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1 Die Vermessung der Transzendenz
ОглавлениеDer große Pan ist tot. So steht es geschrieben. Der griechische Schriftsteller Plutarch, an sich ein umtriebiges Kerlchen, war weniger an historischen Details oder religiösen Spitzfindigkeiten interessiert, vielmehr ging es ihm um Charakterstudien und grundlegende Moralvorstellungen. Plutarch unternahm viele Reisen, die ihn nach Kleinasien und Ägypten führten; mehrmals besuchte er Rom. Er lebte zu einer Zeit, als das Römische Reich am Höhepunkt war, und lief Nero über den Weg; es muss so um 66 nach Christus gewesen sein. Uns hinterließ Plutarch eine merkwürdige Geschichte, sie liest sich so:
Eines Abends, als sie schon auf der Höhe der Echinaden-Inseln waren, sei der Wind eingeschlafen und das Schiff sei treibend in die Nähe der Paxos-Insel gelangt. Die meisten seien noch wach, einige nach beendigtem Mahl beim Trinken gewesen. Plötzlich habe man von der Paxos-Insel her eine Stimme gehört, die laut »Thamus!« rief, so daß man sich verwunderte. Thamus war aber ein Ägypter und Steuermann des Schiffes, doch nicht vielen der Fahrgäste mit Namen bekannt. Beim ersten und zweiten Anruf habe er geschwiegen, beim dritten Mal aber dem Rufer geantwortet. Dieser habe nun seine Stimme noch mehr erhoben und gerufen: »Wenn du auf die Höhe von Palodes kommst, dann melde, daß der große Pan tot ist!«
Als sie das gehört hätten, so erzählte Epitherses, seien sie alle sehr erschrocken und hätten sich darüber unterhalten, ob es besser sei, den Auftrag auszuführen, oder sich nicht darum zu kümmern, sondern es auf sich beruhen zu lassen, und Thamus habe sich dahin entschieden, wenn Wind wäre, stillschweigend vorbeizufahren, wenn aber Windstille und glatte See in dieser Gegend wäre, das Gehörte auszurichten.
Als sie auf der Höhe von Palodes angelangt waren und weder Wind noch Wellengang war, habe Thamus, vom Heck nach dem Land hin blickend, gerufen, wie ihm gesagt worden war: »Der große Pan ist tot!« Kaum aber habe er diese Worte geendigt, so habe sich, nicht von einer, sondern von vielen Stimmen, ein lautes Wehklagen, vermischt mit Ausdrücken der Verwunderung, erhoben. Da nun viele Menschen dabeigewesen seien, so habe sich die Geschichte schnell in Rom herumgesprochen, und Thamus sei vom Kaiser Tiberius zur Audienz befohlen worden.
Pan ist der Gott der Natur und des Waldes. Er, Sohn des Hermes, trägt einen gekrümmten Hirtenstab bei sich, dazu eine siebenröhrige Flöte, die Panflöte. Pan hat Ziegenfüße. Trotzdem lässt er sich die Freude an der Musik und auch am Tanz nicht nehmen. Er umgibt sich mit Nymphen, heute würde man sagen Groupies. Ja, er ist ein Gott der Gaudi, leutselig im Umgang und friedlich von der Gesinnung. Nur um die Mittagszeit, da will er seine heilige Ruh. Stört man Pan beim Mittagsschlaf, scheucht er alle Herdentiere in der Umgebung auf und jagt sie zum Teufel, die Stampede rennt und rennt und rennt davon. Daher kommt übrigens der Ausdruck Panik.
Und dann schrieb Plutarch Düsteres: Der große Pan ist tot. Was ihn zum ersten und einzigen Gott macht, der in irdischen Zeiten starb. Oder totgesagt wurde. Da hat sich in der Erzählung sogar Kaiser Tiberius geschreckt und wollte wissen, was los ist.
Um das zu rekapitulieren: Der Mensch wird sich eines Gottes bewusst, berichtet von ihm, huldigt ihm. Und lässt ihn dann über die Klinge springen. Der große Pan ist tot, und das ist schrecklich. Sagt die Erzählung. Sagt die Moralvorstellung.
