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Leben im Luxus

Hyatt Regency Hotel

Birmingham

13. Dezember 1999

Spätnachts

In diesem Hotel bin ich wieder zu mir selbst gekommen. Keine Ahnung, wieso, denn ich war nie besonders gut darin, mit den Augen zu klimpern und das hilfsbedürftige Frauchen zu spielen. Doch als ich gestern nachmittag hier ankam – und wohl ziemlich fertig aussah –, nur mit ein paar Kleidern, die ich in eine Reisetasche gestopft hatte (den Rest meiner Sachen habe ich erst einmal bei Dad gelassen), stand einer der Junior-Manager hinter der Rezeption, und er hat mir einen riesigen Gefallen getan. Er sagte, im Moment seien alle Vorstandssuiten frei, und ich könne gern eine davon haben. Und ich kann dir sagen, liebe Schwester, es ist herrlich. Nach vier grauenhaften Tagen in Dads puritanisch kargem Haushalt kann ich mich endlich entspannen und das Leben genießen. Die eine Hälfte der Zeit habe ich im Bad verbracht, die andere Hälfte damit, die Minibar zu plündern. Das will natürlich alles bezahlt sein, aber es ist der letzte kleine Luxus, den ich mir gönne, bevor ich mich ernsthaft daranbegebe, mein Leben neu zu ordnen. Jetzt glitzern die Lichter Birminghams unter mir, und ich habe plötzlich das Gefühl, als stünde mir die ganze Welt offen.

Ich erzähle Dir jetzt noch von diesem Abend, dann lasse ich Dich in Frieden.

Also: Vor ein paar Stunden beschließe ich, doch so anständig zu sein, mir Benjamins Band anzuhören. Der Pub, in dem sie spielen, The Glass and Bottle, liegt nur fünf Minuten zu Fuß von hier am Kanal. Phil und Patrick werden da sein und auch Emily – höchste Zeit, mal wieder mit ihr zu reden. Es besteht keine Gefahr, Doug Anderton über den Weg zu laufen, weil er gerade in London in der Queen Elizabeth Hall (natürlich ein etwas prestigeträchtigeres Etablissement als The Glass and Bottle, diesen Gedanken kann ich mir dann doch nicht verkneifen, aber was soll’s) vom alten Jahrhundert Abschied nimmt. Also habe ich im Grunde keine Ausrede dafür, dem Konzert fernzubleiben.

Trotzdem überlege ich unterwegs, warum ich mich innerlich dagegen sträube, mich heute abend unter das Publikum zu mischen. Es hat weder mit meinem Musikgeschmack noch mit dem Gefühl zu tun, daß es auf eine etwas morbide Art nostalgisch werden könnte. Ich versuche, ehrlich mit mir selbst zu sein, und ich weiß, daß es – wenigstens teilweise – daran liegt, daß ich in der Schulzeit ein bißchen in Benjamin verknallt war und es noch jetzt, nach all den Jahren, komisch fand, ihm im Buchladen über den Weg zu laufen. Nicht nur wegen seiner Bekannten oder weil deutlich war, daß ich bei etwas störte, das mehr als nur ein Treffen zweier guter Freunde war. Nein, da war noch etwas, und eigentlich kann ich es kaum fassen, weil ich seit mehr als zehn Jahren keinen Gedanken mehr an Benjamin verschwendet habe (wirklich), aber trotzdem war es da – ein zäher, kleiner Rest dessen, was ich einmal für ihn empfunden habe. Das ist doch ärgerlich – und auch irgendwie deprimierend, oder? Und es ist wirklich die letzte Erkenntnis, die ich im Moment gebrauchen kann. Im Moment ist es für meine Gesundheit, für mein seelisches Gleichgewicht und für mein Überleben am wichtigsten, daß ich Stefano so rasch und vollständig wie möglich vergesse. Aber wenn das unmöglich ist? Wenn diese Gefühle nie vergehen? Bin ich da nur ein Einzelfall – ein hoffnungsloser Einzelfall –, oder hat im Grunde jeder das gleiche Problem?

Ich stoße die Pubtür auf und vertausche das frostige Dunkel des Kanalufers mit einer Flut von Licht und warmer Luft und einem lauten Durcheinander von Stimmen.

