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Zweiter Kaffee des Tages

Coffee Republic

New Street, Birmingham

Freitag, 10. Dezember 1999

Morgens

O Miriam – dieses Haus! Dieses furchtbare Haus. Es hat sich kein bißchen verändert. Nichts daran hat sich verändert, seit du damals verschwunden bist (und das ist fast genau ein Vierteljahrhundert her), außer, daß es kälter, leerer und bedrückender (und sauberer) ist denn je. Dad hat eine Putzfrau angestellt, die alles blitzblank hält, und wenn sie nicht zweimal pro Woche zum Staubwischen käme, würde er jetzt, nach Mums Tod, wahrscheinlich sieben Tage lang mit niemandem reden. Außerdem hat er sich ein kleines Haus in Frankreich gekauft, in dem er offenbar viel Zeit verbringt. Mittwochabend hat er mir stundenlang Fotos vom neuen Boiler und vom Faulbehälter gezeigt, die er hat einbauen lassen. Irrsinnig spannend, wie du dir vorstellen kannst. Er hat mir mehrmals angeboten, ich könne gern mal für eine Woche oder vierzehn Tage hinfahren, aber das war nicht wirklich ernst gemeint, und außerdem habe ich keine Lust. Und ich werde auch keine Nacht länger unter seinem Dach bleiben als unbedingt nötig.

Gestern abend bin ich mit Philip und Patrick essen gegangen.

Ich hatte Philip seit mehr als zwei Jahren nicht gesehen, und vermutlich ist es in dieser Situation völlig normal, daß eine Ex-Ehefrau ihren Ex-Ehemann betrachtet und sich fragt, was in Gottes Namen sie je dazu gebracht hat, diesen Mann zu heiraten. Das meine ich vor allem in physischer Hinsicht. Während meines Studiums bin ich fast ein Jahr in Mantua gewesen, 1981, glaube ich – mein Gott, ich glaube es kaum, daß ich diese Zahl schreibe! –, und damals umschwärmten mich junge Italiener, die meisten umwerfend gutaussehend, und alle haben mich angefleht, mit ihnen ins Bett zu gehen. Ein ganzer Haufen halbwüchsiger Mastroiannis in der Blüte ihrer Sexualität, die vor Begehren gestammelt haben, um es mal ganz offen zu sagen. Als Engländerin war ich für sie auf eine Art exotisch, die in Birmingham unvorstellbar gewesen wäre, und ich hätte absolut freie Wahl gehabt. Ich hätte sie alle vernaschen können, einen nach dem anderen. Und für was habe ich mich statt dessen entschieden? Oder besser: Für wen? Für Philip. Philip Chase, den blassen, vertrottelten Philip Chase mit seinem dünnen, rotblonden Bart und seiner Hornbrille, der mich eine Woche besuchen wollte und es irgendwie schaffte, mich schon am zweiten Tag ins Bett zu kriegen, und der mein Leben schließlich völlig umkrempelte, zwar nicht für immer, vermute ich mal, aber trotzdem radikal... grundlegend... ich weiß auch nicht. Mir fehlt gerade das passende Wort. Aber manchmal ist ein Wort so gut wie das andere. Ob es einfach nur daran lag, daß wir zu jung waren? Nein, das wäre ungerecht. Von allen Jungs, die ich bis dahin kennengelernt hatte, war er am offensten, am sympathischsten und am wenigsten arrogant (Doug und Benjamin kreisten auf unterschiedliche Art permanent um sich selbst!). Außerdem ist Phil unglaublich anständig: Er ist absolut verläßlich und vertrauenswürdig. Er hat unsere Scheidung wunderbar glatt über die Bühne gebracht – ein zweischneidiges Kompliment, ich weiß, aber solltest Du Dich je von jemandem scheiden lassen wollen... dann ist Philip Dein Mann.

Und Patrick, nun ja... Ich möchte Pat natürlich so oft wie möglich sehen, während ich hier bin. Er ist schon ziemlich erwachsen. Wir haben einander regelmäßig geschrieben und gemailt, und letztes Jahr ist er für ein paar Tage nach Lucca gekommen, aber trotzdem – es überrascht mich jedesmal, wie er sich verändert hat. Ich kann dir gar nicht sagen, was für ein komisches Gefühl es ist, diesen Mann anzuschauen – so kommt er mir jedenfalls vor, obwohl er erst fünfzehn ist –, diesen großen (ziemlich mageren, ziemlich blassen, ziemlich melancholischen) Mann, und gleichzeitig zu wissen, daß er früher einmal... in mir drin war, wenn du verstehst, was ich meine. Er scheint eine sehr gute Beziehung zu seinem Vater zu haben. Ich habe sie um die Unbeschwertheit beneidet, mit der sie sich unterhalten und Witze gerissen haben. Vielleicht nur männliches Getue. Aber nein, da schwang mehr mit. Ich merke, daß Philip und Carol sich gut um ihn kümmern. In der Hinsicht kann ich nicht meckern. Vielleicht bin ich ein bißchen eifersüchtig, das ja. Aber schließlich war es meine Entscheidung, noch einmal mein Glück in Italien zu versuchen und Pat bei seinem Vater zu lassen. Meine Wahl.

Und nun komme ich zur letzten Neuigkeit. In gewisser Weise ist sie am wichtigsten – vielleicht auch am verstörendsten. Ich habe Benjamin wiedergesehen. Vor zirka einer Stunde. Und unter den merkwürdigsten Umständen.

