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An diesem Punkt seiner Laufbahn war Paul Trotter parlamentarischer Privatsekretär eines Staatsministers im Innenministerium, eine schwierige und frustrierende Position. Traditionsgemäß galt sie als Sprungbrett für ein ordentliches Ministeramt, aber sie legte Paul auf eine unscheinbare Rolle fest, die wenig Spielraum bot und in der er in erster Linie die Verbindung zwischen seinem Staatsminister und den Hinterbänklern aufrechtzuerhalten hatte. Es war ihm nicht gestattet, vor Journalisten zu Angelegenheiten seines Ministeriums Stellung zu nehmen, ja man forderte ihn nicht einmal auf, mit ihnen zu reden. Doch Paul war nicht in die Politik gegangen, um hinter den Kulissen zu arbeiten. Er hatte seine Ansichten – feste Ansichten, die zum Großteil mit dem von der Mehrheit seiner Partei vertretenen Gedankengut übereinstimmten –, und er verkündete sie bei jeder passenden Gelegenheit. Viele jüngere, unerfahrenere Labour-Abgeordnete ergriffen die Flucht, wenn ein Reporter oder ein Mikrophon in Sicht kamen, doch Paul hatte sich schon den Ruf erworben, immer zu einer Stellungnahme bereit zu sein und meist zitierfähige Sätze zu liefern. Zeitungsredakteure baten ihn inzwischen gelegentlich um kleinere Beiträge, und Lobby-Korrespondenten baten ihn gezielt um Stellungnahmen zu Themen, die einen Artikel lohnten, selbst zu solchen (vielleicht auch gerade zu solchen), über die er nicht wirklich Bescheid wußte.

Trotzdem war Paul in dieser Hinsicht nicht naiv. Er wußte, daß die Journalisten darauf aus waren, ihn zu überrumpeln. Er wußte, daß die Menschen, die ihn ins Parlament gewählt hatten, von einer Labour-Regierung ganz bestimmte Dinge erwarteten, und hätte er seine persönlichen Ansichten offen dargelegt, so wären sie in vieler Hinsicht schockiert und beunruhigt gewesen. Möglicherweise fühlten sie sich sogar verraten. Er mußte vorsichtig sein, aber die Situation begann, seine Geduld zu strapazieren. Drei Jahre seiner ersten Legislaturperiode waren um, und der Alltag seines Lebens als Parlamentarier (eine halbe Woche mitten in London und danach ein sehr langes Wochenende bei Frau und Tochter in seinem Wahlkreis in den Midlands) begann an ihm zu zehren. Er wurde immer rastloser und sehnte sich nach einer Veränderung – einer schnellen, radikalen Veränderung. Er hatte das Gefühl zu scheitern und in verfrühter Trägheit und Erstarrung zu versinken, und er suchte nach etwas, das sein ganzes Dasein schlagartig neu belebte.

Wie es der Zufall wollte, fand er an einem Donnerstagabend im Februar des Jahres 2000 genau das, was er brauchte, und er verdankte es einer ziemlich unerwarteten Quelle: seinem Bruder.

Benjamin stellte das Bügelbrett auf. Emily saß vor dem Fernseher und sah zu, wie ein Team hochqualifizierter und berühmter Gärtner einen öden, städtischen Hinterhof in eine blühende Oase verwandelte, einschließlich Sitzgruppe und Tisch, Barbecue-Bereich und Wasserspiel, und alles im Laufe eines Wochenendes. Draußen lag ihr eigener vernachlässigter und schäbiger Garten.

»Ich kann das für dich bügeln, wenn du willst«, bot sie an.

»Blödsinn«, sagte Benjamin. »Ich kann doch ein Hemd bügeln.«

Eigentlich wollte er nicht so klingen: herablassend und undankbar. Aber so klang er. Wenn er ehrlich mit sich war, hätte er es lieber Emily überlassen, sein Hemd zu bügeln. Er bügelte äußerst ungern Hemden, und außerdem war er nicht besonders gut darin. Hätte es sich wirklich, wie er Emily weisgemacht hatte, nur um ein Essen mit seinem Bruder gehandelt, so hätte er ihr Angebot sofort angenommen. Doch da er seiner Frau verschwiegen hatte, daß Malvina mit von der Partie war, fühlte er sich schuldig. Er merkte einfach, daß er Schuldgefühle hatte, und wenn Emily sein Hemd für ihn bügelte, wären sie noch größer.

