Читать книгу Die Spuren der DDR - Jonathan Bach - Страница 12
Das Aufsammeln der Teile
ОглавлениеIn den ersten Jahren nach der Vereinigung entsorgten Bürger überall in der ehemaligen DDR ihre ProdukteDeutsche Demokratische Republik (DDR)Produkte, Haushaltsgeräte, Kleidungsstücke, Autos und Dokumente. Sie »konnten ihre Alltagsdinge nicht schnell genug loswerden«, bemerkte ein verblüffter Westler, als er durch eine Landschaft wanderte, in der die »Alltagskultur achtlos wie Ballast über Bord« geworfen worden war, »vom Brigadebuch über Parteiabzeichen bis zum Jugendweihe-Geschenk und vieles andere mehr«.1 Diese massive SäuberungsaktionVereinigungSäuberungsaktionen war die Folge eines kollektiven KonsumrauschsKonsumals Rausch, der mit der Währungsunion zwischen West- und Ostdeutschland im Februar 1990 einherging, als östliche Geschäfte buchstäblich über Nacht ihre Bestände gegen westliche Produkte austauschten. Monatelang wurden die Regale in einem halsbrecherischen Tempo immer wieder aufgefüllt, eine Reaktion auf die – für sozialistische MangelwirtschaftenWirtschaft/ÖkonomieMangelwirtschaft typischen – massiv aufgestauten VerbraucherwünscheVereinigungVerbraucherwünsche. Infolge dieses KonsumrauschsKonsumals Rausch bevorzugten die Verbraucher anfangs nicht nur westliche Produkte, wie im vorigen Kapitel ausführlich dargelegt, sondern voll funktionsfähige DDR-Alltagsobjekte wurden sofort kulturell obsoletkulturelle ObsoleszenzObjektekulturell obsolete O. und wanderten in den AbfallAbfallObjekte als A. oder auf den Dachboden. In jenem ersten Jahr nach der Vereinigung produzierten die ehemaligen Einwohner der DDR pro Kopf 1,2 Tonnen MüllMüllProduktion von M., dreimal mehr als im Westen.2 Alles Östliche schien plötzlich minderwertig. Artikel, die im Osten einst ein hohes Prestige genossen, waren plötzlich so gut wie wertlos. In einem Witz, der damals kursierte, hält ein Mann an einer Autobahn-Tankstelle und verlangt zwei Scheibenwischer für seinen Trabant. Der Tankwart antwortet: »Das finde ich einen fairen Tausch!«
Während das materielle Leben eines toten Nationalstaates in Müllcontainern, Dachkammern und Lagerräumen verschwand, begann eine buntgemischte Gruppe von Männern meist mittleren Alters, tief besorgt über den plötzlichen Wandel, auf Müllhalden, in verlassenen Gebäuden, bei Freunden und Nachbarn nach Überresten des Alltagslebens zu suchen und sie zu sammelnSammlerdes AlltagslebensMüllPhase des M.-Einsammelns. Dabei handelte es sich oft um einen bewussten verzweifelten Versuch, die Vergangenheit, die vor ihren Augen verschwand, festzuhalten. Sammler durchforsteten Flohmärkte, Geschäfte, Mülltonnen und Industriestandorte nach Verpackungsmaterialien, Urkunden, ParaphernalienSammlervon Paraphernalien der kommunistischen Partei, Postkarten, Soda-Flaschen, Haushaltsgeräten, Tassen und Untertassen, Möbeln, Plattenalben und Bedienungsanleitungen und leisteten ganze Arbeit, um den Alltag vor dem Verschwinden zu bewahren.
Die erste Phase des Nachlebens der sozialistischen Alltagsgegenstände ist untrennbar mit dieser MüllsucheMüllPhase des M.-Einsammelns verbunden, die die Sammelkultur ankurbelte. Das »Schlüsselerlebnis«, das Wolfgang MaxMax, Wolfgang zu einem privaten SammlerSammlerMax als S. werden ließ – er besitzt jetzt mehr als 2500 Objekte, angefangen mit Dutzenden von Kameras bis hin zu Hunderten von Uniformen –, war der Anruf eines Freundes, der ihm von einer in den Müll geworfenen Uniform erzählte.3 Ein Zeitungsfoto aus dem Jahr 1991 mit Büchern, die auf einer Mülldeponie in der Nähe von Leipzig vor sich hin rotteten, veranlasste den evangelischen Pfarrer Martin WeskottWeskott, Martin, letztlich 50 000 Bücher zu retten, da er befürchtete, dass »die Menschen eben in der Versuchung (waren), sozusagen über die Müllkippe auch ihre Biographie zu entsorgen«.4 Der eingefleischte Sammler Jürgen HartwigSammlerHartwig als S.Hartwig, Jürgen streckte seine Arme aus, ballte die Fäuste und führte mir vor, wie er im Jahr der Vereinigung, auf dem Weg zu und von seiner Nachtschicht in einer Glühbirnenfabrik, in den Straßen und Läden jede Menge DDR-»Kram« einsammelte, weil er sich ärgerte und wusste, dass das alles bald verschwinden würde.
