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»Der Geschmack bleibt«

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In einem Industriegebiet nahe der früheren Grenze tauchte im Oktober 1998 auf einem grasbewachsenen leeren Grundstück ein flaches Gebäude auf, dessen Wände merkwürdig gebogen waren und über dessen Tür ein großes rotes M zu sehen war. Das sonderbar modernistische fragile Gebäude war eine der letzten erhaltenen »Raumerweiterungshallen«Raumerweiterungshallen des früheren Ostdeutschlands, ein mobiler Container aus Aluminium und Hartfaserplatten, der an nur einem Tag aufgestellt und auf einem Anhänger transportiert werden konnte. Einst zu Tausenden produziert und in der sozialistischen Landschaft allgegenwärtig, stand dieses vereinzelte Exemplar jetzt in zeitlichem und räumlichem Kontrast zu den massiven, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Fabrikgebäuden im Hintergrund. Fünf Jahre zuvor beherbergten diese eindrucksvollen Bauten noch das ostdeutsche Lampenkombinat Narva. Jetzt erlebten sie die Transformation von einem »Age of Industry Exteriors« zu einem »Age of Information Interiors and Amenities«, wie es die Bauentwicklungsgesellschaft des Fabrikgeländes auf ihrer englischen Website formulierte.1

Diese »Raumerweiterungshallen«, die weder in das Industrie- noch in das Informationszeitalter ganz genau passten, hatten einst der Mitropa gehört – ein von »Mitteleuropa« abgeleitetes grässliches Akronym und Name der Speisewagengesellschaft der Deutschen ReichsbahnDeutsche Reichsbahn (eine sogar noch anachronistischere Bezeichnung), der zurechtgestutzten sozialistischen Eisenbahngesellschaft. Nach der Vereinigung im Jahr 1990 übernahm die westdeutsche Bundesbahn das ostdeutsche Unternehmen. Die Kosten für die Verschrottung dieser jetzt nutzlosen Gebäude beliefen sich auf Tausende von Dollars; Elke Matz, eine Westberliner Graphikdesignerin, die Mitropa-Artefakte sammelt, kaufte zwei dieser RaumerweiterungshallenRaumerweiterungshallen zum symbolischen Preis von einer Deutschen Mark und eröffnete in ihnen einen mit einer AusstellungMuseenAusstellungen verbundenen Laden namens IntershopIntershop 2000.


Intershop 2000 in Berlin. Der Intershop 2000 (rechts) befindet sich neben einer anderen früheren »Raumerweiterungshalle«Raumerweiterungshallen der Mitropa. Der Laden steht auf dem Gelände des früheren DDR-Lampenkombinats Narva in einem Industriegebiet des beliebten Berliner Bezirks Friedrichshain. 2012.

Der ursprüngliche Intershop war eine Kette von staatlichen Einzelhandelsgeschäften, die von der DDR zur Einnahme harter Devisen gegründet worden war. Es war eine Art zollfreier Laden für westliche Zeitreisende, die die Welt des Ostens besuchten, und ein Honeypot, der wertvolle harte Devisen ansaugte, die als Geschenke der westlichen Verwandten ihren Weg in die Taschen der Ostdeutschen fanden. Zur Zeit des Sozialismus führten diese Geschäfte seltene Konsum- und Luxusgüter wie Schokolade, Elektronikartikel und Parfum. Sie erinnerten ständig nicht nur an die erheblichen Mängel der DDR-Wirtschaft, sondern auch an das Missverhältnis zwischen dem sozialistischen Ideal und den Devisenbeschaffungsmaßnahmen des Staates.