Er fing an zu bügeln. Jedesmal, wenn er einen Ärmel von einer Seite gebügelt hatte und umdrehte, hatte die andere Seite plötzlich zwei oder drei dicke Falten, die vorher nicht dagewesen waren. Das passierte jedesmal. Benjamin wußte nicht, wie und warum.

Die Gärtnerei-Sendung war zu Ende, und es folgte eine Koch-Show, in der eine absolut unerklärlich glamouröse, junge Frau, die in einem absolut unerklärlich eleganten Haus lebte, absolut unerklärlich kleine Köstlichkeiten zubereitete, dabei ihr Haar nach hinten warf, die Lippen verführerisch in Richtung Kamera spitzte und sich Butter- und Saucenreste auf eine Art von den Fingern leckte, die Benjamin als eine so eindeutige Anspielung auf Oralsex empfand, daß er, als er zum fünftenmal die Ärmelaufschläge bügelte, eine Erektion bekam. Fünf Minuten, nachdem diese Frau begonnen hatte, mit absolut unerklärlicher Leichtigkeit pochierte, mit Pistazien garnierte und mit Creme fraîche gefüllte Aprikosen zuzubereiten, hörte Benjamin, wie die Mikrowelle piepte – in der Werbepause hatte Emily eine Portion Makkaroni mit Käse von Marks and Spencer’s hineingestellt, die sie jetzt in eine Schüssel umfüllte und mit wenig Begeisterung zu essen begann, während sie mit glasigem, neidischem Blick weiter die Fernsehsendung über erotisierte Kochkunst verfolgte.

Benjamin fragte sich, warum er Emily nichts von Malvina erzählt hatte. In Gedanken ging er drei Monate zurück, zu jenem Tag im November 1999, als sich Malvina im Café der Waterstone’s-Filiale in der High Street an einen Nachbartisch gesetzt hatte. Es war fast neunzehn Uhr gewesen, das Ende eines langen Arbeitstages. Natürlich hätte er längst zu Hause bei Emily sein sollen. Doch er hatte ihr gesagt, er müsse an dem Abend – wie an vielen anderen Abenden auch – länger arbeiten. Nicht etwa, damit er Zeit hatte, ein paar Stunden mit seiner Geliebten zu verbringen (Benjamin hätte sich nie eine Geliebte genommen), sondern damit er eine halbe Stunde für sich hatte, allein mit einem Buch und seinen Gedanken, bevor er in die tiefere, wesentlich bedrückendere Einsamkeit seiner häuslichen Zweisamkeit zurückkehrte.

Er hatte noch nicht lange dort gesessen, da merkte er, daß die junge, blasse, schlanke Frau am Nebentisch seine Aufmerksamkeit zu wecken versuchte. Sie fing immer wieder seinen Blick auf, sie lächelte und starrte so beharrlich auf das Buch, in dem er las (eine Biographie Debussys), daß er nach einer Weile das Gefühl bekam, seinerseits unhöflich zu sein, wenn er sie nicht anspräche. Im Gespräch erfuhr er rasch, daß sie an der London University Medienwissenschaft studierte und für ein paar Tage nach Birmingham gekommen war, um Freunde zu besuchen. Ziemlich enge Freunde, wie es schien, denn sie besuchte sie regelmäßig. Nach dieser ersten Begegnung trafen sich Malvina und Benjamin mindestens einmal alle zwei Wochen (auf Verabredung und immer am gleichen Ort), manchmal auch öfter. Und es dauerte nicht lange (jedenfalls für Benjamins Empfinden), bis es sich bei der Sache weniger um die Begegnung zweier Bekannter als um ein Rendezvous handelte. Kurz vor einem Treffen mit Malvina war ihm jedesmal schwindlig vor Vorfreude. Wenn sie beisammensaßen, vermochte er seine Bestellung, egal ob ein Stück Kuchen oder ein Sandwich, nie ganz aufzuessen. Sein Magen verkrampfte sich, er wurde zur Faust. Benjamin hatte keine Ahnung, ob Malvina auch so etwas empfand. Vermutlich schon, denn weshalb hätte sie sonst damals ihren Annäherungsversuch unternehmen sollen? Sicher, er war inzwischen ergraut, seine Wangen wurden schlaff, sein Bauch begann sich gemäß eines eigenen, geheimnisvollen Planerfüllungssolls auszudehnen, das nichts damit zu tun hatte, wieviel er aß. Aber mußte das notwendigerweise zur Folge haben, daß Frauen ihn nicht mehr attraktiv fanden? Offenbar nicht. Doch es gab etwas, das ihm größere Sorgen bereitete als diese körperlichen Phänomene: die Aura des Versagens und der Enttäuschung, die er seinem eigenen Empfinden nach ausstrahlte. Seine Freunde waren daran gewöhnt, das wußte er, aber jemandem, der zufällig mit ihm ins Gespräch kam, mußte sie auffallen. Doch Malvina schien sie – wunderbarerweise – nicht zu bemerken. Sie traf sich immer wieder mit ihm. Sie hatte noch keine einzige Einladung auf einen Kaffee oder einen Drink abgelehnt. Kurz vor Weihnachten war sie sogar zum Wiedervereinigungskonzert seiner Band im The Glass and the Bottle gekommen.

