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Gesprengte Ketten, freier Wille: Was ist uns bestimmt?

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Das antike Hellas war vom Schicksal geprägt und nicht vom Willen. Die sokratische Lehre, dass niemand mit Absicht Böses tue, war tief im griechischen Denken verwurzelt. Vorstellungen von einem guten freien Willen, der auch bei eingeschränktem Erkenntnisvermögen den Menschen davor bewahren könnte, moralisch schlecht zu handeln, gab es nicht.

Tatsächlich determinieren uns Physik und Biologie. Zwar ist, wie Voltaire es formulierte, Freiheit »das Vermögen, etwas zu tun, was man will«, aber »in keines Wesen Macht steht es zu wollen, was es will«, wie schon Leibniz gesagt hat.

Allerdings ist das Kohlenwasserstoff-System der belebten Welt mobiler als das des Diamanten. Weil es aufgrund eines thermodynamischen Segmentes einerseits die Bereitschaft, sich zu vergrößern und zu vermehren, besitzt, andererseits bemüht ist, das effizient vorzunehmen, sich immer wieder anzupassen an eine Umwelt, die letztendlich der Spiegel der biologischen Existenz ist. Dort gibt es Freiheit, in dem immerwährenden Versuch, sich erfolgreich zu reproduzieren. Das ist tatsächlich ein apartes liberum arbitrium, ein kleines Stück echten freien Willens.

Um ein schnelles Anpassungssystem zur Verfügung zu haben, entwickelten die höheren Säuger drei Prägephasen, in denen dieses liberum arbitrium ruht: die Schwangerschaft, die ersten fünf Lebensjahre und die Pubertät. In diesen biologischen Fenstern herrscht insofern Freiheit oder auch Zufall, da es unterschiedliche Prägedeterminanten gibt, die bis zu einem gewissen Grad gewählt werden können. Und es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, auf Stress und Belastung zu reagieren. Das Gehirn hat verschiedene Reaktionsoptionen, wenn das Testosteron oder andere Substanzen aus den Geschlechtsdrüsen den Hypothalamus oder den Cortex betreten, und letztendlich entscheidet sich in diesen Lebensphasen auch, mit wie viel Vertrauen man Geschäfte abwickelt, dem Ehepartner begegnet oder seinen Mitarbeitern entgegentritt. Das alles ist durch die Epigenetik formbar. Damit existiert ein Generator für Plastizität, und dadurch gibt es im System ein kleines Stück Freiheit – allerdings mit großen Folgen für später.

Unterstützt wird das alles durch die bereits erwähnten Spiegelneuronen. Durch sie lernen die Vögel das Singen und Fliegen: Wenn sie die Eltern dabei ansehen, werden in ihrem Gehirn die gleichen motorischen Neuronen aktiv, die bei den Eltern den Singakt bewirkten.

Ultraschallbilder zeigten bei Menschen Ähnliches: Singt die schwangere Mutter, dann formieren sich mitunter die Lippen des Kindes in der Gebärmutter, als wolle es mitsingen. Diese sonografischen Bilder gingen um die Welt.

Nun gibt es Menschen mit unterschiedlichen Spiegelneuronen, und dadurch gibt es auch unterschiedliche Empathien. Die Freiheit liegt weniger im empathischen Akt, vielmehr im Augenblick, in dem entschieden wurde, wie viele Spiegelneuronen man bekäme.

Der holländische Psychiater Christian Keysers versuchte in zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten die Basis des Einfühlungsvermögens zu beschreiben. Er stellt dabei die These einer Spiegelaktivität unseres Gehirnes auf, die Ereignisse und Eindrücke, die wir aus unserer Vergangenheit aufnehmen, widerspiegeln. Emotionen, die wir bei anderen Menschen beobachten, können in unserem Gehirn analog abgerufen werden. Diese Spiegelaktivität sei Teil jener neuronalen Mechanismen, die Empathie erzeugen.