Hartwig war ein früherer ostdeutscher Schlosser, der Weihnachten 1989 durch eine Erleuchtung seine Berufung fand, als er feststellte, dass die Vergangenheit – seine Vergangenheit, die sich hinter der Mauer erhalten hatte – dabei war zu verschwinden und dass er anfangen musste, ihre Relikte zu sammelnSammelnvon kommunistischen Relikten. Damals lebte er in Westberlin, nachdem er wegen eines Fluchtversuchs zwei Jahre in einem DDR-Gefängnis verbracht hatte und zwangsweise ausgewiesen worden war. Plötzlich war er hochmotiviert, die Überreste des Landes, das ihn ausgewiesen hatte, für die Nachwelt zu bewahren. Er wurde zum Mitbegründer und Vorsitzenden des Vereins zur Dokumentation der DDR-AlltagskulturVerein zur Dokumentation der DDR-Alltagskultur, der seit über 20 Jahren jeden Monat in dem früheren berühmten DDR-Café Sibylle eine Tauschbörse veranstaltet, bei der (meist) Männer an einem der hinteren Tische sitzen, Bier und Kaffee trinken und Postkarten, Münzen, Geschichten und Witze austauschen. Diese Sammelaktionen verliehen den Alltagsobjekten zwei miteinander kombinierte Werte, die den Müll in Nostalgie-ObjekteObjekteWert von O. zu verwandelnNostalgieWandel von Müll in Nostalgieobjekte begannen.
Der erste Wert, der dem Objekt durch das Sammeln zufiel, war der Fortbestand. Mit dem »Tod« der DDR verbreitete sich bei vielen Menschen das Gefühl, zu Fremden im eigenen Land oder permanent von einer Vergangenheit entfremdet zu werden, die ihre Identität definierteVergangenheitsbewältigungIdentität und V.. Die Sammler sehen in ihren Rettungsaktionen eine Möglichkeit, Zeit und RaumRaumZeit und R. zu ordnen und die plötzlich völlig chaotische Gegenwart neu zu organisieren. Ein Sammler erklärte den Rettungsrausch mit dem unwiderstehlichen ImpulsSammelnals Impuls, »zu horten und zu horten, weil die Zeit läuft […] Ich will erstmal […] alles brutal absammeln und unsystematisch horten«.5 In einem Umfeld, in dem viele Ostdeutsche glaubten, »Zum Abschied bleibt keine Zeit« (der Name der AusstellungMuseenAusstellungen eines Sammlers im Jahr 1995), wurden Objekte, wie Baudrillard schreibt, »zu dem, womit wir unsere Trauer gestalten« und damit symbolisch den Tod transzendieren.6 Bei der durch den »Tod« der DDR hervorgerufenen Trauer wurde das Sammeln zu einer Form des ÜberlebensSammelnals Form des Überlebens.7
Der zweite Wert war intersubjektivWertintersubjektiver W. – die Erkenntnis, dass ein anderer das eigene Objekt haben wollte. Sammler begannen zu verstehen, dass ihre eigene Vergangenheit im wahrsten Sinn des Wortes einen Preis erzielen konnte, und lernten es, ihr SelbstwertgefühlSelbstSelbstwertgefühl im Tanz um den monetären WertObjektemonetärer Wert auszuspielen. Im Vergleich mit Antiquitäten aus früheren Epochen ist der monetäre Wert von DDR-ArtikelnObjekteWert von O. weiterhin unspektakulär, wobei es sich bei den teuersten Objekten – ganz konventionell – um Münzen, Devisen und Briefmarken handelt. Doch die Vorstellung, dass sich für die eigene materielle Vergangenheit ein Preis erzielen lässt, führte zu einer allmählichen Veränderung des Selbstbilds und ermöglichte bewusst ironische Kehrtwenden und eine neue Leichtigkeit im Umgang mit der WarenkulturObjekteUmgang mit O.. So erinnerte sich z. B. ein Ostberliner, wie er kurz nach der Vereinigung einen Westler sah, der auf einem Flohmarkt DDR-Abzeichen kaufte, und ihm plötzlich blitzartig klar wurde, dass seine alten Schulabzeichen und -medaillen, die er in irgendwelchen Schachteln verwahrt und an die er nie mehr einen Gedanken verschwendet hatte, bares Geld einbringen konnten. Mehr oder weniger aus Jux lud er den Westler zu sich nach Hause ein, um ihm seine Sammlung zu zeigen.8 Die Antwort auf die Frage des Westlers, »Wie viel für alles?«, ist eine Mischung aus Melodrama, Ironie und Geschäftstüchtigkeit:
Ich stand auf, atmete durch, setzte mich hin und flüsterte:
»Das ist meine Vergangenheit. Wie kann man das in GELD umrechnen.«
»Wie viel?«
»Sag Du.«
»Hundert.« […]
[Schon hatte ich ein Wischtuch über die Exponate gelegt. Die Wirkung war verblüffend. Kaum sah er nicht mehr, was er begehrte, nannte er den zweieinhalbfachen Preis.]
