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Sozialistisch in der Form, national im InhaltSozialismussozialistisch in der Form, national im Inhalt?1

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Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Begriff OstalgieIroniein der Ostalgie nur selten von denen benutzt wird, die an dem, was man als Nostalgie-Industrie bezeichnen kann, direkt beteiligt sind. So geriet z. B. der Eigentümer des Geschäfts Ostpaket »in Rage«, als ein Journalist das Wort verwendete, und konterte: »Wenn jemand im Westen wie eh und je seine Niveacreme nutzt, dann nennt man ihn doch auch nicht Westalgiker.«2 Ein verärgerter Besucher eines Online-Forums über OstprodukteDeutsche Demokratische Republik (DDR)Produkte klagte 2010: »Ostalgie ist ein Wessi-Konzept zur Diffamierung von Menschen, denen ihr Recht auf Heimat aus arroganten, ignoranten, bornierten, konsumkorrupten, sozial verrohten und politischen Gründen missgönnt wird.«3 Der Laden Ost-Best preist sich selbst als »kultig nicht giftig« an. Die Spezialgeschäfte, die sich, wie man sagen könnte, im kommerziellen Herzen der Industrie befinden, sehen sich nicht als ostalgisch, sondern vielmehr im Dienst einer seriösen historischen Mission. In Gesprächen, gedruckten Interviews und ihren eigenen Materialien weisen diese Ladenbesitzer die Ostalgie immer wieder weit von sich und behaupten, den Leuten nur das zu geben, was sie wünschen, und, wie der Ostprodukte-Versand es formuliert, in liebevoller Erinnerung zu bewahren, »dass es zwar eine Mauer gegeben hat – aber daneben so viel Schönes im eigenen Land«.4

Ähnlich wie die Museen, mit denen wir uns im nächsten Kapitel befassen, erfüllen diese kommerziellen Unternehmer nach eigenem Selbstverständnis die sehr wichtige gesellschaftliche Funktion, die Geschichte an die nächste Generation weiterzugeben. Daher finden sich auf den Websites dieser Spezialgeschäfte mit Fotos versehene historische Passagen, Informationen über die DDR-Währung oder offizielle Abkürzungen, Texte zur Nationalhymne der DDR ebenso wie Quiz-Wettbewerbe, redaktionelle Beiträge und Links zu DDR-Websites. Ostpaket, dessen Eigentümer so barsch auf das Wort »Ostalgie« reagierte, hat ein eigenes Minimuseum gegründet, genannt »Ostzeit«, das »die Erinnerung an 40 Jahre Leben und Arbeiten in der DDR bewahren« möchte.5 Deshalb bittet der Laden seine Kunden, ihm Gegenstände samt den zugehörigen Geschichten zur Verfügung zu stellen, etwa in der Art: »Auf meinem Plattenspieler lief die Schallplatte von AMIGA, bei der ich meinen ersten Kuss bekommen habe!«

Dass der Laden sich selbst die Rolle eines inoffziellen Historikers zugewiesen hat, kann nicht nur als Reaktion auf eine Generationenverschiebung in der historischen Erfahrung interpretiert werden, sondern auch als Reaktion auf eine Veränderung der Trickster-QualitätOstprodukteTrickster-Qualität von OstproduktenDeutsche Demokratische Republik (DDR)Produkte, insofern als diese zunehmend als regionale ProdukteOstprodukteWandel von nostalgischen zu regionalen Produkten vermarktet werden und eine neue Form der Legitimität erhalten. Dies gilt insbesondere für Lebensmittel (z. B. Schokolade, Bier, Senf) und Haushaltswaren. Sie folgen speziellen Marketing-Strategien, die regionale Identitäten schaffen sollen (davon ausgenommen sind Alkoholmarken, die zu den wenigen landesweit geschätzten Produkten gehören).6 In den Regalen der nationalen Discount-Kette Penny Markt z. B., die fast 600 ostdeutsche Niederlassungen unterhält, sind 30 % der Artikel Ostprodukte, die mit dem SloganSlogans »Östlich ist köstlich« gekennzeichnet sind.7