Intershop 2000, dessen damals (im Jahr 1998) futuristischer Name den zehnten Jahrestag der Wiedervereinigung ankündigte, präsentierte alte DDR-ProdukteDeutsche Demokratische Republik (DDR)Produkte, die in den meisten Fällen jetzt fast ebenso selten waren wie früher die westlichen Güter.2 Anfangs war Intershop 2000 als eine Ausstellung gedacht, welche die materielle KulturSammelnmaterielle Kultur und Massenproduktion einer rasch versinkenden ÄraSozialismusÄra des S.Verschwindeneiner Ära anhand kommerzieller Produkte und Alltagsgegenstände einfangen solltematerielle KulturDarstellung der VergangenheitVereinigungund materielle Kultur, doch die Besucher versuchten ständig, die zur Schau gestellten Produkte zu kaufen. Um die Nachfrage nach Waren zu befriedigen, die zu jener Zeit nur noch auf Flohmärkten oder in Großhandelslagern zu finden waren, teilten die zu Eigentümern gewordenen Kuratoren IntershopIntershop 2000 auf: in eine historische AusstellungMuseenAusstellungen und in eine Version seiner ursprünglichen Rolle als Einzelhandelsgeschäft. Die Besucher – angefangen mit älteren Bürgern, die vertraute Produkte suchten, bis hin zu hippen westlichen KitschsammlernSammlervon Kitsch – strömten herbei, um die Regale nach DDR-MarkenOstprodukteMarkenMarken(namen)s. auch Ostprodukte und Souvenirs zu durchforsten.

Der auf den Kopf gestellte Intershop löste einen Wirbel in den Medien aus und sprang auf die sozialistische Nostalgie-Welle auf, die in DeutschlandBundesrepublik Deutschland (BRD) als »Ostalgie« (ein von »Nostalgie« abgeleiteter Neologismus) bekannt istOstalgieWelle der O.. IntershopIntershop 2000 war Teil eines boomenden Phänomens in den späten 1990er Jahren, bevor der Film Good-bye Lenin Good-bye Lenindie Entwicklung von der Gegenkultur zum Mainstream anschob.3 1998 waren Nostalgie-Partys voll im Trend. Sie protzten mit »Visa« als EintrittskartenFälschungenVisa als Eintrittskarten, und Nostalgie-Kneipen schossen aus dem Boden, so wie das »Mauerblümchen« mit einer Berliner Mauer aus Pappmaschee, das »VEB Ostzone« (Volkseigener Betrieb Ostzone) mit seinem ungenießbaren Cocktail »Generalsekretär« oder »Die Tagung«, die ihre Gäste mit Porträts der früheren Parteichefs Walter UlbrichtUlbricht, Walter und Erich HoneckerHonecker, ErichPorträtHonecker, Erichs. Honeckers Architektur begrüßte. Während kurz nach der Vereinigung die Ostdeutschen bekanntlich alles verabscheuten, was im Osten produziert wurde (sogar Milch und Eier), und Waren aus dem Westen den Vorzug gaben, kam es zehn Jahre später zu einer gewissen Kehrtwende: »Ostprodukte«Deutsche Demokratische Republik (DDR)Produkte – Alltagsartikel aus der DDR, die noch oder wieder erhältlich waren, insbesondere Lebensmittel und Haushaltswaren, erlebten ein Comeback in Fachgeschäften mit Namen wie OstOase sowie in normalen Lebensmittelläden und im neu entstehenden Online-Markt im Internet.

Solch nostalgische Sujets trafen einen Nerv in den Medien und bei den Politikern, die das PhänomenNostalgieals Phänomen meist als unangebrachte oder naive Trivialisierung des gescheiterten sozialistischen Regimes und dessen repressiven Gewaltapparates geißelten. Ironische AneignungenAneignungironische A., die sich über das gescheiterte Regime offen lustig machten, waren gesellschaftlich durchaus akzeptiert, aber jede Äußerung, die als Sehnsucht nach der DDR interpretiert werden konnte, wurde rasch als wahnhaft und undankbar ins Lächerliche gezogen. Im öffentlichen Diskurs wurde »Ostalgie« trotz und wegen dieses Makels rasch zu einem Standardbegriff, der im allgemeinen Sprachgebrauch sowohl pejorativ als auch scherzhaft verwendet wurde. Mit Bezug auf die Gewohnheiten von Ostdeutschen bekräftigt »Ostalgie« tendenziell ein weit verbreitetes westliches Bild der Ostdeutschen als Leuten, die, verblendet und undankbar, sich pathetisch nach der sozialistischen Vergangenheit zurücksehnen. Wenn das Subjekt jedoch der bewusst ironische Westler (oder der »intellektuell anspruchsvolle« Ostler) ist, der an der Retro-Ausstrahlung des DDR-DesignsDesignder DDR-Zeit Gefallen findet, erscheint die Ostalgie als (p)ostmodernes Artefakt, das just wegen seiner fehlenden emotionalen Bindung an eine spezielle Vergangenheit geschätzt wird. So umfasst die Ostalgie gleichzeitig zwei Formen der Nostalgie, die den Unterschieden ähneln, die Marilyn IvyIvy, Marilyn in der Nostalgie in Japan wahrnimmt: eine »modernistische« Nostalgiemodernistische Nostalgieals Sehnsucht im früheren Ostdeutschland und eine »Stil-Nostalgie«Kommerzialisierungals Stil-NostalgieStil-Nostalgie hauptsächlich (aber nicht ausschließlich) im Westen.4