Patrick sieht mich sofort, kommt zu mir, gibt mir einen dicken Kuss. Phil unterhält sich mit Emily. Wir fallen einander in die Arme. Hi, Emily, toll, dich zu sehen, ist ja eine Ewigkeit her und so weiter und so fort. Sie hat sich kein bißchen verändert. Keine grauen Haare (oder sie hat einen erstklassigen Friseur), immer noch eine gute Figur, sie wirkt sogar weniger pummelig als früher. (Gemeinerweise denke ich, daß es für kinderlose Frauen leichter ist, nicht aus den Fugen zu gehen.) Ich bitte um eine Bloody Mary, und Phil geht sie holen. (Man hat schon gemerkt, daß Patrick noch mindeijährig ist – leicht zu merken, um ehrlich zu sein –, und weigert sich, ihn zu bedienen.)

Der Pub ist ziemlich voll. »Sind alle wegen der Musik hier?« frage ich. Philip nickt. Er hat gute Laune, ist stolz, daß so viele Leute wegen Benjamin gekommen sind. Ich habe ja schon erzählt, daß Philip immer der anständigste von uns allen war. Die Demographie der Menge zu bestimmen, ist nicht schwierig: fast alles Männer, kurz vor dem mittleren Alter. Überall Bauchansatz. Die meisten Bandmitglieder haben inzwischen allerdings Familie, und deshalb gibt es auch Ehefrauen und einige verwirrt aussehende Teenager. Insgesamt sind es ungefähr sechzig oder siebzig Leute. Sie bilden Grüppchen und streben langsam der Bühne hinten in der Ecke des Pubs zu, auf der sich die Band bereitmacht. Benjamin sitzt an seinem Keyboard, runzelt konzentriert die Stirn, auf der ihm schon der Schweiß steht, drückt Knöpfe. Die Decke ist niedrig, und wahrscheinlich ist es heiß dort oben im Scheinwerferlicht. Ich sehe mich nach Malvina, seiner Bekannten, um und entdecke sie in einer anderen Ecke, sie sitzt allein an einem Tisch. Wir haben kurz Blickkontakt, mehr nicht. Ich weiß nicht, was sich hier gehört. Sie geht auf niemanden zu, wahrscheinlich sieht sie die Leute hier zum erstenmal. Soll ich sie vorstellen? Nein, zu riskant – ich möchte eine Situation, die schon ambivalent ist, nicht noch schwieriger machen. Ich frage mich, ob Emily von dieser Frau weiß, ob Benjamin ihr je von ihr erzählt hat. Ich wette, nicht. Emily betrachtet ihn gerade, wie er auf der Bühne sitzt, sie ist wie gebannt, sie verehrt ihren Helden. Er schließt ein Keyboard an einen Verstärker an und stellt einen Klavierstuhl auf, mehr nicht. Er bastelt kein Streichholzmodell von Westminster Abbey, er hackt auch keine Skulptur aus einem Eisblock oder so etwas in der Art. Trotzdem bewundert sie ihn immer noch und das nach sechzehn Jahren Ehe. Ich hätte wirklich nie damit gerechnet, daß die beiden es so lange miteinander aushalten. Aber irgendwie ist es nachvollziehbar: Benjamin sind Trennungen immer schwergefallen, weil er Streit und alles Schwierige haßt. Sein unausgesprochenes Lebensmotto lautet: Hauptsache, ich habe meine Ruhe, und das Leben mit Emily dürfte tatsächlich sehr ruhig sein. Aber eigentlich passen sie nicht gut zusammen. Ich fand immer, daß Benjamin sehr um sich selbst kreist. Damit meine ich nicht, daß er eigennützig oder (bewußt) verletzend wäre, sondern daß er sich seiner selbst sehr stark bewußt ist – im guten Sinne – und im Grunde keine andere Gesellschaft außer der eigenen braucht. Auf jeden Fall gibt er sich nicht uneingeschränkt hin. Emily ist da ganz anders. Sie hat Freude daran, sich ihren Freunden voll und ganz hinzugeben, und ich schätze, daß sie sich in einer Beziehung oder Ehe vorbehaltlos öffnet und hingibt und nichts von sich zurückhält. Sie hat weder Geheimnisse noch seelische Sperrbezirke. Und ich könnte mir vorstellen, daß es sie irgendwann frustiert hat – soviel von sich zu geben und von Benjamin so wenig zu bekommen. In all den Jahren muß sie solche Enttäuschungen immer wieder erlebt haben, es geht gar nicht anders. Nicht nur, was die Kinder betrifft, die fehlenden Kinder. Ich meine die kleinen Enttäuschungen. Die kleinen Arten, all die vielen Arten, auf die Benjamin sie hat hängen lassen. Im Laufe der Jahre.

