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Kommunismus-Sammlungen

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Das Alltagsleben, jene enttäuschend schlichte Ansammlung banaler Vertrautheiten, ist ein schwieriges Gebiet, wenn es um die VergangenheitsbewältigungVergangenheitsbewältigungAlltagsleben und V. geht. Im letzten Kapitel haben wir untersucht, wie das Phänomen der Ostalgie durch die kommerzialisierte AneignungAneignungKommerzialisierung von anscheinend harmlosen KonsumgüternObjekteKonsumgüter des Alltagslebens befördert wird, die neben ehemals heilige Symbole des Regimes gestellt werden und mit ihnen verschmelzen. Die scharfe Kritik an der OstalgieOstalgieVorwürfe – angefangen mit Aufrufen, Symbole aus der DDR-ZeitDeutsche Demokratische Republik (DDR)Symbole zu verbieten, bis hin zu einer weitverbreiteten Verachtung und Herablassung – verweist auf ein tieferes Dilemma, das in jedem Herrschaftssystem mit der unvermeidlichen Komplizenschaft des AlltagslebensKomplizenschaftAlltag und K. verbunden ist. Der Alltag ist, ob im KolonialismusKolonialismus, Sozialismus oder in der modernen Konsumkultur, mit ideologischen und ökonomischen Netzen untrennbar verwoben, was für die betroffenen Menschen indes kaum erkennbar ist. Wie W. E. B. Du BoisDu Bois, W. E. B. schrieb, kann »eine untadelige, schöne, gebildete junge Frau in einem Londoner Vorort das Fundament für die Armut und die Zerstörung der Welt sein«. Das Alltagsleben dieser Frau beruht, wie er behauptet, auf einer tiefen KomplizenschaftKomplizenschaftAlltag und K. mit Strukturen, derer sie sich nur vage bewusst ist. »Dafür«, schreibt er, »ist jemand extrem schuldig. Wer?«1

Du Bois kritisierte die neokolonialistische kapitalistische Welt, weil sie eine verlockende Trennung zwischen dem Privaten und Politischen vornahm, welche die »untadelige« Frau in London zum Grund für die Armut im Ausland werden ließ. Die DDR gründete auf einer antikolonialistischen RhetorikDeutsche Demokratische Republik (DDR)antikolonialistische Rhetorik, die genau die Arten der Komplizenschaft auflösen sollte, die Du BoisDu Bois, W. E. B. verurteilte. Wenn der Kapitalismus seine Ideologie mystifizierteKapitalismusMystifizierung, so war der Sozialismus, indem er den Unterschied zwischen dem Privaten und Politischen beseitigte, bestrebt, die Ideologie nirgends zu kaschierenSozialismusIdeologie. Dementsprechend hoffte er voller Optimismus, dass dadurch, dass das Alltagsleben nun wieder als explizit politisch galt, die kapitalistische Entfremdung sich in der Logik und Ethik des Kollektivs auflösen würde.

Das hatte natürlich große Auswirkungen auf die AlltagsobjekteAlltagslebenAuswirkungen auf Alltagsobjekte, die im Sozialismus nicht mehr Objekte individueller Initiative oder Tauschobjekte, sondern vielmehr ideologisch höchst relevant waren. »Konsum bedeutet nicht, dass man etwas braucht und bekommt«, erklärte Günter MittagMittag, Günter, der frühere Wirtschaftsminister der DDR, »sondern es ist der ProzessKonsumProzess, durch den sich die sozialistische Persönlichkeit herausbildet.«2 Der StaatssozialismusSozialismusStaatssozialismus setzte sich beharrlich dafür ein, den Alltag von dem seiner Ansicht nach falschen Bewusstsein des WarenfetischismusWarenfetischismus zu befreien. In diesem Zusammenhang führten chronische Produktionsprobleme bekanntlich zu, wie Vladislav Todorov es pointiert formulierte, »einem Defizit an Gütern, aber einer Überproduktion an symbolischer Bedeutung«. Diese Kombination, so schreibt er, brachte »äußerst effektive ästhetische und äußerst ineffektive ökonomische Strukturen« hervor.3 Das führte u. a. dazu, dass die Bedeutung des Alltagslebens im SozialismusAlltagslebenim Sozialismus anders dekliniert wurde als in westlichen kapitalistischen Gesellschaften.