Ich: »Unter dreihundert geht das nicht weg!«
Geschwind wie ein Taschendieb klammerte er drei Scheine aus der Gesäßtasche, zog das Wischtuch lüstern langsam vom frischen Besitz.
Hier kommt es natürlich nicht darauf an, dass einige Alltagsartikel der DDR, so wie die Abzeichen, möglicherweise ein wenig Bargeld einbringen, sondern dass die Wünsche von anderen die eigene Vergangenheit als wertvollerVergangenheitWert der V. erscheinen lassen und dass die clevere Umsetzung dieser Erkenntnis zu einem Rollentausch und neuen Wertvorstellungen führen kann. Beide Werte zusammen – persönliches/kulturelles Überleben und intersubjektiver WertWertintersubjektiver W. – ermöglichten einen Prozess des Sich-Einschreibens in Objekte, der dem ähnelt, was der Anthropologe David ParkinParkin, David bei Menschen beobachtet, deren gesellschaftliches Selbstbewusstsein durch Vertreibung gestört ist.9
Wenn Flüchtlinge ins Exil gehen müssen, nehmen sie, nach Aussage von Parkin, ErinnerungsstückeErinnerungsstücke mit, die weit mehr sind als bloße Objekte. Da die Exilanten sich in einer liminalen bzw. einer Übergangssituation befinden, in der das Vertrauen in andere aufgrund des Verlusts des Selbst geschwächt ist, »schreiben sie ihre persönliche Zukunft und Identität in alle ihnen verbliebenen unpersönlichen physischen, mentalen und körperlichen quasi selbstgebastelten Überreste ein: Sie investieren, anders gesagt, emotional stärker in ihnen zugängliche Objekte, Ideen und Träume als in die lebenden Personen ihrer Umgebung«.10 ErinnerungsstückeErinnerungsstücke werden zu Depots einer »zeitweilig eingekapselten Personalität«, die später, wenn die Verhältnisse es gestatten, dazu genutzt werden, die zuvor verleugnete Identität in einer zukünftigen Form wiederherzustellen.11 Die merkwürdige Situation der früheren Ostdeutschen, ihre »Dis- und Re-Lokation von Deutschland nach Deutschland«Bundesrepublik Deutschland (BRD), führte zu einer analogen Identitätskrise, nicht weil sie ihr Land verlassen hatten, sondern weil ihr Land sie verlassen hatte.12 Diese Situation ist unabhängig von der politischen Überzeugung – ob man nun ein Dissident oder ein Apparatschik war, das tägliche Leben war unwiderruflich verändert. Wie der Titel von Alexei YurchaksYurchak, Alexei Buch über die letzte Sowjetgeneration es treffend formuliert: »Alles war für immer, bis es verschwunden war.« »Man hielt das System«, so Yurchak, »stets zugleich für stagnierend und unveränderlich, für fragil und stark, für trostlos und vielversprechend«, und dann war es mit ihm aus und vorbei.13
Für die Ostdeutschen hatte das alte System nicht nur abruptVereinigungabruptes Ereignis geendet, sondern das gesamte Land wurde von den juristischen, politischen und kulturellen Strukturen der westlichen BundesrepublikBundesrepublik Deutschland (BRD) im wahrsten Sinne des Wortes absorbiertvereintes DeutschlandAbsorbierung Ostdeutschlands. Anders als in anderen Sowjetblockländern wurden das vor sich hin dümpelnde DDR-Regime und seine täglichen Planvorgaben sofort durch ein umfassendes alternatives System ersetzt. Alltagsobjekte wurden umgehend kulturell obsoletkulturelle ObsoleszenzObjektekulturell obsolete O. und waren nur noch spurenhafte Erinnerungen an das rasche VerschwindenErinnerung/GedächtnisVerschwinden eines StaatesVerschwindender DDR und seines zugehörigen Lebensstils. Für jene Sammler wie HartwigSammlerHartwig als S.Hartwig, Jürgen wurden Alltagsgegenstände, wie er es formulierte, zu einem verankerten »Gut der Erinnerung an das Positive der DDR und der eigenen erlebten Vergangenheit«.14 In diesem Zusammenhang ist ParkinsParkin, David Bemerkung über die Rolle von Objekten als Trägern einer »zeitweilig eingekapselten Persönlichkeit« durchaus zutreffend. Dies hilft eine offensichtliche Zärtlichkeit für die Objekte zu erklären, so wie in Rolf Winklers Selbstbeschreibung seiner SammlungSammlerWinkler als S.: »Viele Dinge wurden nach der Wende entsorgt, vernichtet, weggeworfen oder einfach stehen gelassen. Dinge mit denen man jahrelang gelebt, geliebt, gearbeitet, gespielt hat. Dinge die notwendig waren, im Alltag, im Haushalt, der Schule, im Beruf, im Hobby, aber auch Dinge die die Welt nicht brauchte. Mit meiner kleinen Sammlung möchte ich Erinnerungen daran wecken und erhalten […] Es war nicht alles schlecht!«15