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In meinem alten Schlafzimmer

St Laurence Road

Northfield

Sonntag, 12. Dezember 1999

Vormittag

Na, große Schwester, kannst du erraten, wo Dad steckt und warum ich das Haus für ein, zwei Stunden für mich allein habe? Natürlich kannst du das. Er ist in der Kirche! Versucht, einen besseren Menschen aus sich zu machen. Wirklich eine ausgezeichnete Idee, aber die Erfolgsaussichten dürften gegen Null tendieren. Trotzdem geht er seit sechzig Jahren jede Woche in die Kirche (er hat mich heute beim Frühstück noch einmal daran erinnert), und wenn du mich fragst, hat er damit bisher nichts Nennenswertes erreicht. Wenn die Kirche auch nach sechzig Jahren nicht mehr zustande bringt, sollten wir unser Geld zurückverlangen, ehrlich.

Ach – es lohnt die Gedanken gar nicht. Außerdem muß ich nur noch eine Mahlzeit mit ihm durchstehen – das gefürchtete sonntägliche Mittagessen –, und danach bin ich weg. Ich habe beschlossen, mich schamlos zu verwöhnen, und im Hyatt Regency ein Zimmer für zwei Nächte gebucht. Es ist das edelste unter den neuen Hotels in Birmingham: über zwanzig Stockwerke, direkt neben der neuen Symphony Hall und Brindley Place. Am Freitag bin ich dort herumgelaufen, und ich habe diesen Teil der Stadt kaum wiedererkannt, so sehr hat er sich seit den Siebzigern verändert. Damals war das ganze Gelände an den Kanälen eine Einöde. Jetzt gibt es dort eine Bar neben der anderen, und Cafés gibt es auch, und alles war brechend voll. Und wie es hier inzwischen üblich zu sein scheint, hat man sich wieder getroffen und geredet.

Aber vielleicht weißt du das ja schon. Vielleicht bist du im letzten oder vorletzten Jahr selbst dort gewesen. Vielleicht warst du sogar am Freitagvormittag dort und hast mit ein paar Freunden einen Kaffee in der All Bar One getrunken. Wer weiß?

Obwohl ich das Gesicht des Mannes, der mich gestern wegen meines Hupens beschimpft und bespuckt hat, nur für einen Sekundenbruchteil gesehen habe, muß ich immer wieder daran denken. Ich habe doch angedeutet, daß es mich an ein Erlebnis erinnert, das ich in diesem Sommer in Italien hatte, oder? Damals habe ich zum erstenmal einen Mann so ausrasten sehen. Ein schrecklicher Anblick (eigentlich habe ich es nicht nur beobachtet, sondern war dabei), nur daß die Folgen viel schlimmer waren, weil es dazu führte, daß ich mit Stefano zusammengekommen bin. Und schau nur, wohin mich das gebracht hat.

Es kommt mir vor, als wäre das schon eine Ewigkeit her.

Lucca liegt mitten in den Hügeln, aber die im Nordwesten der Stadt finde ich am schönsten. Dort wurde ziemlich weit oben auf einem Hügel, von dem man einen grandiosen Blick auf die Stadt hat (eine der schönsten Städte Italiens), ein altes Bauernhaus von innen und außen komplett saniert. Auftraggeber war ein britischer Geschäftsmann namens Murray – jedenfalls hat er die Kosten getragen. Die Arbeiten wurden von seiner Frau beaufsichtigt, Liz, und der Architekt und Projektleiter hieß Stefano. Liz konnte kein Italienisch, Stefano konnte kein Englisch, und da kam ich ins Spiel. Ich wurde geholt, um alles zu übersetzen – Gespräche und Papierkram –, und so wurde Liz Murray für sechs Monate zu meiner Arbeitgeberin.

Es ist ein ziemlicher Schock, wenn man einen Vertrag bei jemandem unterschreibt und zwei Tage später merkt, daß man es mit einer Teufelin von Boss zu tun hat. Liz als mies gelaunt und unflätig zu beschreiben, reicht bei weitem nicht aus. Sie war eine hochnäsige Kuh aus North London, die für alle Leute, die für sie arbeiteten – und offenbar auch für den Rest der Menschheit –, nur Verachtung empfand. Ob sie je selbst gearbeitet hatte, konnte ich nicht herausfinden. Auf jeden Fall ließ sie für nichts ein besonderes Talent erkennen, außer Leute herumzukommandieren, und in Angst und Schrecken zu versetzen. Zum Glück war mein Job klar definiert, und ich machte ihn gut oder bewies wenigstens Kompetenz. Liz hat sich zwar nie bei mir bedankt und mir außerdem immer das Gefühl gegeben, nur ihr Lakai zu sein, aber angeschrien hat sie mich nie. Stefano hingegen mußte die schlimmsten Beschimpfungen über sich ergehen lassen (die ich natürlich alle übersetzen mußte) und die Arbeiter auch. Schließlich hatten sie die Nase voll.