Im Westen bezeichnet man im allgemeinen Sprachgebrauch mit »Alltag« eine von Routine und Gewohnheit geprägte Privatsphäre; man denkt an Familie, Einkäufe und alltägliche Aufgaben, die durch eine Kombination aus freier Wahl und Zwang gekennzeichnet sind. Genau diese Kombination macht den Alltag zu einer Stätte ideologischer Intervention (Zwang) und AutonomieAutonomie (freie Wahl). Dementsprechend gilt in der westlichen Kulturanalyse, die sich vor allem auf kontinentaleuropäische Theoretiker stützt, der Alltag sowohl als Ort für die hinterhältigen Machenschaften des Kapitalismus auf der Ebene des gesellschaftlichen Unbewussten (Reproduktion) als auch als Raum des WiderstandsRaumdes Widerstands oder, um Michel de CerteausCerteau, Michel de Begriff zu verwenden, der sekundären ProduktionOstprodukteals sekundäre ProduktionAlltagslebensekundäre Produktion des A.sekundäre Produktion, bei der Objekte und Bilder durch die Nutzer, die nicht ihre Hersteller sind, eine neue Bedeutung erlangen.4 Somit wird der Alltag in der westlichen kritischen Theorie zu einer privilegierten Stätte des Widerstands und Handelns in der kapitalistischen Modernekapitalistische Moderne.

Im Sozialismus jedoch lässt sich der AlltagAlltagslebenim Sozialismus weniger leicht als potentiell erlösender Raum des WiderstandsWiderstandAlltag als Form des W.Raumdes Widerstands gegen die IdeologieSozialismusIdeologie verstehen. Natürlich hatte der Alltag subversive und oppositionelle Funktionen. Verschiedene Aktionsformen, die als Widerstand aufgefasst werden können, vom Rückzug in apolitische RäumeApolitische Räumeals WertekategorieRaumapolitischer R. wie die Datscha bis hin zur Verfeinerung mehrdeutiger humoristischer Taktiken wie Stiob, Stiobsind dafür ein deutlicher Beweis.5 Auf ähnliche Weise war der Alltag im Westen ein zentraler Ort für die Verstärkung oder Überschreitung der GrenzenGrenzenÜberschreitung von G. zwischen dem Privaten und Öffentlichen. Im Osten aber war gerade die Beseitigung des privaten Raums ein Staatsziel und die Alltagskultur von politischer Bedeutung durchtränkt. Während im Westen das Alltagsleben als Mystifikation erscheint, bei der die diffuse Marktideologie das tägliche Leben auf subtile Weise durchdringt, bestand im sozialistischen Block der AlltagAlltagslebenim Sozialismus für die Bürger darin, Wege zu finden, um den Herrschaftsanspruch des Staates zu unterminieren, meist ohne auf sich selbst aufmerksam zu machen.

Der offen politisierte und ideologische Kontext des sozialistischen Alltags konfrontiert jede nachträgliche Beurteilung der DDR sofort mit den krassen Widersprüchen einer Gesellschaft, in der das Alltagsleben die DiktaturDiktaturund Alltag gleichzeitig konsolidierte, umschiffte und untergrub. 2005/2006 untersuchte die sog. Sabrow-ExpertenkommissionSabrow-Kommission, die Arbeit eines früheren Parlamentsausschusses vertiefend, den offiziellen Stand der Erinnerung an die DDRErinnerung/Gedächtnisan die DDR und stellte fest, dass bei den Versuchen, die DDR zu verstehen und zu erklären, das Alltagsleben stark vernachlässigt wurde, insbesondere die Entwicklung von Loyalität und WiderstandWiderstandAlltag als Form des W..6 Dieser Mangel war bei den Kulturinstitutionen, die sich mit der DDR befassten, besonders eklatant. So erklärte der Historiker Martin SabrowSabrow, Martin, der Leiter der nach ihm benannten Kommission: »Der Alltag (ist) kein Gegenbegriff zu Herrschaft, sondern ihre komplementäre Rückseite.« Damit erinnerte er an das Werk des Historikers Alf LüdtkeLüdtke, Alf über das Dritte Reich und kritisierte diejenigen, die diese ergänzende Funktion in schlechter historischer Gesellschaft verleugnen sollten.7

