Читать книгу Big Ideas. Das Mathematik-Buch - John Farndon - Страница 35
ОглавлениеZAHLEN KÖNNEN WENIGER ALS NICHTS SEIN
NEGATIVE ZAHLEN
IM KONTEXT
SCHLÜSSELZIVILISATION
Altes China (um 1700 v. Chr. – 600 n. Chr.)
TEILGEBIET
Zahlensysteme
FRÜHER
um 1000 v. Chr. In China verwendet man erstmals Bambusstäbe zur Darstellung von Zahlen, darunter auch negative Zahlen.
SPÄTER
628 n. Chr. Der indische Mathematiker Brahmagupta stellt Regeln zum Rechnen mit negativen Zahlen auf.
1631 In Artis Analyticae Praxis, das 10 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wird, akzeptiert der Brite Thomas Harriot negative Zahlen in algebraischen Darstellungen.
Während das Konzept negativer Größen in der Praxis schon im Altertum, besonders in China, verwendet wurde, wurden negative Zahlen in der Mathematik erst sehr viel später zugelassen. Denker der griechischen Antike und viele spätere europäische Mathematiker hielten negative Zahlen – und die Vorstellung, dass etwas weniger als nichts ist – für absurd. Erst im 17. Jahrhundert begannen europäische Mathematiker, negative Zahlen völlig anzunehmen.
Chinesische Stabzahlen
Das Konzept negativer Zahlen scheint erstmals bei der Buchhaltung im Handel aufgetaucht zu sein: Der Verkäufer erhält Geld (positiver Wert) für die Ware, und der Käufer gibt dieses Geld aus, hat also ein Defizit (negativer Wert). Für geschäftliche Berechnungen verwendete man im alten China kleine Bambusstäbe, die man auf einem Brett auslegte. Positive und negative Zahlen wurden durch Stäbe verschiedener Farbe repräsentiert und man konnte sie addieren. Der Militärstratege Sunzi (Sun Tzu) stellte damit um 500 v. Chr. Berechnungen vor Schlachten an.
Im chinesischen Stabzahlensystem sind positive Zahlen rot und negative Zahlen schwarz. Um die Ziffern dieses Stellenwertsystems möglichst klar darzustellen, verwendete man horizontale und vertikale Formen abwechselnd: So wurde etwa die Zahl 752 mit einer vertikalen 7, dann einer horizontalen 5, gefolgt von einer vertikalen 2 geschrieben. Ein Leerraum stellte die Null dar.
Um 150 v. Chr. hatte sich daraus ein System mit abwechselnd horizontalen und vertikalen Stäben in Gruppen von bis zu fünf entwickelt. In der Sui-Dynastie (581–618 n. Chr.) verwendete man auch Stäbe mit dreieckigem Querschnitt für positive Zahlen und rechteckigem für negative. Die Systeme wurden im Handel und für Steuerberechnungen verwendet: Eingenommenes Geld registrierte man mit roten Stäben und Schulden mit schwarzen. Wurden gleiche Zahlen verschiedener Farbe addiert, hoben sie sich auf, so wie Einkommen Schulden auslöschen. Die polarisierende Natur positiver und negativer Zahlen (roter und schwarzer Stäbe) war im Einklang mit der chinesischen Vorstellung von komplementären Kräften – Yin und Yang –, die das Universum beherrschten.
Wechselnder Erfolg
Im Lauf einiger Jahrhunderte, beginnend um 200 v. Chr., schrieben chinesische Gelehrte ein Buch namens Jiu Zhang Suanshu (»Neun Kapitel der Rechenkunst«, siehe Kasten). In diesem Werk, der Essenz des damaligen mathematischen Wissens, kommen Algorithmen vor, die annehmen, dass negative Zahlen existieren – etwa bei Gewinn- und Verlustrechnungen. Dagegen basierte die Mathematik des alten Griechenlands auf der Geometrie und den Verhältnissen geometrischer Objekte. Da diese Größen – tatsächliche Längen, Flächen oder Volumen – nur positiv sein konnten, ergab das Konzept negativer Zahlen für griechische Mathematiker keinen Sinn.
Temperaturskalen in Grad Celsius zeigen negative Zahlen an, wenn etwas – wie diese Schneeflocke – kälter als 0° C, der Gefrierpunkt von Wasser, ist.
Multipliziert man zwei negative Zahlen, erhält man eine positive Zahl. Deshalb haben alle positiven Zahlen zwei Quadratwurzeln (eine positive und eine negative), aber negative Zahlen haben keine reellen Quadratwurzeln – denn das Quadrat von positiven und negativen Zahlen ist stets positiv.