Viele dieser Artikel kann man auf Verkaufsmessen für OstprodukteOstprodukteMessen finden, die drei- bis viermal im Jahr überall in der ehemaligen DDR veranstaltet werden. Im Gegensatz zu anderen FachausstellungenMuseenAusstellungen scheinen sie sich weniger an Großhändler und mehr an Einzelhandelskunden zu wenden und dienen der Vermarktung von Gütern aus der früheren DDR. Die Eintrittspreise für das allgemeine Publikum sind niedrig – 2 Euro bei der Messe, die ich an einem grauen nasskalten Aprilmorgen 2013 in Berlin besuchte. Vor dem Velodrom schlängelte sich eine lange Menschenreihe, und von Würstchenständen stieg Rauch in die kalte Luft. Meine Nachbarin in der Schlange, eine ältere Frau aus dem ehemaligen Ostberlin, fand den Eintrittspreis nicht in Ordnung: »Herrje«, rief sie, »es ist so teuer geworden.« Bei den wenigen Ständen, die Neuheiten verkauften, war die Ostalgie unübersehbar: Im Imbissbereich diente eine DDR-Fahne als Tischtuch, und ein Verkäufer von Küchenutensilien aus Plastik war als DDR-Polizist gekleidet (»Manche Leute sind verärgert«, erzählte er mir, »aber meistens lächeln sie.«). Dennoch wirkte es eher so, als würde mithilfe der Ostalgie zu erkennen gegeben, was die verschiedenen regionalen ProdukteOstprodukteWandel von nostalgischen zu regionalen Produkten – Honig und Marmelade, Ledertaschen und Liegestühle, Leinöl, organische Seife, Baumkuchen und vieles andere mehr – verbindetOstalgieund regionale Produkte.


Verkaufsmesse für OstprodukteOstprodukteMessen. Ein als »Volkspolizist« gekleideter Verkäufer auf der Ostpro. Berlin 2013.

Gemäß einem nationalen Trend, lokale Produkte zu kaufen, vermitteln Markennamen aus der DDR-ZeitOstprodukteMarkenDeutsche Demokratische Republik (DDR)Produkte mit Erfolg den Eindruck, der lahmenden lokalen Wirtschaft zu helfen, weshalb diese Produkte von den Verbrauchern, wie von diesen häufig angegeben, auch gekauft werden.8 Daher werden manche Artikel so umgestaltet, dass sie sogar noch heimatlicher erscheinen, als sie es in Wahrheit sind. Ein Beispiel dafür ist der Senf aus Bautzen (auch die Stadt berüchtigter Gefängnisse), der in der DDR als Bautzener Senf bekannt war und der nach dem Verkauf an einen bayrischen Konzern in »Bautz’ner Senf« umdeklariert wurde, wobei der Apostroph ein familiäres folkloristisches Image suggeriert.

Durch eine neue Betonung der Vorkriegswurzeln zahlreicher ProdukteMarken(namen)Betonung wird deren Verbindung mit der DDR vorsichtig gelöst, so wie bei den Spreewald-Gurken, die durch den Film Good-bye Lenin! Good-bye LeninBerühmtheit erlangten und fast immer mit der DDR identifiziert werden, aber, wie sich herausstellt, bereits am Ende des 19. Jahrhunderts in den Schriften Theodor FontanesFontane, Theodor empfohlen worden waren. Selbst wenn ein Produkt aus der DDR stammte, wie z. B. die Haselnusscreme Nudossi, die ab dem Jahr 1970 in der Nähe von Dresden produziert wurde, behaupteten manche ihrer Fürsprecher, dass man sie bereits in der Weimarer Republik geschätzt habe und sie somit älter sei als die »billige Zuckerpampe« Nutella. Dies veranlasste einen verärgerten Ostler zu der Feststellung, dass Westdeutsche nicht nur »kein Bewusstsein für Qualität« hätten, sondern dass es ebenso absurd sei, Nudossi wegen seiner östlichen Herkunft zu verdammen, wie Goethe und Schiller zu kritisieren, »weil sie die meiste Zeit in ›Ostdeutschland‹ verbracht haben«.9 Eine Werbung für Sternquell-Bier kombinierte beide Aspekte, indem sie zur Feier von dessen 150. Geburtstag auf die Vergangenheit und die Ostalgie zurückgriff: Sie zeigte ein Spielzeugauto und den SloganSlogans »Jugendträume in der DDR. Wo du deine ›erste Liebe‹ wiederfindest«.