Wie die Sabrow-KommissionSabrow-Kommission belegte, wurde der Alltag in den meisten MuseumsausstellungenMuseenAusstellungen und historischen Dialogen umgangen, und bei der Aufarbeitung der sozialistischen Vergangenheit war er kein Teil des Standardprogramms.8 Eben wegen der unvermeidlichen Komplizenschaft, die den Gewohnheiten und dem Habitus des AlltagslebensKomplizenschaftAlltag und K. im SozialismusAlltagslebenim Sozialismus innewohnte, war seine Darstellung eine heikle Sache, wurde häufig voreilig gleichgesetzt mit einer Rechtfertigung des sozialistischen Regimes und in den beiden ersten Jahrzehnten nach der Vereinigung vom historischen Mainstream im Großen und Ganzen vermieden. Allerdings würde das Ignorieren der gelebten Erfahrung von 16 Millionen ehemaligen DDR-Bürgern dem Verständnis der jüngeren Vergangenheit kaum gerecht werden. »Wenn man den Alltag als Erfahrungsbereich behandelt, der sich der Präsentation oder Reflexion verschließt«, warnt Ben HighmoreHighmore, Ben, »verurteilt man ihn zum Schweigen.«9 Dieses Kapitel befasst sich damit, wie der sozialistische AlltagAlltagslebenim Sozialismus für eine Präsentation – um Highmores Begriff zu verwenden – erschlossen wurde. Es wirft einen Blick auf von Amateuren betriebene, privat finanzierte MuseenMuseenAmateurmuseen über den Alltag im SozialismusAlltagslebenim Sozialismus, die gegründet wurden, um die staatlich geförderten Darstellungen der DDR in professionellen historischen MuseenMuseenstaatlich unterstützt zu ergänzen und herauszufordernAneignungin Museen. Es richtet den Fokus auch auf die in Kapitel 1 behandelten Alltagsobjekte und zeigt, wie die sozialistische materielle KulturSammelnmaterielle Kultur und Massenproduktion sich vom unerwünschten ÜberschussÜberschussunerwünschter Ü. in Museumsartefakte verwandeltematerielle KulturDarstellung der Vergangenheit und dabei normale Menschen mit politischen und wissenschaftlichen Debatten darüber in Kontakt brachte, wie an das Leben im sozialistischen Regime »auf die richtige Weise« erinnert werden sollte.

Das Kapitel zeichnet nach, wie sich aus einer buntgemischten Gruppe von Sammlern eine Museumslandschaft entwickelte. Die hier untersuchten privaten Museen werden zwar wegen ihrer Amateurhaftigkeit und Nostalgie allgemein kritisiert, doch sie fungieren auch als eine Art AntipolitikAntipolitikMuseen als Form der A. in einer Zeit, in der viele Bürger der Ex-DDR sich der raschen Dominanz westlicher politischer Institutionen und Medien gegenüber machtlos fühlten. Ich zeige, dass die haptischen, interaktiven und informellen Präsentationsweisen in den MuseenMuseeninteraktives Erleben eine Form der AneignungAneignungin Museen darstellen und daher den wichtigen Anspruch auf Authentizität erheben könnenAuthentizitätvon Museen. Diese Qualität, so meine Behauptung, ermöglicht es diesen privaten Museen, eine aktive Rolle zu übernehmen, wenn es darum geht, anhand der materiellen KulturAlltagslebenmaterielle Kultur den sozialistischen AlltagAlltagslebenim Sozialismusmaterielle KulturDarstellung des sozialistischen Alltags darzustellen. Auf diese Weise bilden sie eine bemerkenswert frühe Phase in dem größeren kontinuierlichen Prozess, bei dem der Alltag bei der AufarbeitungAufarbeitung (der Vergangenheit)Alltagsleben und A.Aufarbeitung (der Vergangenheit)private Museen als Teil der A. der Vergangenheit verspätet, aber immer stärker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt ist.

Die Spuren der DDR

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