Was sie an ihm so interessant fand, blieb ihm ein Rätsel. Darauf hatte er immer noch keine Antwort, selbst nicht nach all den Stunden, in denen er ihr von seiner zwanzigjährigen Karriere als Buchhalter, seiner wesentlich kurzlebigeren Karriere als Musiker in den Achtzigern sowie (in gewisser Weise das größte Geheimnis von allen) von dem Roman erzählte, an dem er all die Jahre geschrieben hatte, der inzwischen mehrere tausend Seiten umfaßte und seiner Vollendung immer noch nicht näher war als am Anfang. Malvina hatte ihm mit nie nachlassender Aufmerksamkeit zugehört. Sie schien einen nicht zu stillenden Hunger auf diese persönlichen Details zu haben. Im Gegenzug erzählte sie ihm gelegentlich etwas aus ihrem Leben, zum Beispiel, daß auch sie eine aufstrebende Autorin sei und eine stetig wachsende Sammlung unveröffentlichter Gedichte und Kurzgeschichten in petto habe. Benjamin hatte sie gefragt (unvermeidlich), ob er etwas davon lesen dürfe, doch bislang hatte Malvina seinen Wunsch (wohl ebenso unvermeidlich) nicht erfüllt. Wahrscheinlich war sie einfach schüchtern. Benjamin war keinesfalls nur neugierig, sondern hatte den ehrlichen Wunsch, ihr auf jede erdenkliche Art zu helfen. Doch die ganze Zeit quälte ihn die schwelende Angst, diese wunderbaren Begegnungen, die sein Leben auf den Kopf gestellt hatten, könnten auf einmal vorbei sein. Je mehr er Malvina hülfe und je mehr Gefallen er ihr täte, desto unentbehrlicher wäre er für sie – was seiner Meinung nach die Gefahr verringerte, daß sie irgendwann keine Lust mehr haben könnte, sich mit ihm zu treffen. Und aus diesem Grund bot er ihr schließlich an, sie mit Paul bekannt zu machen.

Das Projekt in Malvinas zweitem Jahr an der Universität war eine zwanzigtausend Wörter umfassende Seminararbeit über New Labour und die Medien. Es war eine anspruchsvolle Sache, und allmählich vermutete Benjamin, daß sie ihr über den Kopf wuchs. Er wußte, daß sie bereits im Verzug war. Jedesmal, wenn die Rede darauf kam, hörte er einen Anflug von Panik in ihrer Stimme. Und da es ziemlich unrealistisch gewesen wäre, ihr vorzuschlagen, die Seminararbeit für sie zu schreiben (er hätte es dennoch bereitwillig getan), konnte er ihr immerhin praktische Unterstützung bieten, indem er für sie einen Kontakt zu einem der aufstrebenden Stars von New Labour herstellte. Eine so erstklassige Recherchemöglichkeit hatte mit Sicherheit keiner ihrer Kommilitonen.

»Muß das sein?« hatte Paul gemäkelt, als Benjamin ihn am Telefon darum gebeten hatte.