Ich weiß, daß ich recht habe. Ich weiß, daß ich richtig liege, was die beiden betrifft. Später am Abend sehe ich es in Emilys Augen.

Der Gig (heißt das so? Es ist ein Wort, das ich nie wirklich ernst nehmen konnte) klappt prima. Ich habe die Band in den Achtzigern ein paarmal gehört, und ich weiß noch, daß mir ihre Musik schon damals ziemlich altmodisch vorkam. Sie spielten diese langen, funkigen Instrumentals, Jahre, bevor der Begriff »Acid Jazz« geprägt wurde, und diese Art von Musik wieder angesagt war. Damals kam sie mir bloß seltsam und anachronistisch vor. Doch heute abend gefällt sie mir sehr. Tolle Percussion – ich glaube, der Drummer hat mit Benjamin in einer Bank oder so gearbeitet, das war die Keimzelle der Band. Auf jeden Fall spielt er gut, genau wie der Bassist, und über diesem soliden Fundament weben Benjamin, der Gitarrist und der Saxophonist schöne, leicht melancholische Melodien (Benjamins Handschrift, vermute ich mal) und improvisieren klug und gekonnt. Keine selbstverliebten Soli, kein langes Herumgereite auf den immer gleichen zwei Akkorden, das das Publikum langweilt und zur Bar abwandern läßt. Nach den ersten zwei oder drei Stücken hören die Leute sogar auf, verlegen im Rhythmus mit den Füßen zu tappen und sich auf der Stelle zu bewegen. Sie tanzen! Wirklich, sie tanzen! Selbst Philip, der zwar ein Vorbild an Anstand und Nettigkeit sein mag, aber bestimmt kein Travolta auf der Tanzfläche ist. Emily tanzt mit vollem Einsatz. Sie ist erstaunlich beweglich. Sie tanzt wirklich mit Leidenschaft und hat ihren Spaß. Sie hat eine ganze Schar Freunde mitgebracht (»Kirchenkreisleute«, wie Phil meint), und mitten in einem Stück, das gerade den ersten Höhepunkt hinter sich hat und wieder ruhiger geworden ist, wendet sie sich, während die Leute klatschen und jubeln, einem dieser Freunde zu – einem großen, schmalhüftigen, gutaussehenden Mann –, und er beugt sich zu ihr hinab, und sie ruft: »Ich habe dir doch gesagt, daß sie gut sind, oder? Ich habe doch gesagt, daß sie phantastisch sind.«

Sie sieht so glücklich aus.

Ich kann mich nicht überwinden zu tanzen. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht, weil die letzten Tage so seltsam gewesen sind und die letzten paar Monate mich auf eine so lange und anstrengende emotionale Reise geführt haben.

An diesem Abend lastet all das schwer auf mir. Wie dem auch sei – nichts auf der Welt wird mich auf die Tanzfläche bringen. Ich lehne am Rand des Publikums an der Wand und schaue zu, und nach einer Weile gehe ich zur Bar und kaufe mir eine Schachtel Marlboro Lights. Ein Zeichen dafür, wie schlecht es mir geht. Ich habe seit Wochen nicht mehr geraucht. Habe überhaupt erst wieder angefangen, als mich die Sache mit Stefano zu belasten begann – davor war ich vier oder fünf Jahre Nichtraucherin. Ich will mir noch nicht gleich eine Zigarette anzünden, aber es gibt mir ein gutes Gefühl, die Schachtel in der Tasche zu haben, es ist gut zu wissen, daß sie da ist. Früher oder später werde ich eine rauchen wollen. Ich kann spüren, wie das Bedürfnis wächst.