Zweitausend Jahre später hat sich das Blatt gewendet. Der große Pan ist tot, und das ist gut so. Sagt die Wissenschaft. Sagt die aufgeklärte Welt. Niemand braucht einen Glauben, der nicht beweisbar ist, die Naturwissenschaften am allerwenigsten. Der große Pan ist nicht belegbar. Es gibt keine Formel, die ihn beschreibt, kein Reagenzglas, das ihn untersucht, keine DNA, die seine Herkunft bestimmt. Die Wissenschaft geht in ihrer apodiktischen Denke einen Schritt weiter. Der große Pan ist nicht nur tot, es hat ihn nie gegeben. So will man es geltend machen. Die Vermessung der Transzendenz ist ein Hobby für Tölpel. Und jeder, der sich anschickt, zu diesem Thema Gedanken zu formulieren, und auch noch so dummdreist ist, sie auszusprechen, dem werden die Stimmbänder mit dem Skalpell des Hochmuts durchtrennt. Als Arzt weiß ich, wovon ich spreche. Als gläubiger Mensch sowieso.
Dabei wäre es nur recht und billig, die überdimensionale Frage des Seins zu stellen:
Hat die Welt einen Architekten?
Ich behaupte, ja.
Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land.
Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.
Die Genesis, eine Science-Fiction-Story? Steht man vor den Kathedralen Europas, in denen jahrhundertelang Menschen den Kontakt zum Transzendenten suchten, und hört man darin, was große Musiker zu Gottes Ehren komponierten, so ergreifend, dass die gotischen Säulen des Kircheninnenraumes mitzuschwingen versuchen, dann hat das eine Wirkung, die tief unter die Haut geht und direkt in die Seele. Bestaunt man klassische Bilder in den großen Galerien der Welt, die nur verständlich werden, wenn man das Christentum kennt, dann hat es einen tieferen Sinn, alles weiterzudenken. Transzendenz ist der Schlüssel zu neuer Erfahrung, vielleicht sogar zu allem.
Zwei Jahrtausende haben christliche Denker um Antworten auf die großen Fragen der Menschheit gerungen. Was ist Schuld? Gibt es eine Vergebung? Wie verteilen sich die Rechte des Einzelnen gegenüber jenen des Staates? Was ist der Sinn des Lebens, und warum gibt es das Böse in der Welt?
Die Antworten schwammig bis gar nicht zu vermitteln, ist einer der Gründe, warum die Kirche in der Krise steckt und den weltanschaulichen Amtsträgern das Vokabular fehlt. Vor allem das moderne Vokabular, mit denen alte Geschichten, etwa die aus der Bibel, neu interpretiert werden könnten.
Stattdessen reißen die Verfechter der Gottlosigkeit die Brücken zur Transzendenz ab, und zwar mit einer Leichtigkeit und Nonchalance, als würde man sich endlich längst veralteter Gesinnungen entledigen. Oder eine alte Socke wegwerfen. Die Abkehr vom Glauben fällt in jenen Erdteilen leicht, die sich trotz globaler Armut zu Genusstempeln umstrukturieren und deswegen dem Diesseits treu bleiben müssen. Ich denke, also bin ich – vermögend. Materiell wirkt schnell. Um das auch intellektuell rechtfertigen zu können, beginnen die Reichen und Satten, die Wissenschaft zu vergöttern. Sie bestätigt ihnen, dass der große Pan wirklich tot ist. Jawoll. Es braucht keinen Gott, wenn etwas anderes Anbetungswürdiges da ist. Reichtum. Eine Schatztruhe, auf der Freiheit steht. Als könnte man sich das Glück kaufen. Paradoxerweise hat diese Apotheose, diese götzenhafte Verherrlichung der mechanistischen Aufklärung, schon Nietzsche beklagt. Wissenschaft ist das, was Wissen schafft. Mit der Weisung zwischen den Zeilen: In einem wachen Geist hat der Glaube keinen Platz. Glauben sollen die Nicht-Intellektuellen. Die Armen und die simplen Gemüter.