»Nein, natürlich nicht«, sagte Benjamin. »Aber es würde dich nur ein, zwei Stunden kosten. Ich dachte, wir könnten zusammen essen gehen, wenn ihr beide das nächste Mal in Birmingham seid. Es würde bestimmt ein netter, geselliger Abend.«

Worauf Paul nach kurzem Schweigen erwiderte: »Ist sie hübsch?«

Benjamin dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: »Ja.« Das war eine schlichte Tatsache. Genaugenommen eine Untertreibung. Benjamin wäre nie in den Sinn gekommen, daß die Frage nicht nur nebenbei gemeint gewesen war – schließlich kam sie von Paul, und Paul war verheiratet und hatte eine hübsche, kleine Tochter.

Andererseits war Benjamin ebenfalls verheiratet, hatte Emily aber nie von Malvina erzählt. Und als es an diesem Abend an der Haustür klingelte, war es ihm wichtiger denn je, daß seine Frau nichts von seiner neuen Freundin erführe, ja nicht einmal auf die Existenz Malvinas aufmerksam gemacht würde.

Das war Benjamins allererster Gedanke, als er losrannte, um die Tür zu öffnen.

»Du behältst doch nicht etwa das alte Hemd an, oder?« fragte ihn sein Bruder zur Begrüßung. Er trug einen Maßanzug von Ozwald Boetang.

»Ich bügele gerade ein frisches. Komm rein.« Als sein Bruder eintrat, fügte Benjamin im dramatischen Flüsterton hinzu: »Und bitte vergiss nicht, Paul – wir gehen heute abend nur zu zweit aus.«

»Ach.« Paul war spürbar enttäuscht. »Ich dachte, das wäre der eigentliche Anlaß gewesen. Ich dachte, diese Frau wollte sich mit mir treffen.«

»Will sie ja auch.«

»Und wann?«

»Heute abend.«

»Aber du hast doch gerade gesagt, wir gingen nur zu zweit aus.«

»Wir gehen nicht zu zweit aus. Und trotzdem doch. Verstehst du?«

»Ich verstehe nur Bahnhof.«

»Emily weiß nichts davon.«

»Wovon weiß sie nichts?«

»Daß wir mit ihr essen gehen.«

»Emily geht mit uns essen? Sehr schön. Aber warum weiß sie nichts davon?«

»Nein – Malvina geht mit uns essen. Nicht Emily. Aber das weiß sie nicht.«

»Sie weiß nicht, daß sie nicht mit uns essen geht? Du meinst – sie glaubt, sie würde mit uns essen gehen?«

»Hör zu. Emily weiß nicht...«

Paul schob seinen Bruder gereizt zur Seite.

»Benjamin, ich habe keine Zeit für diesen Quatsch. Ich habe gerade eine nervtötende Dreiviertelstunde bei unseren Eltern verbracht, und mir wird immer klarer, daß ein Gen des Wahnsinns in unserer Familie liegt, das du offenbar geerbt hast. Gehen wir nun essen oder nicht?«

Sie gingen ins Wohnzimmer, und Benjamin bügelte sein Hemd fertig. Paul wechselte ein paar belanglose und bemühte Worte mit Emily, und dann setzte er sich neben sie aufs Sofa und sah schweigend der Küchen-Göttin zu, die mit sinnlichen Fingern eine Banane schälte und anschließend verträumt mit ihren üppigen Lippen an der Spitze der Südfrucht spielte. »O Mann, die würde ich gern ficken«, murmelte Paul nach einer Weile. Ob ihm bewußt war, daß er diesen Gedanken laut ausgesprochen hatte, blieb unklar.

Als sie mit Pauls Auto zum Le Petit Blanc in Brindley Place fuhren, fragte Benjamin: »Warum war es so nervtötend bei Mum und Dad?«

»Hast du sie in letzter Zeit mal besucht?«

»Ich schaue jede Woche bei ihnen vorbei«, sagte Benjamin und wand sich innerlich, als er merkte, wie selbstgerecht er geklungen hatte.