Nach einer halben Stunde verändert sich die Atmosphäre, und ich merke, daß ich besser verschwinde.

Es passiert folgendermaßen: Ein fröhlicher, schneller Song endet mit einem langen Wirbel der Becken und einem lauten Hauptakkord, und dann legen drei Mitglieder der Band ihre Instrumente ab und ziehen sich an den Bühnenrand zurück. Übrig sind nur zwei – Benjamin und der Gitarrist –, und der Gitarrist kündigt das nächste Stück an, bei dem es sich seinen Worten nach um ein Duo handelt. Er sagt, Benjamin habe es geschrieben, und es heiße Seascape No. 4. Dann fangen die beiden an zu spielen, und die Stimmung schlägt um. Die Melodie ist sehr sanft und getragen – fast gefährlich zerbrechlich –, und als Benjamin zu spielen beginnt, nimmt sein Gesicht einen ganz anderen Ausdruck an. Er schaut auf die Tasten des Keyboards, beugt sich dicht darüber, wirkt angespannt und in sich gekehrt, und seine Augen sind halb geschlossen. Obwohl das Stück recht kompliziert ist, muß er sich nicht sehr auf seine Finger konzentrieren, und man ahnt, daß er die Akkorde und den Aufbau des Stückes auswendig kennt – es hat sich seiner Erinnerung so eingebrannt wie der Verlauf einer unvergeßlichen Liebesaffäre –, und deshalb kann er beim Spielen an anderes denken, kann seinen Blick auf anderes richten – in die Vergangenheit, auf das Erlebnis, das ihn zu dieser tieftraurigen Musik inspiriert hat. Oder eher auf den Menschen, der ihn dazu inspiriert hat. Als mir das bewußt wird, schaue ich zu Emily, weil ich wissen möchte, wie sie auf die Musik reagiert; wie sie mit der veränderten Stimmung umgeht, mit der Veränderung, die mit ihrem Mann vorgegangen ist. Und auch sie wirkt verändert. Sie schaut nicht länger bewundernd zur Bühne. Sie blickt zu Boden. Sie lächelt, ja, aber wie! Es ist die Ruine eines Lächelns, ein versteinertes Überbleibsel ihrer Freude an den letzten paar Stücken. Es ist ein erfrorenes Lächeln, leblos und starr, das die tiefe Traurigkeit ihres restlichen Gesichts betont. Ein Blick auf sie, und ich weiß, daß Benjamins Herz gebrochen worden sein mag, einmal, vor vielen Jahren, und zwar von der Frau, deren Erinnerung in diesem Musikstück weiterlebt, daß Emilys Herz im Laufe der Ehejahre jedoch tausendmal einen Knacks bekommen hat, weil sie wußte, daß Benjamin nie über diese kurze, lächerliche, nachhaltig erschütternde Teenager-Liebesaffäre hinweggekommen ist. Vermutlich nicht einmal versucht hat, darüber hinwegzukommen, und genau das ist das eigentlich Verletzende, das wirklich Unverzeihliche an der Sache. Ihm liegt nichts daran, diese Frau zu vergessen. Er versucht gar nicht erst, Emily nicht mehr das Gefühl zu geben, nur die Frau zweiter Wahl zu sein. Die Frau, die er im Grunde nie wirklich wollte. Der Trostpreis für einen Untröstlichen.

Ich betrachte die Mienen der anderen Leute im Publikum und frage mich: Wissen sie nicht, was sie hier erleben, was gerade gespielt wird? Hören sie es denn nicht? Erkennen sie es denn nicht an der betroffenen Blässe, die Emilys Gesicht seit dem Beginn des Stückes überzieht?

