Читать книгу Das Limit bin nur ich - Jonas Deichmann - Страница 7
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Über die Alpen
Mit dem Fahrrad ein Katzensprung
Entspannt an den Start zu kommen, scheint mir fast immer der schwierigste Teil einer Challenge zu sein. In den letzten Tagen, bevor es losgeht, ist der Stressfaktor am höchsten. Selbst am Morgen des Aufbruchs muss ich nach einer sowieso sehr kurzen Nacht noch zu meinem Ausstatter, um einen neuen Schlafsack und ein paar andere Sachen abzuholen. Aber jetzt, am Samstag, den 26. September 2020, stehe ich mittags auf dem Odeonsplatz in München und bin abfahrbereit.
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Pünktlich zum Startschuss ist das zuvor lange sommerlich schöne Wetter umgeschlagen. Doch trotz klammen zehn Grad und strömendem Regen sind 70 bis 80 Leute gekommen, die den Anfang meiner Weltumrundung miterleben möchten. Dazu haben sich 30 weitere Radfahrer eingefunden, um mich am Anfang ein Stück zu begleiten. RTL ist da für ein Interview und natürlich die Filmcrew, die eine Dokumentation über die Reise drehen wird. Noch ein paar Fragen beantwortet, dann rollen wir los. In etwa einem Jahr möchte ich wieder genau hierher zurückkommen. Die letzten Monate schwirrten tausend Dinge in meinem Kopf, Aufregung und Vorfreude, doch jetzt, da es endlich losgeht, hat all das keine Bedeutung mehr. Es ist nur noch dieses eine großartige Kribbeln in mir – das Gefühl von Freiheit.
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Schnee in den Bergen
Raus aus München geht’s auf meiner alten Trainingsstrecke durch den Perlacher Forst. Auf dem Weg Richtung Süden bleiben nach und nach die Begleit-Radler zurück; am Abend sind nur noch mein Bruder Siddy und der Filmemacher Markus Weinberg bei mir. Die erste Routenänderung haben wir da schon vornehmen müssen.
Mein Plan war eigentlich, durch Tirol und über die Großglockner Hochalpenstraße zu fahren – Bergpässe liebe ich, und die Großglocknerstraße wäre ein echtes Juwel: Der Anstieg, lang und anspruchsvoll, ist kaum spürbar angesichts der majestätischen Schönheit der umliegenden Gipfel – nur ist der Pass soeben wegen Schneefalls gesperrt worden. Der Schlechtwettereinbruch wirkt sich aus. Und das Virus setzt noch eins drauf: Wenige Stunden zuvor wurde Tirol zum Covid-Risikogebiet erklärt. Ein Transit ist zwar möglich, aber wer länger als zwölf Stunden bleibt, muss bei der Wiedereinreise nach Deutschland in Quarantäne. Keine Option für meinen Bruder und Markus, die ja nur ein Stück weit mitfahren wollen. Deshalb geht es heute via Bayrischzell und die Tatzelwurmstraße – mit ihren endlosen Kehren ein klassischer Trainingspass für alle auf zwei Rädern – nur bis Nussdorf am Inn, noch auf deutscher Seite, wo wir übernachten. Siddy verabschiedet sich am nächsten Morgen nach München zurück, während Markus und ich die neue Route austüfteln. Kaum unterwegs und schon beginnt das Improvisieren – das kann ja heiter werden.
Apropos heiter: Der Sonntag beginnt vielversprechend sonnig. Frösteln muss ich dennoch, als ich etwas steif von der Nacht aufs Rad steige. Es sind gerade einmal drei Grad plus. Jetzt geht es durch den Pongau nach Radstatt und über die Katschbergstraße hinauf auf den Tauernpass (1738 m), also ein gutes Stück weiter östlich als geplant. Die Straße ist frei, aber daneben liegt hüfthoch Schnee, es wird saukalt. Wir fahren deshalb in der Nacht noch auf die Südseite ab und finden einen Schlafplatz. Allerdings nicht in einem kuscheligen Bett, sondern im Freien hinter einem Tennisplatz. Biwakieren ist angesagt: Schlafsack mit Inlay als Kälteschutz, darüber eine wasserfeste Plane, die liebevoll als Biwaksack bezeichnet wird. Das muss für heute reichen.
Der nächste Tag gibt mir gleich mal einen Vorgeschmack, was mich im russischen Winter erwarten könnte. Dauerregen im Tal, Schneefall in den Bergen. Wir kämpfen uns bei zehn Zentimetern Neuschnee über die fast 1800 m hohe Turracherhöhe, die uns runter nach Kärnten bringt. Hier klettert das Thermometer endlich wieder in Plusgrade. Doch lange währt die Freude darüber nicht: Der Loiblpass hinüber nach Slowenien fordert uns mit 15–16 % steilen Rampen – der Regen läuft unter der Radbrille in die Augen, die Oberschenkel brennen.