»Findest du nicht auch, daß sie ein bißchen komisch werden? Oder waren sie immer schon so? Weißt du, was Dad zu mir gesagt hat, als ich erzählt habe, daß wir heute abend in die Stadt fahren? ›Nehmt euch vor den Gangs in acht.‹«

Benjamin runzelte die Stirn. »Gangs? Welche Gangs?«

»Keine Ahnung. Hat er nicht gesagt. Er war bloß felsenfest davon überzeugt, daß irgendwelche ominösen Gangs über uns herfallen, wenn wir an einem Donnerstagabend in die Stadt fahren. Allmählich tickt er nicht mehr richtig.«

»Sie sind einfach alt«, sagte Benjamin. »Sie sind alt, und sie kommen nicht mehr oft raus. Du mußt ein bißchen Nachsicht mit ihnen haben.«

Paul brummte etwas, dann schwieg er. Eigentlich war er ein ungeduldiger Autofahrer, der noch im letzten Moment über Ampeln raste und sofort aufblendete, wenn ihm jemand zu langsam fuhr, doch heute abend wirkte er geistesabwesend. Er hatte eine Hand am Lenkrad, die andere hielt er sich dicht vor den Mund und biß ab und zu hinein. Das kannte Benjamin noch aus ihrer Kindheit – es war ein Zeichen von Nervosität und Sorge.

»Alles klar bei dir, Paul?«

»Was? O ja, alles klar.«

»Geht es Susan gut?«

»Denke schon.«

»Ich dachte nur... offenbar belastet dich etwas.«

Paul drehte sich zu seinem Bruder um. Schwer zu sagen, ob es ihn freute, daß Benjamin sich Gedanken um ihn machte, oder ob es ihn ärgerte, daß man ihm seine Unruhe so leicht ansehen konnte.

»Ich mache mir nur Sorgen wegen eines Journalisten, mit dem ich heute nachmittag in der Abgeordneten-Lobby gesprochen habe. Er hat mich nach Railtrack gefragt, und... ich fürchte, ich habe mir meine Antwort nicht gut genug überlegt. Ich glaube, ich bin in ein Fettnäpfchen getreten.« Am Nachmittag war der Presse mitgeteilt worden, daß man die Verantwortung für die Sicherheit des Zugverkehrs Railtrack übertragen werde – einem Privatunternehmen – und nicht, wie von vielen Kritikern gefordert, einer unabhängigen Körperschaft, die öffentlich Rechenschaft ablegen mußte. Paul stimmte dem im Prinzip zu (sein politischer Instinkt tendierte fast auf ganzer Linie zum Privatsektor) und hatte dies auch bereitwillig dem Journalisten verkündet, weil er glaubte, damit bei der Parteiführung punkten zu können. Inzwischen hatte er jedoch das Gefühl, sich zu weit aus dem Fenster gelehnt zu haben.

»Wie es scheint«, sagte er, »wehren sich gerade die Leute gegen diese Entscheidung, die damals beim Zugunglück in Paddington Angehörige verloren haben. Sie behaupten, die Sicherheitskontrollen seien nicht gut genug.«

»Überrascht dich das etwa?«

»Natürlich trauern sie. Das ist ja völlig verständlich. Aber es ist trotzdem nicht besonders hilfreich, alles, was schiefgeht, der Regierung anzulasten. Wir leben allmählich in einer Kultur der Anklagen, findest du nicht auch? Das ist übelstes Amerika.«

»Was hast du denn gesagt?« fragte Benjamin.

»Der Typ war vom Mirror«, erklärte Paul. »Er hat mich gefragt: ›Was würden Sie den Familien sagen, die beim Zugunglück von Paddington Angehörige verloren haben und in dieser Entscheidung eine Beleidigung ihrer Toten sehen?‹ Zuerst habe ich gesagt, ich achte ihre Gefühle und so weiter, aber das ist natürlich genau das, was er am Ende rauskürzen wird. Ich weiß, was er zitiert. Nämlich das Letzte, was ich gesagt habe: ›Alle, die aus Menschenleben Kapital schlagen wollen, sollten ihr Gewissen befragen.‹«

»Meinst du damit die Angehörigen?«

»Nein, überhaupt nicht. Ich meine die Leute, die die Gefühle der Angehörigen benutzen, um politisches Kapital daraus zu schlagen. Das habe ich gemeint.«

»Ts, ts, ts«, sagte Benjamin. »Viel zu subtil. Die Leute werden dich für ein herzloses, gefühlskaltes Arschloch halten.«

»Ich weiß. Verdammte Scheiße«, sagte Paul zu sich selbst und schaute durch die Windschutzscheibe auf das ehemalige ABC-Kino in der Bristol Road, das schon seit vielen Jahren ein Drive-thru von McDonalds war. »Aber jetzt erzähl mir lieber von der Frau, mit der wir uns treffen. Könnte sie meine Stimmung heben?«