Und so reduziert sich heute bei vielen Menschen das Grundwissen über christliche Offenbarung und Tradition im besten Fall auf einige Geschichten, die man noch aus der Volksschulzeit kennt. Ein Phänomen, das nicht nur die Theologie, sondern auch andere Wissensgebiete betrifft, man möge nur gelegentlich im österreichischem Hörfunk über jene Antworten meditieren, die der sogenannte Mikromann, ein lustiger Reporter, auf seine Fragen bekommt.
Rund um Weihnachten ging er durch die Straßen und fragte wahllos Passanten:
Wie heißt der Sohn von Maria und Josef?
Eine ältere Dame wusste sofort: Lukas!
Eine andere war sich nicht ganz sicher: Johannes?
Der Mikromann hakte nach: Die Eltern von Jesus sind Maria und Josef. Wie heißt dann der Sohn von Maria und Josef?
Und wieder kam: Lukas!
Für den Hörer ist die Crux mit dem Jesukindlein komisch, für die Kirche zutiefst traurig. Obwohl das Christentum die reflektorisch intensivste Religionsmacht der Welt ist, unterliegt sie dennoch einer kommunikativen Schwäche. Aufklärung passiert nicht. Heute würde man sagen: Die Basis kennt die Basics nicht. Kreuzweg, Tod und Auferstehung sind, wenn sie nicht gerade von Hollywood aufgegriffen werden, etwas, das die Menschen kennen oder zu kennen glauben. Der Rest ist Nebensache. Medien erklären, was es mit dem Eiersuchen zu Ostern auf sich hat, wieso Halloween heuer besonders gruselig wird oder warum Kim Kardashian eine durchsichtige Bluse am Strand trägt und dem Fotografen ihr phänomenales Gesäß in die Linse hält. Mein Gott, die Bibel sollen die Leute selber lesen oder in die Kirche gehen. Die Kirche allerdings, so meine ich, könnte sich ein bisschen mehr aufs Marketing konzentrieren und ihr Image aufpolieren. Glauben ist cool, ja warum denn nicht? Stattdessen geht man den anderen Weg. Den eigenen Canossagang. Aus der Versuchung heraus, ihren Exilgedanken – das Zentrum der Botschaft – in Sozialarbeit, Solidarität und Caritas umzukodieren, um ja nicht ironisiert zu werden. Aber Church ist nicht gleich Charity. Mildtätigkeit für die Medien bringt nur kurzen Applaus.
Manche christliche Kirchen haben sich immer mehr zu einem Funktionärsverband mit spiritueller Ausrichtung entwickelt, mit festen Sitzen in Kommissionen und Rundfunkräten. Funktioniert prächtig, bringt den Gläubigen null, aber macht nichts. Was fehlt, ist ein eigenes, aus dem Glauben geschweißtes Bekenntnis, das durchaus provokant sein darf. Ein Leitsatz, der vielleicht sogar mahnt und zum Denken anregt, etwas in der Art:
Wir können uns auf diesem Planeten nicht einrichten wie in einem ewigen Haus.
Wenn jemand im Wald einen Baum umarmt, um sich mit dem Transzendenten zu vereinen, finden das viele mannhaft. Manager schmusen mit Fichten, recht so, lass es raus. Besucht man dagegen sonntags die Kirche, muss man es möglicherweise verschweigen, um sich nicht einem Augenverdreher auszusetzen. Du gehst in die Kirche? Da schau her!
Dabei wird oft mit zweierlei Maß gemessen: Während die Toleranzgesellschaft buddhistische und islamische Glaubensinhalte kommentarlos oder wohlwollend zur Kenntnis nimmt, gibt man christliche Werte mühelos der Lächerlichkeit preis – und das noch unter der vermeintlichen Assistenz der Naturwissenschaft.
Den großen Pan wird das nicht kratzen.