur 43 Prozent aller Eltern willens sind, die Programme der Kinder zu überprüfen oder gar zu steuern. Das, obwohl die meisten englischen Eltern wissen, dass Fernsehen das Benehmen und die Kommunikation ihrer Kinder nachhaltig verändert.
Die Abhängigkeit der Kleinen vom Fernsehschirm wird durch eine weitere Untersuchung illustriert: Wie die US-National Television Study berichtet, beinhalten 61 Prozent der ausgestrahlten Programme gewalttätige Akte, nur 4 Prozent strahlten Inhalte aus, die sich gegen Gewaltaktionen richteten. In 39 Prozent wurde Gewalt, die den Tod brachte, von attraktiven und sympathischen Menschen präsentiert.
Bei Daniel Craig schaut das, wenn er den Abzug seiner Walther PPK zieht, einfach lockerer aus, er hat ja die Lizenz zum Töten. Jennifer Lawrence darf genauso ihre Widersacher im Wald mit Pfeil und Bogen jagen, schließlich ist sie die Gute von Panem. Es soll Männer geben, die sich freiwillig von ihr den Oberschenkel aufspießen lassen würden.
Jedenfalls, mehrere Studien waren tatsächlich in der Lage, über viele Jahre Menschen, die in ihrer Kindheit vor dem Fernseher saßen, zu untersuchen. Eine große US-amerikanische Evaluierung beobachtete 707 Menschen über 17 Jahre hindurch. 20 bis 25 Gewaltakte wurden pro Stunde im Kinderfernsehprogramm registriert. Fernsehen bringt auch jede Menge Action mit sich. Tatsächlich bestätigte sich, dass früh erlebte Gewaltdarstellungen später mit antisozialem Verhalten, einer Neigung zu physischer Verletzung und aggressivem Benehmen verbunden waren. Eine zweite Studie, die 1977 begann, nahm Kinder zwischen sechs und neun Jahren unter die Lupe, verfolgte sie 15 Jahre und kam zum gleichen Ergebnis. Wer viel Rambo schaut, wird kein Kuschelbär.
Burschen sind gefährdeter als Mädchen. Vor allem wenn sie in den ersten fünf Lebensjahren Gewalt unter den Menschen miterleben. Wird Brutalität mit Erotik kombiniert, hat das einen besonderen Erregungseffekt, der ins Asoziale, Egoistische, irgendwann vielleicht ins Kriminelle führt. Je höher die optische Dosis, desto stärker die Wirkung. Internetpornos und Egoshooter lösen ganz spezielle Reize aus. Dieser Effekt ist, statistisch gesehen, gefährlicher als das Passivrauchen.
Computerspiele sind gefinkelter als Actionfilme, weil das Kind aktiv als Aggressor mitwirkt. Drei Metaanalysen bestätigen das. Die Unterhaltungsindustrie, die diese Spiele herstellt, wehrt sich geschickt gegen Vorwürfe, die immer dann aufkommen, wenn Jugendliche zum Gewehr greifen und Amok laufen. Viele dieser jugendlichen Täter hatten eine Spielsucht entwickelt.
Manche Kids finden den IS geil. Die Tatsache, dass Kinder über Handys Hinrichtungsvideos aus dem Irak auf europäischen Schulhöfen untereinander austauschen, wissen Eltern höchstens aus der Boulevardzeitung.
Ich darf an dieser Stelle beruhigen. Die Technik ist nicht böse. Es war früher nicht besser. Die Digitalisierung ist das Dogma unserer Zeit. All diese Errungenschaften, vom Flatscreen bis zum Web, bieten die Möglichkeit der Information, Bildung und Kontakterweiterung. Analog lässt sich hier der alte Spruch des Gelehrten Paracelsus anwenden: Ob etwas Medizin oder Gift ist, hängt von der Dosis ab.
Natürlich spielen die Umwelt, das Geschlecht, Bildung, dazu Alkohol und Drogen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Burschen sind auch hier gefährdeter als Mädchen. Und Kinder, die gleichzeitig zu Hause den dreidimensionalen, weil realen Aggressionsakt der Eltern erleben. Sie werden durch die zweidimensionale TV-Darstellung in ihrem charakterlichen Programmierungsprozess weiter bestärkt.
Die US-Forscherin Su Bailey untersuchte in einer aufsehenerregenden Studie 40 adoleszente Mörder sowie 200 junge Menschen, die sexuelle Verbrechen begangen hatten, und sah einen starken Zusammenhang zwischen aggressiven und pornografischen Videos auf der einen Seite und den Straftaten, die folgten.