In weiteren Untersuchungen konnte Keysers nachweisen, dass selbst das Hören von bestimmten Geräuschen Spiegelaktivitäten hervorruft. Werden bestimmte Laute, zum Beispiel vom Kauen, wahrgenommen, so regt das Hirnareale an, die in einer ähnlichen Aktivität involviert wären. Diese auf Hörsignale beruhenden Spiegelaktivitäten sind vor allem in der linken Seite des Gehirns angesiedelt, dort wo auch die Sprachbegabung zu Hause ist. Das unterstreicht die Hypothese, dass – ähnlich wie das Erlernen des Gezwitschers von Singvögeln – auch die Aneignung der Sprache und der Gestik von Kindern über Spiegelneuronen erfolgt. Kinder machen es nicht bloß nach, sie aktivieren bestimmte Hirnneuronen, in denen das Imitierte gespeichert bleibt. Damit wird selbst die Sprache gespiegelt.

Das bestätigt frühere Meinungen, dass Menschen mit einer höheren Empathie auch über eine höhere Spiegelaktivität verfügen.

Im mittleren präfrontalen Gehirn gibt es unterschiedliche, von den Spiegelaktivitäten in Anspruch genommene Regionen. Stimmt man mit einem Menschen überein, so wird eine bestimmte Region aktiviert und dort zu spiegelbildlichen Reaktionen angeleitet. Die Ablehnung ist an einer anderen Stelle im medialen präfrontalen Cortex beheimatet. Dort, wo sich ebenfalls ein Spiegelphänomen ereignet, wenn man mit seinem Gegenüber nicht einer Meinung ist.

Zweifellos hängen Empathie und soziales Verhalten zusammen. Aktiviert man im eigenen Gehirn jene Enttäuschungsgefühle und Schmerzen, die man durch eigene Aktivitäten dem anderen zuführt, so wird das soziale Gewissen präziser ausgeprägt sein. Die Hemmungen sind dann größer, andere Menschen zu verletzen. Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.

Spiegelneuronale Reflexe benötigen epigenetische Nahrung. Die Rezeptionsfähigkeit der jungen Amsel, wenn sie das Singen der Mutter erlernt, entspricht der Musikalität für Altruismus und Nächstenliebe. Diesen Feinsinn, Gutes zu tun, kann sich höchstwahrscheinlich auch der Mensch epigenetisch aneignen, wenn er die entsprechenden Determinanten antrifft.

Dabei ist man selbst nicht immer Herr des spiegelbildlichen Prägeverfahrens. Die Umwelt, die Eltern und die Umgebung tragen gehörig dazu bei, um einen Menschen die Empathie erlernen zu lassen oder nicht. Vor allem dem Elternhaus scheint eine entscheidende Prägefunktion zuzukommen. Fehlen Menschen ausreichend positive Einflüsse, kann sich das mangelnde Einfühlungsvermögen in der stillen Kommunikation mit den Mitmenschen zeigen: Nächstenliebe wird defizitär. Oder überhaupt durch andere Motive ersetzt. Gier zum Beispiel.

Deswegen hat sich die christliche Tradition in ihrem jahrtausendalten Ringen um Gut und Böse und um deren Beurteilung langsam, mit vielen Kriegen und Schmerzen von der Überzeugung gelöst, dass es ausschließlich Taten im Namen des Herrn wären, die das Himmelreich öffnen. Gläubige wissen: Letztendlich kann das nur die Barmherzigkeit Gottes schaffen. Denn ob man über ausreichende Spiegelneuronen verfügt oder nicht, entzieht sich der Kompetenz des einzelnen Menschen. Und kann nicht Richtschnur für die Moral sein.