Ich hab’ Sie doch grad im Fernsehen g’sehn
Da kommt eine Unterbrechung nicht ganz ungelegen: An der Grenze zwischen Österreich und Slowenien wird kontrolliert, und tatsächlich, als wir uns nähern, springt ein österreichischer Beamter aus seinem Häuschen und hält mich an. Meinen Pass will er allerdings gar nicht sehen. Er weiß ja schon, wer ich bin: Vielleicht eine halbe Stunde zuvor lief ein Bericht über mich im Fernsehen, und da hat er mich sofort erkannt. Er ist neugierig und will ein bisschen quatschen, aber weil es noch immer in Strömen regnet, eisen wir uns nach kurzer Zeit wieder los. Dennoch, eine willkommene Pause. Das Wetter ist inzwischen so mies, dass wir uns für die Nacht ein Hotel suchen. Das zieht sich. Zwei aufgeweichte Radfahrer irren ziellos durch Dörfer mit geschlossenen Läden und dunklen Fenstern. Erst gegen 22 Uhr werden wir fündig. »Tut mir leid, die Küche hat schon zu.« Wir versuchen, der leichten Verzweiflung, die sich breitmacht, nicht die Oberhand zu lassen. Und da wir offenbar so ausgehungert aussehen, wie wir uns fühlen, macht der Wirt eine Ausnahme. Er klappert eine halbe Stunde in der Küche herum und serviert uns schließlich eine Pizza.
Über Nacht sind unsere Kleider getrocknet, und auch das Wetter hat sich wieder gebessert. Wir durchqueren flott Sloweniens Hauptstadt Ljubljana und kommen bereits am Abend an der kroatischen Grenze an. Gerade mal einen Dreivierteltag haben wir durch das kleine Slowenien gebraucht. Eigentlich viel zu kurz für so ein schönes, landschaftlich und kulturell hoch spannendes Land.
Wildwechsel
Kroatien begrüßt uns mit kleinen, einsamen Straßen. Wir haben Glück, dass wir noch ein Restaurant finden, wo wir uns den Bauch mit Ćevapčići vollschlagen können, denn danach gibt es über Stunden erst mal keine Gelegenheit mehr, an Nahrung zu kommen. Corona-Maßnahmen sind hier kaum spürbar. Keine Kontrollen, keine Schilder. Einzig beim Einkaufen tragen wir Masken. Unsere Route führt durch den Nationalpark Risnjak, in den wir direkt nach dem Grenzübergang bei Čabar gelangen. Über 60 km2 beeindruckende Karstlandschaft inmitten des Gebirges.
Wir sehen leider nicht so viel davon, denn es ist bereits dunkel. Plötzlich erkenne ich, wie etwas Großes direkt vor mir auf die Straße tritt. Schrecksekunde, Vollbremsung! Ein Hirsch, der nur drei oder vier Meter entfernt zusammen mit einem Jungtier auftaucht. Bei dem Tempo, das wir draufhatten, hätte das eine böse Kollision gegeben. Immerhin: Es ist »nur« ein Hirsch. Es gibt hier nämlich auch Bären, und da wäre die Kollision nur eins von vielen Problemen gewesen.
Auch an diesem Abend müssen wir lange nach einem Platz zum Schlafen suchen. Einfach in die Wildnis legen möchten wir uns nicht, Bären, wie gesagt, zudem ist es neblig und feucht, auch wenn es im Moment nicht regnet. Der Schlafsack würde trotz Biwaksack sofort nass. Und es dürfte auch nicht viel bringen, jetzt im Dunkeln zu versuchen, das neue Zelt zum ersten Mal aufzubauen. Also fahren wir weiter, bis wir irgendwann in Lokve ankommen, einer kleinen Ortschaft, noch im Hochland, die im Sommer vom Tourismus lebt. Hier finden wir in einer Bushaltestelle einen notdürftig überdachten Unterschlupf. Schön ruhig, denn der erste Bus fährt erst um zehn Uhr morgens.
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Am Mittelmeer
Um diese Zeit kurbeln wir schon längst wieder durch die kalte Berglandschaft. Schlagartig wird es angenehm sonnig und warm. Wir spüren es regelrecht, dass wir uns dem Mittelmeer nähern. Die Landschaft wird deutlich mediterran. Nach dem letzten 800-Meter-Pass geht es in Serpentinen runter an die Adria, die wir bei Senj erreichen. Die verbleibenden 65 Kilometer an der herrlichen Küstenstraße bis Karlobag sind der reine Genuss. Wir rollen über trockenen Asphalt dahin wie über eine Landebahn. Dass die Tourismussaison vorbei ist, ist unübersehbar, und Corona hat ein Übriges getan: Kein Verkehr, keine Menschen auf den Straßen. Kein einziges Boot im Wasser. Alles ist wie ausgestorben.