Werbung für Sternquell-Bier zur Feier seines 150. Geburtstags. Berlin 2013.

Im Zuge ihrer zunehmenden Kommerzialisierung erfahren die DDR-Erzeugnisse eine immer stärkere Zweiteilung, weniger in Ost und West als in regionale Artikel und KitschprodukteOstprodukteWandel von nostalgischen zu regionalen ProduktenKitschObjekte; zwischen denen, die ernsthaft bestrebt sind, die DDR-Vergangenheit wieder in die deutsche Geschichte zu integrieren (indem sie z. B. Spreewald-Gurken mit FontaneFontane, Theodor oder Nudossi mit Goethe in Verbindung bringen), und denen, die das Recht geltend machen, mithilfe des Humors ehemals heilige Embleme und Slogans im Umlauf zu halten. In einer Umkehr des alten sowjetischen SlogansSlogans, dass es den Ländern freistehen solle, »im Inhalt sozialistische, in der Form nationale«Sozialismussozialistisch in der Form, national im Inhalt ProdukteDeutsche Demokratische Republik (DDR)Produkte zu entwickeln, sind die meistverkauften Ostprodukte in zunehmendem Maße national im Inhalt und (oberflächlich) sozialistisch in ihrer Vermarktungsform.

In ihrer Analyse der Nostalgie im postsozialistischenPostsozialismus Ungarn und Russland führen Olga ShevchenkoShevchenko, Olga und Maya NadkarniNadkarni, Maya deren Macht auf die Fähigkeit von Politikern zurück, aus nostalgischen Inhalten politisches Kapital zu schlagen.10 Im Fall DeutschlandsBundesrepublik Deutschland (BRD) ist das Ostalgie-Phänomen zweifellos weniger direkt mit parteipolitischen Machenschaften verbunden, schon gar nicht bei den Nachfolgeparteien der früheren Kommunisten. In Deutschland fungiert die Nostalgie vielmehr als eine populärkulturelle Form der Übermittlung kulturellen Wissens. Der Kommerzialisierung fällt dabei, wie in diesem Kapitel dargelegt, eine Schlüsselrolle zuKommerzialisierungNostalgie und K., indem sie repräsentative Artikel aus einer vergangenen Epoche, meist Alltagsgegenstände, als wertvoll (im wörtlichen wie im übertragenen Sinn) markiert und es ihnen ermöglicht, mithilfe des Marktes im Umlauf zu bleiben oder wieder in Umlauf zu kommen. Sie verleiht ihnen sowohl Legitimität als auch Prekarität, was eine zusätzliche symbolische Investition erfordert, um sie am Leben zu erhalten und ihre Profitabilität sicherzustellen. Wenn ich verstehen möchte, wie Alltagsgegenstände durch neue Formen der Bewertung zu Nostalgie-Objekten werden, behaupte ich weder, dass die Kommerzialisierung auf irgendeine Weise ein Gut an sich ist, noch treffe ich eine Aussage über den relativen Wert oder die Substanz des kulturellen Wissens, das durch die Nostalgie-Objekte vermittelt wirdObjekteWert von O. (z. B., ob die Repräsentationen historisch korrekt sind). Der exemplarische Fall der Ostalgie zeigt vielmehr, dass in Übergangszeiten Nostalgie-Produkte als ein semiotisch mehrdeutiges Repertoire fungieren können und zugleich das Alte und das Neue zum Ziel haben.