»Sie heißt Malvina. Sie ist ziemlich klug. Ist abwechselnd hier und in London, soweit ich das durchschaue. Ich glaube, sie will mit dir einfach über dein Verhältnis zu Journalisten reden. Sie braucht ein paar Hintergrundinformationen für ihre Seminararbeit.«

»Na, dann«, sagte Paul grimmig. »Sie hätte sich kaum einen besseren Tag dafür aussuchen können.«

Als Benjamin später über diesen Abend nachdachte, wurde ihm klar, wie dumm es von ihm gewesen war, daß er nicht mit der Veränderung gerechnet hatte, die mit Malvina vorgegangen war. Sein jüngerer Bruder war ihm so vertraut – vertraut bis zum Überdruß –, und deshalb war ihm einfach nicht bewußt, daß Paul jetzt für die meisten Menschen ein Star und eine Begegnung mit ihm ein großes Ereignis war – etwas, für das man sich schick machte. Als Benjamin beim Betreten des Le Petit Blanc Malvina erblickte, die am reservierten Tisch am Fenster saß und auf sie wartete, stockte ihm angesichts ihrer Schönheit kurz der Atem, und er verfiel in ein ehrfürchtiges Schweigen. Sie hatte sich auch früher schon geschminkt, natürlich, aber noch nie so üppig und kunstvoll. Nie hatte sie ihr Haar in eine so freche, absichtlich wirre Form gebracht. Und wenn er sich nicht gänzlich irrte, hatte sie noch nie einen Rock getragen, der so kurz, so gewagt war wie dieser. Benjamin gab ihr einen Kuß auf die nach Parfüm duftende Wange – wie sehr hatte er sich nach diesem Augenblick gesehnt, und wie schnell war er vorbei –, stellte dann seinen Bruder vor und sah, daß Paul Malvinas Hand bereits so ehrfurchtsvoll und sanft ergriffen hatte, als wollte er sie küssen und nicht schütteln.

Benjamin bemerkte die Art, auf die sich ihre Blicke trafen und abrupt wieder trennten. Er bemerkte, wie Paul seine Krawatte zurechtzog und wie Malvina ihren Rock glattstrich, als sie sich setzte. Ihm sank das Herz. Und er fragte sich, ob er mit dieser Verabredung vielleicht einen der schlimmsten Fehler seines Lebens begangen hatte.

Während Benjamin im ersten Gang herumstocherte – Salat mit Thai-Hühnchen, grüner Papaya und Rauke –, begann Paul Malvina auf eine symphatische, selbstironische Art von der dummen Bemerkung zu erzählen, die er am Nachmittag einem Journalisten gegenüber gemacht hatte. Und schon bald sprach er allgemeiner über die seiner Meinung nach ungute gegenseitige Abhängigkeit zwischen Regierung, Printmedien, Rundfunk und Fernsehen. Das meiste davon war Benjamin bereits bekannt, doch an diesem Abend war er verblüfft, wie fachmännisch Paul klang, wie bestimmt. Außerdem wurde ihm bewußt, daß seinem Bruder inzwischen ein gewisser Glamour anhaftete, ein Glamour, den ihm die Macht verlieh – und sei es nur das kleine bißchen Macht, das er in seiner gegenwärtigen Position besaß. Malvina hörte zu und nickte, und manchmal schrieb sie etwas in ihr Notizbuch. Sie selbst sagte zunächst kaum etwas. Der Gedanke, daß Paul sich die Zeit nahm, ihr all diese Dinge zu erklären, schien sie etwas einzuschüchtern. Doch beim zweiten Gang – gebratenes Seebarbenfilet mit Zucchini, Fenchel und Sauce Verge – merkte Benjamin, daß sich das Gewicht leicht verschoben hatte. Malvina war gesprächiger geworden, und Paul fütterte sie nicht mehr nur mit Informationen, sondern begann, ihr Fragen zu stellen und sich nach ihrer Meinung zu erkundigen, und es war deutlich, daß sie gleichermaßen überrascht wie auch geschmeichelt war. Benjamin selbst war in ein brütendes Schweigen verfallen, das bis zum Nachtisch anhielt. Während er mürrisch in seiner Creme brûlée mit Passionsfrüchten stocherte, sah er zu, wie die beiden gemeinsam ein Dessert verspeisten: Schokoladen-Mi-Cuit mit warmer Creme anglaise, wobei sie abwechselnd einen langstieligen Löffel benutzten. Inzwischen wußte Benjamin mit einer Gewißheit, die ihm wie ein Klumpen im Magen lag, daß etwas passiert war, das noch vor Stunden undenkbar gewesen wäre: Er hatte Malvina verloren. Sie verloren! In welcher Form hatte er sie denn überhaupt je besessen? Vermutlich in der Form, daß er sich, solange die ambivalenten wöchentlichen Treffen anhielten, wenigstens einen Traum hatte bewahren können, den Traum, daß diese Freundschaft sich vielleicht durch ein Wunder (Benjamin glaubte fest an Wunder) in etwas anderes und Leidenschaftlicheres verwandelte. Bislang hatte er sich keine Gedanken über Einzelheiten gemacht und war nicht einmal soweit gekommen, sich den Schmerz vorzustellen, den es für Emily – und ihn selbst – bedeutete, wenn er weiter diesem gefährlichen Weg folgte. Die Sache hatte wie ein Traum begonnen, und vermutlich wäre sie das auch geblieben. Doch Benjamin lebte für seine Träume – das hatte er sein Leben lang getan. Träume waren für ihn so wirklich wie der Ablauf seines Arbeitsalltags oder der Wochenendeinkauf im Supermarkt, und es kam ihm grausam vor, schrecklich grausam, daß ihm diese vagen Traumbilder nun entrissen wurden. Er spürte, wie ihn ein Gefühl der Verzweiflung zu erdrücken begann, und gleichzeitig wuchs in seinem Inneren ein altbekannter Haß auf seinen Bruder.