Ich weiß noch, daß es an einem Mittwoch passierte, einem Mittwoch gegen Ende August. Für fünf Uhr nachmittags war eine Besichtigung der Baustelle angesetzt.

Stefano, Liz und ich fuhren getrennt dorthin. Gianni, dessen Firma die Bauarbeiten durchführte, wartete schon auf uns. Er hatte mit vier anderen Männern den ganzen Tag geschuftet, sie waren schweißgebadet und gereizt. Die Fertigstellung der Arbeiten hatte sich schon um Wochen verzögert, und vermutlich wollten alle Urlaub haben wie der Rest Italiens. Es war unbeschreiblich heiß. Bei einer solchen Hitze sollte niemand arbeiten müssen. Trotzdem hatten sie (meiner Meinung nach) in den letzten Wochen unglaublich viel geschafft. Sie hatten das Becken eines riesigen Swimmingpools ausgehoben und fast vollständig gefliest. Allein das Fliesen hatte drei Tage gedauert. Sie hatten fünf Quadratzentimeter große Porzellanfliesen benutzt, jede in einem etwas anderen Blau. Es sah beeindruckend aus. Trotzdem schien es ein Problem zu geben.

»Was soll das?« fuhr Liz Gianni an und zeigte auf die Fliesen.

Ich übersetzte für ihn, und er antwortete: »Das sind die Fliesen, die Sie haben wollten.«

Sie sagte: »Sie sind zu groß.«

Er sagte: »Nein, Sie wollten fünf Zentimeter.«

Stefano trat vor und blätterte in seinen Unterlagen.

»Stimmt«, sagte er. »Die Bestellung ist fünf Wochen her.«

Liz sagte zu Gianni: »Aber seitdem habe ich meine Meinung geändert. Wir haben darüber gesprochen.«

Er sagte: »Ja, wir haben gesprochen. Sie konnten sich nicht entscheiden, also haben wir weitergemacht wie geplant.«

Liz sagte: »Ich hatte mich entschieden. Ich wollte kleinere Fliesen als diese. Drei Quadratzentimeter.«

Während sie stritten, schien Gianni langsam zu dämmern, was sie von ihm verlangte. Sie verlangte, daß er und seine Männer alle Fliesen abschlügen, Tausende neuer bestellten und wieder von vorn begännen. Und noch dazu auf seine Kosten, denn sie beharrte darauf, ihn mündlich angewiesen zu haben, die kleineren Fliesen zu benutzen.

»Nein!« sagte er. »Nein! Unmöglich! Sie ruinieren mich.«

Ich übersetzte für Liz, und sie antwortete: »Ist mir egal. Es ist Ihr Fehler. Sie haben mir nicht zugehört.«

»Aber Sie haben nicht klargemacht...«, sagte Gianni.

»Keine Widerworte, Sie beschissener Idiot. Ich weiß, was ich gesagt habe.«

Ich übersetzte, ließ allerdings »beschissener« aus.

Gianni war immer noch außer sich vor Wut. »Ich bin kein Idiot. Wenn hier jemand bescheuert ist, dann Sie. Sie ändern ständig Ihre Meinung.«

»Wie können Sie es wagen! Wie können Sie es wagen, mir die Schuld für Ihre Faulheit und Ihre eigene, verfickte Unfähigkeit zu geben?«

»Das kann ich nicht tun. Das wäre das Ende meines Betriebs, und ich muß eine Familie ernähren. Seien Sie vernünftig.«

»Wen interessiert das? Wen kratzt das?«

»Dämliches Weib! Dämlich! Sie haben fünf Zentimeter gesagt! Hier steht es schwarz auf weiß.«

»Wir haben es geändert, Sie Kretin. Wir haben darüber gesprochen, und ich habe drei Zentimeter gesagt, und Sie haben gesagt, Sie würden daran denken.«