Nein. Ich glaube nicht, daß sie es kapieren. Es gibt nur einen weiteren Menschen in diesem Raum, der sich in dieser Musik verliert, davon überwältigt wird, der zu ahnen scheint, aus welchen inneren Tiefen Benjamin das Stück einst heraufgeholt hat, und bei diesem Menschen handelt es sich erstaunlicherweise um Malvina. Sie läßt die Augen nicht von Benjamin, und auch sie wirkt verändert: Sie steht wie unter Strom, sie ist hellwach. Bisher war sie eine Randfigur, hat nicht mitgespielt, war eine distanzierte Beobachterin, aber ich merke, daß dieses Stück sie irgendwie berührt. Zum erstenmal an diesem Abend ist sie innerlich beteiligt – leidenschaftlich beteiligt.

Und wieder stellt sich mir die Frage, die sich mir in den letzten Tagen so oft gestellt hat: Was genau geht zwischen den beiden vor?

Ich schaue sie mir noch einmal an, die beiden Frauen, die Benjamin (bestimmt ohne Absicht) mit seiner Musik quält, und ich weiß, daß ich sofort raus muß aus diesem Pub. Ich mache Patrick ausfindig und ziehe ihn am Arm, und als er sich zu mir umdreht, lege ich ihm eine Hand ans Ohr und sage, ich wolle los, und wir verabreden uns für morgen, wenn an seiner Schule Mittagspause ist. Dann bin ich weg.

Ein paar Minuten später stehe ich am Rand des Kanals. Der Treidelweg ist schon teilweise von Rauhreif bedeckt, und manchmal wellt sich das schwarze Wasser geheimnisvoll, und die Spiegelungen blasser Lichter zerbrechen in tanzende Fragmente. Der Rauch meiner Zigarette kräuselt sich in der Luft, und der Nachgeschmack des Tabaks in meiner Kehle ist bitter, scharf und reinigend.

Ich habe das Gefühl, ganz genau zu wissen, wie es in den Jahren, in denen ich nicht hier war, zwischen Benjamin und Emily gewesen ist. Wie einfach es manchmal ist, eine ganze Lebensgeschichte aus einem einzigen, unverhüllten Moment herauszulesen. Man muß nur in die richtige Richtung schauen. Am rechten Ort zur rechten Zeit. Aber wenn ich ehrlich mit mir bin, weiß ich das längst. Ich habe es vor ein paar Wochen in Lucca begriffen. Nicht in einem Pub. Nicht bei einem Wiedersehenskonzert alter Jazzer. Sondern in der örtlichen Gastronomia. Es war früher Abend, ich war allein unterwegs, und dabei entdeckte ich Stefano und seine Tochter Annamaria, die sich gerade zwischen zwei Olivensorten zu entscheiden versuchten.

Eine ganz banale Sache, wenn man darüber nachdenkt. Eine, die nichts Ungewöhnliches hat. Natürlich verspürte ich als erstes den Impuls, auf ihn zuzugehen. Warum auch nicht? Es wäre ganz normal gewesen. Wir waren für den übernächsten Tag zum Mittagessen verabredet. Annamaria hatte ich zwar noch nicht kennengelernt, aber das war es nicht, was mich abhielt. Was mich zunächst abhielt, war, daß Stefano gerade jemanden mit seinem Handy zu erreichen versuchte. Ich beschloß zu warten, bis er fertig war, bevor ich auf ihn zuging, bevor ich ihn begrüßte.

Unsere Beziehung (noch einmal: Ist es das richtige Wort? Ich glaube, es gibt keines für dieses seltsame Miteinander) ging zu dem Zeitpunkt schon drei Monate. Trotz aller Versprechen war Stefanos Frau weiter untreu. Er drohte ihr immer wieder damit, sie zu verlassen. Wenn wir darüber sprachen, weigerte ich mich jedesmal, ihm einen Rat zu geben. Ich wußte, daß ich nicht unparteiisch wäre. Es lag ja in meinem Interesse, daß er seine Frau verließe. Nein – um es weniger sachlich auszudrücken: Ich wünschte mir sehnlichst, daß er sie verließe. Das wünschte ich mir von ganzem Herzen. Aber ich hielt den Mund. Verrückterweise war ich in die Rolle einer alten Freundin geraten, und in dieser Rolle konnte ich nur schweigen. Also machten wir weiter mit unseren Essen und Drinks, unserem unausgesprochenen Verlangen und den höflichen, leidenschaftslosen Küssen, die Anfang und Ende unserer Verabredungen markierten. Und was die Traurigkeit und den Schmerz betraf – beides Folgen dessen, was ich für Stefano empfand –, so versuchte ich, beides zu verdrängen. Ich wollte unbedingt die Heldin spielen. Was dumm von mir war, natürlich, und vermutlich hielt ich nur deshalb durch, weil ich insgeheim glaubte, meine Geduld würde eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft belohnt werden.