(N)Ostalgie-T-ShirtOstalgieT-Shirt. Radebeul 2009.

Dieses Kapitel untersucht die Produktion und den Konsum von OstproduktenDeutsche Demokratische Republik (DDR)Produkte als dem entscheidenden symbolischen OrtKonsumals Symbol, an dem sich diese beiden Typen der Nostalgie herauskristallisieren. Es zeigt, wie diese Formen der Nostalgie die Funktion der OstprodukteOstprodukteFunktion verändern, die von gering geachteten ephemeren Erscheinungen zu einer regionalen IndustrieOstprodukteWandel von nostalgischen zu regionalen Produkten und einem akzeptierten Teil der kulturellen Erinnerungslandschaftkulturelles Gedächtniskulturelle ErinnerungslandschaftErinnerung/GedächtnisErinnerungslandschaft des vereinten DeutschlandBundesrepublik Deutschland (BRD) werden. Der Anfang des Kapitels nimmt die Rolle der modernistischen Nostalgiemodernistische NostalgieRolle unter die Lupe, die in der früheren DDR in dem Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung aufkommt, wo der Konsum von Ostprodukten als eine Form der Produktion selbst erscheint – eine Wiederaneignung von Symbolen, die das »Eigentum« an einem symbolischen Kapital begründen, oder das, was Michel de CerteauCerteau, Michel de als »Manipulation durch Verbraucher, die nicht seine Hersteller sind« bezeichnet.5 In seiner modernistischen Ausrichtung fungiert die Nostalgie als Mechanismus für die psychologische und gesellschaftliche Verarbeitung der durch die Wiedervereinigung verursachten raschen kulturellen Veränderungenmodernistische NostalgieRolle. Anschließend befasst sich das Kapitel mit der Stil-NostalgieStil-Nostalgie, bei der Ostprodukte flottierende Signifikanten des »Neokitschs« darstellen, die den Konsum als oppositionelle Praxis untergrabenKommerzialisierungals Stil-Nostalgie, indem sie zugleich den Verbraucher in den Markt und die Güter in Marker des persönlichen ironischen Ausdrucks verwandeln. Aneignungironische A.OstprodukteHumor

Im Zuge der zunehmenden Institutionalisierung und KommerzialisierungKommerzialisierungNostalgie und K. der OstalgieOstalgieund KommerzialisierungOstalgieund Institutionalisierung in der größeren kulturellen Erinnerungslandschaftkulturelles Gedächtniskulturelle ErinnerungslandschaftErinnerung/GedächtnisErinnerungslandschaft Deutschlands ist es das Janus-Gesicht der Nostalgie, das diese zum Medium für die Übermittlung kulturellen Wissens werden lässt. Ich behaupte hier, dass die Nostalgie ein kollektives PhänomenNostalgieals Phänomen ist, eine Folge der Kommerzialisierung, die Alltagsgegenstände in nostalgische Objekte verwandelt und ihre Verbreitung und Rekombination mit aktuellen Debatten, Tropen und Symbolen ermöglicht. Die Untersuchung der Beziehung zwischen Materialität und NostalgieMaterialitätund Nostalgie hilft nicht nur den Ursprung der Ostalgie zu verstehenOstalgieMaterialität, Nostalgie und O., sondern auch, warum sie nicht mit der ersten Nachwende-Generation abflaute, sondern sich allem Anschein nach weiter verfestigte. Der Fall DeutschlandBundesrepublik Deutschland (BRD) hilft uns auch, in allgemeinerer Weise über die Funktion der Nostalgie als einer Form der kulturellen Übermittlung nachzudenken.

Die Spuren der DDR

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