Читать книгу Das Limit bin nur ich - Jonas Deichmann - Страница 6
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Minus 28 Grad. Ich sitze auf dem Gravelbike und versuche, die Pedale in einem gleichmäßigen Rhythmus zu bewegen. »Runder Tritt« nennt man das normalerweise, davon kann hier jedoch keine Rede sein. Längst hat sich das Eis in alle Winkel der Mechanik gesetzt, es knirscht bei jeder Umdrehung. Der Atem gefriert mir noch auf den Lippen und hängt in bizarren Kristallen in meinem Bart. Meine großflächige Skibrille ist vollständig beschlagen. Schweiß sammelt sich im Futter der dicken Funktionsjacke, nur um mich im nächsten Augenblick umso stärker auszukühlen. Ich weiß, Schwitzen bei solchen Temperaturen ist lebensgefährlich. Bereits seit Stunden kämpfe ich gegen dieses Dilemma an: Nicht aufhören zu treten, aber auch nicht schwitzen. Es ist eine Gratwanderung zwischen zu viel und zu wenig Anstrengung, die mir alles abverlangt.
Aber heute habe ich nichts zu verlieren. Noch nicht. Wenn ich nachher vom Rad steige und die schwere Stahltür in der Wand neben mir aufstoße, werde ich in einen sommerlichen Tag hinaustreten. Über 50 Grad Unterschied, nur wenige Meter entfernt. Ich befinde mich in der Klimakammer der Deutschen Bahn in Minden, und es ist Mitte Juli. In dem 75 Meter langen Container werden normalerweise Prototypen neuer Züge bei arktischen Bedingungen getestet. Heute bin ich selbst der Prototyp. In wenigen Wochen werde ich zu meiner bislang größten Herausforderung aufbrechen: dem »Triathlon 360 Degree«, einem Dreikampf aus Schwimmen, Radfahren und Laufen, der mich um die ganze Welt führen wird. 120 Ironman-Distanzen werde ich zurücklegen, was insgesamt 27 000 Kilometern entspricht, davon 21 000 Kilometer auf dem Rad, und wiederum viele Tausend von ihnen in Sibirien und im Hochgebirge. In den Wintermonaten kann es dort bis zu minus 40 Grad kalt werden. Und da ich nicht unvorbereitet auf einer Eisstraße in der arktischen Tundra erfrieren will, verbringe ich diesen Tag gemeinsam mit dem Filmemacher Markus Weinberg am derzeit kältesten Ort Deutschlands. Es dürfte für jeden vernünftigen Radsportler der schlimmste Platz sein, einen Rollentrainer aufzustellen, und mein Renner, liebevoll von mir Esposa getauft, wird seit dem frühen Morgen unbarmherzig geprüft. Aber wir gewinnen wertvolle Erkenntnisse: Der handelsübliche Schmierstoff, den ich seit Jahren verwende, ist hier vollkommen nutzlos. Die Kette springt und die Schaltung hakt gewaltig. Und um einen platten Reifen von der Felge zu bekommen, muss ich fast das Carbonlaufrad aufbrechen. Ich werde Esposa also gehörig aufrüsten müssen, um in Sibirien nicht vor ernsthafte Probleme gestellt zu werden.
Und dies alles betrifft nur mein Rad. Wie wird es mir selbst bei solchen Bedingungen ergehen, körperlich und mental? Jetzt kann ich es allenfalls erahnen, und bereits dieser kurze Ausblick nötigt mir gehörigen Respekt ab.
Dabei fühle ich mich gut vorbereitet. Gerade habe ich meine Generalprobe gefinisht, einen 33-tägigen Triathlon um ganz Deutschland. Ich bin 60 Kilometer durch den Bodensee geschwommen, mit einem orangeroten Floß im Schlepptau und allem, was ich zum Leben brauchte: Wechselkleidung, Schlafsack, Nahrung. Nach vier Tagen, einem schmerzhaften Sonnenbrand im Nacken und zahllosen aufgescheuerten Wunden habe ich den Neoprenanzug gegen das Rennrad eingetauscht und bin am Rhein entlang nach Norden gefahren, Richtung Friesland, dann gen polnische Grenze, habe endlose Tage im Dauerregen verbracht, verzweifelt in coronabedingt geschlossenen Dörfern nach Essen Ausschau gehalten und die quälenden Anstiege durchs Erzgebirge hinter mir gelassen. Am Tag 18, nach fast 3000 Radkilometern, durfte ich schließlich in die Laufschuhe wechseln. Von da ab ging es zu Fuß durch Bayern in Richtung Königssee und schließlich über Füssen zurück nach Lindau. Ich habe Höhen und Tiefen erlebt und viel über mich selbst und mein Vorhaben gelernt – vor allem, dass es ungleich gewaltiger und unberechenbarer als alles sein wird, was ich bislang unternommen habe. 16 Ironman-Distanzen habe ich geschafft, im heimeligen Deutschland mit seiner perfekten Infrastruktur, aber schaffe ich auch 120, die mich durch drei Kontinente führen werden?
Ich wische mir mit den Winterhandschuhen das Eis aus dem Bart und bin von den Bedingungen, die mich da erwarten, durchaus beeindruckt. Das verspricht eine riesige Herausforderung zu werden, die mir alles abverlangen wird. Bis ich wirklich dafür bereit bin, liegt noch viel Arbeit vor mir. Dies ist sicher das größte Abenteuer, auf das ich mich je eingelassen habe. Im Moment allerdings habe ich nur eines zu tun: zu treten und zu treten, nicht auszukühlen und nicht zu schwitzen. Alles andere wird sich schon sehr bald zeigen. Wenn es losgeht im September, werde ich erfahren, was ich wirklich draufhabe.
Auf die eine oder andere Weise.