»Wenn ich dich richtig verstehe, bist du also der Meinung«, sagte Paul, »daß der politische Diskurs ein Schlachtfeld geworden ist, auf dem die Politiker und Journalisten täglich miteinander um die Bedeutung von Wörtern kämpfen und streiten.«

»Ja – denn die Politiker achten inzwischen höllisch darauf, was sie sagen, und deshalb sind die politischen Aussagen so schwammig geworden, daß Journalisten die Aufgabe haben, eine Bedeutung in die Worte hineinzukonstruieren, die ihnen geliefert werden. Wichtig ist nicht mehr, was Leute wie du sagen, sondern wie es interpretiert wird.«

Paul runzelte die Stirn und leckte den letzten Schokoladenrest von der Rückseite ihres gemeinsamen Löffels. »Ich glaube, du bist da zu zynisch«, sagte er. »Wörter haben Bedeutungen – feste Bedeutungen –, und die kann man nicht ändern. Manchmal wünschte ich, ich könnte sie ändern. Ich meine – denk nur mal an das, was ich heute nachmittag dem Typen vom Mirror gesagt habe: ›Alle, die aus Menschenleben Kapital schlagen wollen, sollten ihr Gewissen befragen.‹ Das kann ich nicht mehr richtigstellen. Das klingt immer schlimm, egal, wie es gebracht wird.«

»Gut«, sagte Malvina, »aber du könntest doch behaupten, das Zitat sei aus dem Zusammenhang gerissen worden, oder?«

»Und wie soll das funktionieren?«

»Indem du sagst, du hättest überhaupt nicht die Familien der Opfer gemeint. Sondern hättest als jemand, der die Privatisierung der Bahnen insgesamt gesehen unterstützt, nur einen Warnschuß in Richtung Bahngesellschaften abfeuern und ihnen klarmachen wollen, daß sie aus Menschenleben kein ›Kapital‹ schlagen dürfen, indem sie den Gewinn über die Sicherheit stellen. Also sind sie diejenigen, die ihr Gewissen befragen müssen.« Sie lächelte ihn an. Es war ein spöttisches, herausforderndes Lächeln. »Na? Wie klingt das?«

Paul sah sie verblüfft an. Er begriff nicht ganz, aber irgendwie hatte sie ihm jetzt schon ein besseres Gefühl wegen seines Patzers vom Nachmittag gegeben, und er merkte, wie die schwere Last der Angst langsam von ihm abfiel.