In ähnlicher Weise analysierte eine britische Studie 18 Jugendliche, die zu langen Gefängnisstrafen verurteilt worden waren. Hier zeigte sich klar, dass es die elektronischen Medien waren, die das Gewissen und die Geistigkeit der späteren Straftäter prägten: Sie hatten keinerlei Sensibilität für das Wohl anderer Menschen. Und das sei kein Wunder, resümierte vor kurzem ein angesehenes wissenschaftliches Journal: Wenn der Leitfilm für aggressives Verhalten Natural Born Killers, der strengen Jugendschutzbedingungen unterliegt, von jungen Menschen gesehen wurde, die zu 45 Prozent unter 18 Jahren waren, darf es nicht wundern, dass Friedenstauben aussterben. Selbst wenn uns vorgegaukelt wird, soziale Medien brächten die Menschen zusammen. In Wahrheit begibt man sich in eine hübsch animierte Isolation, in eine selbst gewählte Matrix.
Ich meine: Für viele Dinge im Leben braucht man eine Lizenz. Für das Spritzen eines Weingartens mit Pestiziden, für das Fischen, für das Handeln mit Gütern, für das Lehren. Eigentlich wäre auch eine Qualifikation notwendig, Kinder und vor allem Pubertierende erziehen zu dürfen. Die Bedürfnisse von Jugendlichen sind mannigfaltig, man kann so viel falsch und nur so wenig richtig machen.
Die Plastizität des pubertierenden Gehirns – und damit auch seine Beeinflussbarkeit – lässt sich sogar bildgebend verfolgen. Ungefähr im Alter von zwölf Jahren hat das kindliche Gehirn von der Größe, dem Faltungsmuster, dem Gewicht und der regionalen Spezialisierung den Status eines Erwachsenen erreicht.
Kognitiv allerdings sind sie noch nicht auf dem Niveau. In einer groß angelegten Arbeit überprüfte das National Institute of Mental Health in Bethesda, es gehört zum US-Gesundheitsministerium, 2.000 Jugendliche vom 3. bis zum 25. Lebensjahr. Alle zwei Jahre wurde an ihnen ein Gehirnscan vorgenommen. Die Arbeit verwendete eine Magnetresonanzmethodik (MRI), um den Wasser-Fett-Gehalt im Gehirn zu dokumentieren. Im Gehirn besteht die graue Substanz vor allem aus wasserreichen Nervenzellen, während die weiße Substanz Fette beinhaltet, die die einzelnen Nerven voneinander isolieren, das Myelin. Myelin ist das griechische Wort für Gehirn. Im Hirn eine Biomembran, reich an Nervenfasern.
Die Untersuchung brachte überraschende Erfolge. Sie zeigte, dass die graue Substanz zunächst in der Kindheit stark zunimmt, dann sich wieder zu verdünnen beginnt. Wobei diese Welle im Hinterhirn beginnt und bis zum frühen Erwachsenenalter anhält. Dieser Prozess läuft bei Mädchen schneller ab als bei Buben und wird mit dem »Waking-up«-Schritt in Zusammenhang gebracht; Mädchen erreichen wesentlich früher die Reife des Erwachsenenalters. Je schneller diese Welle vorangeht – und das scheint ein interessantes Nebenprodukt dieser Untersuchung zu sein –, umso höher ist die Intelligenz.
Diese Zeit der frühen Adoleszenz, die mit dem dritten epigenetischen Prägefenster zusammenfällt, entscheidet über Wichtiges im weiteren Leben: die synaptische Vernetzung und die Auswahl der Nerven. Welche gebrauchten verwendet und welche nicht gebrauchten man eliminiert. Die Stimulierung von außen scheint so an der Gehirnentwicklung entscheidend beteiligt zu sein.
Der Spruch »Use it or lose it« gilt in besonderer Weise für das Oberstübchen. Wird in dieser Lebensphase das heranreifende Gehirn angehalten, schwierige Situationen zu meistern und Konflikte zu lösen, bleibt ihm diese Begabung für das spätere Leben.
Der US-Neurowissenschaftler Jay Giedd, der diese Untersuchung leitete, schließt daraus, dass in dieser Lebensphase die Begegnung des Kindes mit Musik, Eindrücke durch Reisen, fremde Sprachen, aber auch die sportliche Balance von enormer Wichtigkeit sind. Das Gleiche gilt für Konfliktlösungsmodelle, die das Kind in diesen Lebensphasen erlernt und sich dabei an Prägedarstellungen in elektronischen Medien orientiert. Im Alter scheint wiederum eine zunehmende Myelinisierung wichtig zu sein. Sie ermöglicht, dass Nervensignale schneller weitergegeben werden und die Zeit zwischen zwei neuronalen Impulsen kürzer wird. Deswegen verlangt Weisheit ein Maximum an Myelinisierung. Das ist jener Prozess, bei dem Axome mit einer Myelinschicht umhüllt werden. Gewissermaßen das Motoröl für den Denksport.
Die molekulare Neurologie hat demnach eindrucksvolle Beispiele geliefert, wie plastisch und formbar unser Gehirn ist. Und wie nachhaltig Prägung sein kann.
Was die großen Fragen aufwirft: Gibt es den freien Willen? Ist er vorbestimmt? Und wenn ja, gibt es in einem determinierten freien Willen Freiräume? Das wären dann Nischen des Glaubens.