Es ist ein Geschenk, das man nicht einfordern kann. Man hat es bekommen, oder man besitzt es nicht. Warum, entzieht sich unserem Forderungskatalog. Im Gebet Der Engel des Herrn heißt es: »Gratiam Tuam, quaesumus, Domine, mentibus nostris infunde …« Zu deutsch: »Allmächtiger Gott, gieße Deine Gnade in unsere Herzen ein.«

Trotzdem soll einem charakterlichen Egalitarismus nicht das Wort geredet werden. Dass eine Empathie, die sich an der Nächstenliebe orientiert, besser ist als eine Veranlagung, die das nicht kann, ist die Kernaussage der Bergpredigt, die seit Jahrtausenden nichts an Faszination eingebüßt hat. Es ist letztlich unchristlich – und auch das hat das Christentum erst mühevoll und durch viele Opfer erlernen müssen –, mit Steinen zu werfen, wenn jemand über wenige Spiegelneuronen verfügt, wiewohl das Zielgebot nie verdrängt werden darf: Der Altruismus, und sei er durch Spiegelneuronen bedingt, ist der goldene Schnitt des christlichen Denkens. Ihn zu erreichen, selbst wenn man in den Prägephasen nicht die Gnade der »Bespiegelung« hatte, ist zwar schwer, aber nicht unmöglich. Der Mensch kann sich ändern, wenn er wirklich will. Bis zu einem gewissen Grad.

Denn dieser freie Wille, auf den Menschen stolz sind, ist womöglich nur Illusion. Oft hat das Gehirn sich schon auf eine Handlungsalternative festgelegt, wenn der Mensch noch fest glaubt, seine Optionen seien offen. Allerdings muss der freie Wille differenzierter gedeutet werden: Im Endeffekt dient auch er der Erhaltung der Art und ist einer Anpassung und damit einem dafür notwendigen Freiraum unterworfen.

In der Hirnforschung entwickelt sich eine Dialektik der Interpretation: eine materialistische und eine für das Metaphysische offene Deutung. Der deutsche Neurophysiologe Wolf Singer ist vermutlich ein Vertreter materialistischer Zuspitzung und überzeugt, »dass menschliche und tierische Gehirne sich fast nicht unterscheiden, dass ihre Entwicklung, Aufbau und Funktion den gleichen Prinzipien gehorchen«. Zunächst diagnostiziert er, von niemandem so wirklich bezweifelt, die materielle »Bedingtheit« des Verhaltens. Die Verfeinerung neurobiologischer Messverfahren lasse »die als psychisch bezeichneten Phänomene zu objektivierbaren Verhaltensleistungen werden«.

Darunter fallen Wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern und Vergessen, Bewerten, Planen und Entscheiden, und schließlich die Fähigkeit, Emotionen zu haben. Alle diese Verhaltensmanifestationen lassen sich objektivieren und im Sinne kausaler Verursachung auf neuronale Prozesse zurückführen. Somit erweisen sie sich als Phänomene, die in kohärenter Weise durch naturwissenschaftliche Beschreibungssysteme erfasst werden können.

Gegen diesen Denkanspruch richtet sich der Neurologe Gerhard Roth. »Die ernstzunehmende Gefahr«, schreibt er, »liegt in der von Neurowissenschaftlern nicht selten vertretenen Auffassung, es gäbe jenseits der neuronalen Vorgänge nichts mehr zu erklären.«

»Was soll denn da noch zu erklären sein?«, fragen dann die Hirnbiologen. Das ist doch gerade unser Ziel, dass wir den Menschen exakt und sicher mit unseren Messverfahren verstehen. Dass es für Spekulationen keinen Raum mehr gibt.

Die Freiheitserfahrung sei eine frühkindliche Illusion, denn unser Verhalten wird durch die sogenannte Autopoiese, die Selbsterschaffung des psychischen Systems, von einem sich selbst organisierenden Wettbewerb der neuronalen Erregungsmuster reguliert. Diese Autopoiese würde gleichzeitig den freien Willen töten.

Dabei scheint sich Wolf Singer selbst zu relativieren, wenn er schreibt: »Offen bleibt, nach welchen Kriterien unser Gehirn seine internen Zustände, in denen sich die Ergebnisse von Datenerfassung und logischen Schlüssen letztlich manifestiert, kohärent und stimmig beurteilt.« Also was jetzt?