»Darum ist das Wort so schlau, das du benutzt hast«, fuhr Malvina fort. »›Kapital‹. Denn genau darin liegt doch die Gefahr, oder? Daß die Menschen alles nur noch unter dem Aspekt des Geldes sehen. Das war ziemlich sprachgewandt. Richtig ironisch.« Wieder das Lächeln. »Und du warst doch ironisch, oder nicht?«

Paul nickte langsam, er sah ihr unablässig in die Augen.

»Ironie ist angesagt«, versicherte sie ihm. »Ziemlich in. Und darum brauchst du gar nicht mehr klar zu sagen, was du meinst. Du brauchst das, was du sagst, nicht einmal mehr wirklich so zu meinen. Das ist das Schöne daran.«

Für eine Weile saß Paul schweigend und reglos da, gebannt von ihren Worten, ihrer Gewißheit, ihrer Ruhe. Von ihrer Jugend. Dann sagte er: »Malvina, willst du für mich arbeiten?«

Sie lachte ungläubig. »Für dich arbeiten? Wie denn? Ich bin doch nur eine Studentin.«

»Nur einen Tag in der Woche. Höchstens ein paar Tage. Du könntest meine ...« – (er suchte nach einem passenden Wort) – »... Medienberaterin sein.«

»O Paul, red keinen Unsinn«, sagte sie errötend und wandte sich ab. »Ich habe doch gar keine Erfahrung.«

»Ich brauche niemanden mit Erfahrung. Sondern jemanden mit einem frischen Blick.«

»Aber wozu brauchst du eine Medienberaterin?«

»Weil es ohne die Medien nicht geht, und weil ich keine Ahnung davon habe. Du schon. Du wärst mir wirklich eine große Hilfe. Du könntest eine Art Entkoppler sein, ein Leiter zwischen ...«

Paul wußte nicht weiter, und Benjamin murmelte: »Das eine ist doch das genaue Gegenteil vom anderen.«

Paul und Malvina sahen ihn an – er hatte zum erstenmal seit zwanzig Minuten etwas gesagt –, und er erklärte: »Entkoppler und Leiter. Sie haben gegensätzliche Bedeutungen. Man kann nicht Entkoppler und Leiter zugleich sein.«

»Hast du denn nicht zugehört?« sagte Paul. »Wörter können alles bedeuten, was wir wollen. Im Zeitalter der Ironie.«

Paul bot Malvina an, sie zur New Street Station zu fahren, damit sie den letzten Zug nach London nicht verpaßte. Er schnappte sich die Rechnung für das Essen und bezahlte sie rasch und diskret, während Malvina auf der Toilette war.

»Was spielst du hier eigentlich?« zischte Benjamin, als sie draußen vor dem Restaurant auf sie warteten. »Du kannst sie doch nicht einstellen.«

»Warum denn nicht? Ich habe Mittel für so etwas.«

»Weißt du, wie alt sie ist?«

»Was hat das miteinander zu tun? Weißt du es?«

Benjamin mußte gestehen, es nicht zu wissen. Es war eines von vielen Rätseln, die sie ihm aufgab. Als er zusah, wie Malvina sich neben Paul ins Auto setzte, dachte er jedenfalls, daß der Altersunterschied zwischen beiden gar nicht so groß wirkte. Paul sah wesentlich jünger aus als fünfunddreißig, und Malvina sah ... nun, heute abend kam sie ihm alterslos vor. Sie waren ein hübsches Paar, wie er sich zähneknirschend eingestehen mußte.

Das Beifahrerfenster von Pauls glänzendem, schwarzem BMW glitt lautlos hinunter, und Malvina sah zu Benjamin auf.

»Bis bald«, sagte sie freundschaftlich. Doch sie hatten sich diesmal nicht geküßt.

»Halt die Ohren steif, Marcel«, sagte Paul, der Benjamin seit langem gern damit ärgerte, ihn Leuten als »Ruberys Antwort auf Proust« vorzustellen.

Benjamin funkelte ihn wütend an und sagte haßerfüllt: »Mach ich.« Und um es Paul zum Abschied heimzuzahlen, fügte er noch hinzu: »Liebe Grüße an deine Frau und deine Tochter.« Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.

Paul nickte – wie immer, ohne eine Miene zu verziehen –, dann quietschten die Reifen auf dem Asphalt, und das Auto war mitsamt Malvina verschwunden.

Es begann zu regnen, als sich Benjamin zu Fuß langsam auf den Weg zur Bushaltestelle in der Navigation Street machte.

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