»Das ist nie schriftlich festgehalten worden.«

»Aber nur, weil ich so dumm war zu glauben, Sie würden es im Kopf behalten, Sie Volltrottel von einem Fettsack. Ich dachte, drei Zentimeter könnten Sie leicht behalten, weil Ihr Schwanz genausolang ist.«

Sie wartete, daß ich übersetzte. Ich sagte: »Das übersetze ich nicht.«

»Ich bezahle Sie dafür«, erwiderte sie spitz, »daß Sie alles übersetzen, was ich sage. Machen Sie schon. Übersetzen Sie jedes einzelne Wort.«

Ich senkte die Stimme und übersetzte Liz’ letzten Satz. Und gleich darauf geschah es: Mit Gianni ging eine erstaunliche Verwandlung vor sich – mit diesem großen, sanften, netten Mann. Auf einmal waren seine Augen voller Hass, und ohne nachzudenken riss er ein Werkzeug aus der neben ihm stehenden Kiste – es war ein Meißel, ein riesiger Meißel – und sprang auf seine Auftraggeberin zu und brüllte sie an, er brüllte unverständliche Worte der Wut und mußte von seinen Arbeitskollegen zurückgehalten werden, schaffte es aber noch, Liz einen Schlag auf den Mund zu verpassen. Worauf sie mit blutenden Lippen ins Haus rannte, in die Küche, die gerade einen Wasseranschluss bekommen hatte, und ein paar Minuten später hörten wir sie wegfahren, ohne daß sie mit einem von uns noch ein Wort gesprochen hätte.

Danach packten die Männer schweigend und routiniert ihr Werkzeug ein. Stefano und Gianni führten in einer stillen Ecke des Gartens, im Schatten einer Zypresse, ein langes Gespräch. Ich hatte Stefano gefragt, ob ich fahren könne, doch er hatte geantwortet, es wäre schön, wenn ich noch ein bißchen bliebe. Ich saß ungefähr zwanzig Minuten in der zukünftigen Loggia und wartete, und als Stefano sein Gespräch mit dem Bauunternehmer beendet hatte, kam er zu mir und sagte: »Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich brauche nach dieser Sache einen Drink – möchten Sie mitkommen?«

Wir fuhren zu einem Restaurant, das nicht weit entfernt vom Bauernhaus an der Landstraße lag und ebenfalls einen Blick auf Lucca bot, und wir saßen einige Stunden auf der Terrasse und tranken Grappa und Wein, aßen Pasta und unterhielten uns, bis die Sonne unterzugehen begann, und mir fiel auf, wie gut er aussah, wie sanft sein Blick war und wie fröhlich und kindlich er lachte, wobei er jedesmal die Schultern schüttelte, und er sagte mir, er wäre unglaublich erleichtert, wenn Liz ihn feuerte, denn sie sei die schlimmste Kundin, die er je gehabt habe, und der Streß mit ihr gebe ihm fast den Rest, und das könne er jetzt gar nicht gebrauchen, denn von allem anderen abgesehen habe er große Eheprobleme. Nachdem er das gesagt hatte, blieben wir stumm, als wüßten wir beide nicht, wie ihm das hatte herausrutschen können. Dann erzählte er mir, daß er seit sieben Jahren verheiratet sei und eine vierjährige Tochter namens Annamaria habe, aber nicht wisse, wie lange es mit seiner Frau noch gutgehe, weil sie ihn betrogen habe, und obwohl sie ihre Affäre inzwischen beendet habe, sei er immer noch tief verletzt, die Sache verletze ihn schlimmer als alles andere, was ihm im Leben widerfahren sei, und er wisse nicht, ob er ihr je vergeben oder je wieder das gleiche für sie empfinden könne wie zuvor. Ich nickte und murmelte etwas Teilnahmsvolles und sprach tröstende Worte, aber selbst da, ganz am Anfang, war ich zu blind und machte mir zuviel vor, um mir eingestehen zu können, daß ich bei seinen Worten innerlich jubelte, daß ich genau das hatte hören wollen. Am Ende des Abends gab er mir auf dem Parkplatz des Restaurants einen Kuß – er küßte mich auf die Wange, es war nicht nur freundschaftlich, denn er fuhr mir dabei sanft übers Haar, und ich fragte ihn, ob er meine Handy-Nummer wolle, und er erinnerte mich daran, daß er sie ja längst habe, sie stehe auf meiner Visitenkarte, und er sagte, er wolle mich bald wieder anrufen.

Er meldete sich am nächsten Vormittag bei mir, und abends gingen wir wieder essen.

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