Mag sein, dass unser Gehirn und unser Bewusstsein operational geschlossen sind. Ein Schnellkochtopf für Ideen und Sonstiges. Evolutionär bleibt es jedoch offen – ein Grundgesetz der adaptiven Evolution. Dafür kann mit gutem Gewissen die epigenetische Plastizität als Erklärungsmodell verwendet werden, die auch das Gehirn zu einem permanenten Zwiegespräch mit der Außenwelt öffnet. Natürlich in Grenzen, aber mit seiner anatomischen, epigenetischen Struktur.

Die Auffassung Singers, unser Gehirn wäre ein Paralleluniversum, das mit dem externen Universum nichts mehr zu tun hätte, ist evolutionsbiologisch schwer zu halten.

Der Geist, gegen den sich Singer wendet, ist die »immaterielle« geistige »Identität«, nicht eine materiell integrierte geistige Formung. Er verharrt dabei in einem Physikalismus, allerdings muss offen bleiben, ob nicht auch in unserem Gehirn Prozesse ablaufen, die nicht unbedingt der »Teilchen« bedürfen. Vor allem liegt dem Weltbild Singers eine abgelaufene Auffassung des Transzendenten zu Grunde: Er schlussfolgert offenbar, dass der »Geist« jenes Rückzugsgebiet ist, das gottgläubige Menschen als Beweis des Göttlichen brauchen.

Dem ist nicht so. Der Mensch könnte auch mit einem auf Materie fußenden Geist geschaffen sein, ohne dass es das Konzept eines Weltenbaumeisters berührte. Er aber bedient sich einer im Stoff begrenzten Geistigkeit.

Neuronale Vorgänge lassen sich klassifizieren. In solche, die grundsätzlich zum Bewusstsein keinen Zugang haben, und in solche, die uns bewusst sind. Offenbar beurteilen wir eine Entscheidung als frei, wenn sie auf der bewussten Abwägung von Variablen gründet, also auf der rationalen Verhandlung von bewusstseinsfähigen Inhalten. Selbst wenn dieser Entscheidungsvorgang auf vorgegebenen neuronalen Prozessen beruht.

Singer steht der epigenetischen Freiheit offen gegenüber. Obwohl er sie nicht zur Freiheit erhebt. Denn unterschiedlich ist nach ihm die Herkunft der Variablen und die Art ihrer Verhandlung: genetische Faktoren, frühe Prägungen, soziale Lernvorgänge und aktuelle Auslöser, zu denen auch Wünsche und Emotionen zählen, wirken stets untrennbar zusammen und legen das Ergebnis fest, gleich, ob sich Entscheidungen in eher unbewusste oder bewusste Motive verkleiden.

Genetische Dispositionen können Fehlschaltungen bedingt haben, die das Speichern oder Abrufen sozialer Regeln erschweren. Oder soziale Regeln werden nicht rechtzeitig und tief genug eingeprägt. Oder es wurden von der Norm abweichende Regeln erlernt. Oder die Fähigkeit zu rationaler Abwägung wurde wegen fehlgeleiteter Prägung ungenügend ausdifferenziert.

In der Argumentation gegen den freien Willen scheint die Genetik stärker bemüht zu werden als die Epigenetik. Diese Einsicht führt zu einer humaneren, weniger diskriminierenden Beurteilung von Mitmenschen, die das Pech hatten, einem Zufall ausgeliefert gewesen zu sein, dessen funktionelle Architektur ihnen kein angepasstes Verhalten erlaubt. Menschen mit problematischen Verhaltensmustern als schlecht oder böse abzuurteilen, bedeutet nichts anderes, als das Ergebnis einer schicksalhaften Entwicklung des Organs, das unser Wesen ausmacht, zu bewerten. Auch nicht die feine englische Art.

Baupläne der Schöpfung

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