Was ich am Abend zuvor über Ben erfahren hatte, war sehr ernüchternd. Er arbeitet immer noch bei derselben Firma – inzwischen als leitender Angestellter, aber das gehört sich nach all der Zeit wohl auch so –, und er ist immer noch mit Emily verheiratet. Kinderlos, aber danach wagt inzwischen niemand mehr zu fragen. Phil hat behauptet, sie hätten alles mögliche versucht und sich sogar um ein Adoptivkind bemüht. Die Ärzte ratlos usw. usf. Offenbar ist keinem von beiden die Schuld daran zu geben (was wohl heißt, daß insgeheim jeder dem anderen die Schuld gibt). Und in Benjamins Fall verhält es sich mit den Kindern wie mit dem Schreiben: Er brütet (!) seit Jahren irgendein umwerfendes Meisterwerk aus, aber bislang hat niemand ein Wort davon gelesen. Rührenderweise sind trotzdem alle überzeugt, daß es irgendwann dieser Tage erscheinen wird.

Soweit die Einleitung. Und nun stell dir vor, wie ich im Waterstone’s in der High Street in den Geschichtsbüchern stöbere. Erst anderthalb Tage wieder da, und schon fällt mir kein besserer Zeitvertreib mehr ein. Ich stehe dicht bei der Ecke, die man für die ewigen Kaffeekonsumenten abgeteilt hat. Aus den Augenwinkeln sehe ich ein Mädchen, das mit dem Gesicht zu mir an einem Tisch sitzt – sehr hübsch, auf eine zerbrechliche Art –, und ihr gegenüber, mit dem Rücken zu mir, sitzt ein grauhaariger Mann, den ich zunächst für ihren Vater halte. Ich schätze das Mädchen auf neunzehn oder zwanzig. Ihre Kleidung ist ein bißchen à la Gothic, und sie hat wunderschönes Haar, schwarzes Haar, dick und lang und glatt, das ihr halb den Rücken hinunterreicht. Ich schenke den beiden keine weitere Beachtung, doch als ich zu einem der Büchertische gehe, sehe ich, wie sie sich bückt, um etwas aus der Tasche zu holen, und dabei rutscht ihr schwarzes T-Shirt hoch und entblößt ihre Taille, und ich bemerke, auf welche Art der Mann dies registriert – hastig, heimlich –, und da erkenne ich ihn: Es ist Benjamin. Im Anzug – ein komischer Anblick für mich, aber er muß heute natürlich arbeiten, und wahrscheinlich hat er sich nur für kurze Zeit aus dem Büro abgeseilt –, und in diesem Augenblick wirkt er völlig... Wie heißt es gleich? Diesmal gibt es ein Wort, ein Wort, das absolut treffend beschreibt, wie Männer in einer solchen Situation wirken...

Ah, jetzt fällt es mir ein: »Weggetreten«. Das Wort beschreibt ganz genau, wie Benjamin gerade wirkt.

Und dann bemerkt er mich, und die Zeit vergeht plötzlich langsamer – wie immer, wenn man jemanden sieht, mit dem man nicht rechnet und den man seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hat, und in beiden Menschen fängt etwas an zu arbeiten, man versucht, seine Erwartungen an diesen Tag neu zu ordnen... Und dann gehe ich zu den beiden an den Tisch, und Benjamin steht auf und hält mir die Hand hin, wirklich unfaßbar, er hält mir die Hand hin, damit ich sie schütteln kann. Was ich selbstverständlich nicht tue. Ich gebe ihm statt dessen einen Kuss auf die Wange. Und er wirkt verwirrt, es scheint ihm peinlich zu sein, und er stellt mich umgehend seiner Bekannten vor, die nun auch aufsteht, und wie sich herausstellt, heißt sie Malvina.

Also – was hat all das zu bedeuten? Was geht hier vor? Nach fünf Minuten zäher Unterhaltung – deren Inhalt mir komplett entfallen ist – bin ich auch nicht klüger. Doch da sich in den letzten paar Tagen bereits ein Muster herauskristallisiert hat, habe ich plötzlich etwas in der Hand, das ich vorher nicht in der Hand hatte. Einen Flyer. Einen Flyer für eine weitere Veranstaltung am Montag, dem 13. Dezember. An dem Abend spielt Benjamins Band.

»Habt ihr die Band nicht schon vor Urzeiten aufgelöst? « frage ich.

»Wir haben uns noch mal zusammengetan«, erklärt er. »Der Pub feiert ein Jubiläum. Zwanzigjahre Live-Musik. Wir haben dort immer gespielt, und man hat uns um einen letzten Auftritt gebeten.«

Ich schaue wieder auf den Flyer und lächele. Jetzt fällt mir auch der Name von Benjamins Band ein – »Saps at Sea«. Eigentlich der Titel eines Filmes mit Laurel und Hardy, wie er mir einmal erzählt hat. Wäre schon lustig, die Band wieder zu hören, obwohl seine Musik eigentlich nicht mein Fall war. Doch ich meine es ehrlich, als ich sage: »Wenn ich noch da bin, komme ich. Aber vielleicht bin ich dann schon weg aus Birmingham.«

»Ach, komm doch bitte«, sagt Benjamin. »Bitte komm.«

Dann geben wir das übliche, förmliche Zeug von uns, wie schön, dich wiedergesehen zu haben und so weiter, und im nächsten Moment bin ich draußen, ohne daß ich mich noch einmal umgeschaut hätte. Ja, gut – einmal habe ich mich doch umgeschaut. Lange genug, um zu sehen, wie Benjamin sich zu Malvina beugt – die er mir als ›Bekannte‹ vorgestellt hat, mehr habe ich nicht über sie erfahren –, ihr den Flyer zeigt und ihr etwas dazu erzählt. Sie berühren sich über den Tisch hinweg beinahe an der Stirn. Und als ich so schnell wie möglich verschwinde, denke ich nur: Benjamin, Benjamin, wie kannst du das der Frau antun, mit der du seit sechzehn Jahren verheiratet bist?

Klassentreffen

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