Aufgrund der Kommerzialisierung und neuer Formen des Repräsentationswertes wird die OstalgieOstalgieund Kommerzialisierung inzwischen, wenn auch zähneknirschend, als fester Bestandteil in der größeren Landschaft der deutschen ErinnerungspolitikErinnerung/GedächtnisErinnerungspolitik anerkanntKommerzialisierungNostalgie und K.; sie ist akzeptiert, wenn auch nicht zwangsläufig akzeptabel. Diese Anerkennung manifestiert sich sehr oft darin, dass die Deutschen (jeder ideologischen Richtung) den Begriff selbst bestenfalls als unzureichend und schlimmstenfalls als schädlich ablehnen, wenn es darum geht, der gelebten Erfahrung in der DDR gerecht zu werden. Doch die weite Verbreitung von DDR-Konsumartikeln in den Geschäften, kombiniert mit einer starken Nostalgie-Industrie in Form von Touristenattraktionen, bindet die Ostalgie in dieser objektivierten Form in die deutsche Verbraucher- und Touristentopographie ein. In diesem Sinne können wir die Ostalgie vielleicht als gesellschaftliches FaktumOstalgieals gesellschaftliches Faktum bezeichnen. Mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Berliner MauerBerliner MauerFall der B. M. macht daher das Berliner Tourismusbüro Werbung für das DDR-Museum, wo »es in der Küche noch genauso riecht wie damals«, sowie für die Trabi-Safari, bei der man sich an das Steuer des KultautosMarken(namen)Kultstatus aus vergangenen Zeiten setzen kann. Die alten ostdeutschen AmpelmännchenAmpelmännchen der Fußgängersignale sind überall im Westen zu finden und bilden die Basis für die internationale Marke einer Ladenkette von Berlin bis Tokio. Die japanische Ampelmann-Website präsentiert sie als »Symbol für Verkehrssicherheit, deutsche Einheit und Wiederauferstehung« und verkauft ihr Bild auf allen möglichen Produkten von Lampen bis zu Nudeln.11 »Ostprodukte«-Läden wie Ostpaket erwirtschaften respektable Ergebnisse in mittlerer sechsstelliger Höhe und haben über 700 Artikel im Angebot. Touristen haben die Möglichkeit, im Berliner DDR-Hotel Ostel zu übernachten und sich das erfolgreiche Musical Hinterm Horizont, eine Ost-West-Liebesgeschichte, anzuschauen, während zielstrebigere Besucher im DDR-Museum der Gemeinde TutowMuseum Tutow die DDR-Geburtstage feiern können, mit Tanz und Soljanka-Suppe, die in waschechten Mitropa-Suppentassen serviert wird.

Doch auch wenn die Ostalgie gesellschaftlich stärker akzeptiert wird, wird sie wahrscheinlich niemals gesellschaftlich ganz akzeptabel sein noch je ihre negativen KonnotationenOstalgienegative Konnotationen – sie gilt als trivialisierend, geschmacklos, kitschig – verlieren. In DeutschlandBundesrepublik Deutschland (BRD), wo die nationale IdentitätIdentitätdeutsche I. auf dem »Willen, sich zu erinnern«Erinnerung/GedächtnisStaat als Hüter der nationalen E.NationErinnerung und nationale Identität gegründetVergangenheitsbewältigungIdentität und V. ist, fungiert die Ostalgie als frecher Einspruch gegen die »Anordnung, sich zu erinnern«.12 Indem sie nach Art einer TrickbetrügerinOstalgieals Trickster sich mal harmlos, mal ironisch präsentiertOstalgieals ironisch, untergräbt sie subtil die erlösende Funktion des kollektiven Gedächtnisses als nationalem Projektkollektive Erinnerung / kollektives Gedächtnissymbolischer Gehalt unter der Führung professioneller Historiker und staatlicher Kommissionen. Wie Gil EyalEyal, Gil schreibt, ist in Deutschland das kollektive Gedächtnis als Identitätsgarant und Wundenheiler von zentraler Bedeutung für den Staat und seine Institutionen.13 Die Ostalgie nimmt diesem Projekt die Symbole, sie stichelt gegen etablierte Identitäten und kratzt an den Wunden. Die Nostalgie ermöglicht es eher Firmen und Konsumenten als den Interpreten und Hütern von Kultur und Geschichte, sich den symbolischen Inhalt des kollektiven Gedächtnisseskollektive Erinnerung / kollektives Gedächtnissymbolischer Gehalt wieder anzueignen. Sie bewahrt die Vergangenheit, um Marilyn IvysIvy, Marilyn Formulierung zu übernehmen, »vor dem VerschwindenVergangenheitvor dem Verschwinden bewahrtVerschwindender Vergangenheit; sie ist stabil, aber gefährdet (und somit offen für kommerzialisierbare Wünsche)«.14 Indem sie auf diese Weise versucht, ihre eigene Vergangenheit zu überwinden und zugleich festzuhalten, macht uns die Nostalgie ein schlechtes Gewissen, auch wenn wir die Gewissensbisse genießen.

Die Spuren der DDR

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