Zur Zeit von Diophantos, um 250 n. Chr., wurden Probleme durch lineare und quadratische Gleichungen gelöst, aber die Unbekannten wurden immer noch geometrisch – also durch Streckenlängen – dargestellt. Daher galt die Vorstellung negativer Lösungen immer noch als Absurdität.
Ein wichtiger Fortschritt kam etwa 400 Jahre später aus Indien mit den Arbeiten des Mathematikers Brahmagupta (um 598–668 n. Chr.). Er legte Rechenregeln für negative Größen fest und verwendete sogar ein Symbol zur Markierung negativer Zahlen. Wie die Chinesen sah Brahmagupta Zahlen ähnlich wie Finanzwerte als »Vermögen« (positiv) oder »Schulden« (negativ), und er stellte u. a. die folgenden Multiplikationsregeln auf:
Das Produkt zweier Vermögen ist ein Vermögen. Das Produkt zweier Schuldbeträge ist ein Vermögen. Das Produkt eines Vermögens und einer Schuld ist eine Schuld.
Es ergibt praktisch keinen Sinn, das Produkt von zwei Münzstapeln zu berechnen, ebenso wenig wie man Äpfel multiplizieren kann – man kann nur Zahlenwerte, keine Objekte multiplizieren. Brahmagupta stellte also Berechnungen mit positiven und negativen Zahlenwerten an. Er verwendete die Konzepte »Vermögen« und »Schulden«, um zu verstehen, was die negativen Zahlen eigentlich sind. Der persische Mathematiker und Dichter al-Chwarizmi (um 780–850 n. Chr.), dessen Arbeiten über Algebra spätere europäische Mathematiker stark beeinflussten, war mit den Rechenregeln Brahmaguptas vertraut und er verstand negative Zahlen im Zusammenhang mit Schulden. Aber in der Algebra hielt er sie für sinnlos. Stattdessen verwendete al-Chwarizmi geometrische Methoden zur Lösung linearer und quadratischer Gleichungen.
Akzeptanz des Negativen
Das ganze Mittelalter hindurch waren sich europäische Mathematiker über negative Werte als Zahlen unsicher. Dies war noch 1545 der Fall, als der italienische Universalgelehrte Gerolamo Cardano in Artis Magna, sive de Regulis Algebraicis (»Große Kunst, oder über die algebraischen Regeln«) die Lösung linearer, quadratischer und kubischer Gleichungen erklärte. Er konnte negative Lösungen nicht ausschließen und verwendete sogar das Symbol »m« zur Markierung negativer Zahlen, aber er nannte sie auch »fiktiv«. René Descartes (1596–1650) berechnete ebenfalls negative Werte als Lösung für Gleichungen, sah sie aber als »falsche Lösungen« statt echter.
»Negative Zahlen zeigen eine Widersprüchlichkeit und Absurdität.«
Augustus De Morgan Britischer Mathematiker
Der englische Mathematiker John Wallis (1616–1703) gab negativen Zahlen Bedeutung, indem er den Zahlenstrahl links der Null zu einer Zahlengeraden erweiterte. Negative Zahlen als Punkte auf einer Linie zu sehen, half schließlich, sie als gleichberechtigt zu den positiven anzuerkennen. Ende des 19. Jahrhunderts waren sie in der Mathematik separat von geometrischen Größen formal definiert worden. Heute sind negative Zahlen in vielen Bereichen selbstverständlich, von Finanzen über Temperaturskalen bis zur Ladung von Elementarteilchen. Jeder Zweifel an ihrem mathematischen Status ist längst beseitigt.
Anleger wollen 1857 überstürzt von der Seamen’s Savings Bank in New York ihr Geld abheben. Es kam zur Panik, weil US-Banken Kredite (negative Größen) über viele Millionen Dollar gaben, ohne sie durch genügend Reserven (positive Größen) zu decken.
Mathematik im alten China
Jiu Zhang Suanshu (»Neun Kapitel der Rechenkunst«) zeigt die im alten China bekannten mathematischen Verfahren. Es ist eine Sammlung von 246 praktischen Aufgaben mit Lösungen.
Die ersten fünf Kapitel beschäftigen sich vor allem mit Geometrie (Flächen, Längen und Volumen) und Arithmetik (Brüche sowie Quadrat- und Kubikwurzeln). Kapitel sechs behandelt Steuern und enthält die Konzepte direkter und indirekter Proportionalität und Dreisätze, die in Europa erst etwa im 16. Jahrhundert erschienen. Kapitel sieben und acht behandeln Lösungen linearer Gleichungen, darunter das Regula-falsi-Verfahren, das »falsche« Ansätze als Startpunkt für die schrittweise Annäherung der Lösung nutzt. Das letzte Kapitel zeigt Anwendungen der Gougu-Regel (die dem Satz von Pythagoras entspricht) und die Lösung quadratischer Gleichungen.