Die Person, die Stefano anzurufen versuchte, ging nicht ran. Ich hörte, wie er zu Annamaria sagte: »Nein, sie ist nicht da.« Und Annamaria sagte zu ihm: »Weißt du denn nicht mehr, welche sie mag, Papa?« Sie betrachteten zwei Schalen mit dicken, grünen Oliven, die auf einer Selbstbedienungstheke standen, und Stefano konnte sich nicht entscheiden. Er zögerte, aber es war kein normales Zögern. Überhaupt nicht. Nein – es war ihm wirklich, wirklich wichtig, die Oliven zu kaufen, die seine Frau am liebsten mochte. Und ich begriff schlagartig, daß das Glück ihres gemeinsamen Lebens auf kleinen, alltäglichen Entscheidungen wie dieser beruhte. Was hieß, daß ich an diesem Zögern – in jenem Moment – mit niederschmetternder Deutlichkeit erkannte, wie stark seine Liebe für diese Frau war, eine Liebe, die er immer noch für sie empfand, obwohl sie ihn so oft betrog, eine Liebe, die er – wie ich in den zurückliegenden, bleiernen Wochen gehofft hatte – eines Tages auf mich übertragen würde. Diese Hoffnung flackerte und erlosch mit einem Wimpernschlag, in einem winzigen Sekundenbruchteil. In der einen Sekunde war sie da, in der nächsten war sie weg. Und als sie weg war, brach ich innerlich zusammen. Als ich mich von Stefano und seiner Tochter abwandte, war ich ein anderer Mensch – Welten von der Frau entfernt, die gerade unbeschwert durch die Gänge der Gastronomia geschlendert war und gleich Vater und Tochter hatte begrüßen wollen. Und was diese plötzliche und furchtbare Erkenntnis mit sich brachte, war dies: Die feste Überzeugung, daß Stefano seine Frau nie verließe. Nicht, solange sie beide lebten.

Oliven. Wer hätte das gedacht. Ich frage mich, für welche Sorte er sich schließlich entschieden hat.

Ach, ja.

Die Zigarette ist aufgeraucht, und ich werfe sie ins marmorne Schwarz des Kanalwassers. Die Kälte kriecht mir in die Knochen, und ich weiß, daß ich wieder rein muß, zurück in die Wärme und den Luxus der Hotelsuite.

Genug gegrübelt, es reicht.

Nun sitze ich hier an meinem lederbezogenen Tisch in der dreiundzwanzigsten Etage des Regency Hyatt – der letzte und beste meiner Aussichtspunkte! –, blicke auf die Lichter einer Stadt, die neuerdings wieder vor Leben sprüht, emsig dabei ist, sich neu zu erbauen und neu zu erfinden, und bin froh, daß ich heute abend in den Pub gegangen bin, um Benjamin spielen zu hören. Und weißt du, warum? Weil mir in einem kostbaren Moment bewußt wurde, daß Benjamin immer noch keinen Boden unter den Füßen hat, immer noch an der Vergangenheit hängt. Ich sah den Schmerz, den er dadurch anderen zufügt, und mir wurde klar, daß ich so nicht leben kann. Ich rede jetzt nicht von Stefano, ich rede – leider, vielgeliebte Schwester – von Dir. In all den Jahren bist Du meine stille Begleiterin gewesen, und in all der Zeit habe ich gehofft, meine Worte könnten Dich irgendwie erreichen, aber ich merke, daß es höchste Zeit ist, diesen Traum aufzugeben. Morgen werde ich aus diesem Hotel auschecken und mich in eine andere Stadt begeben, und heute nacht werde ich diesen Brief endlich beenden – diesen langen, langen Brief, den ich nie abschicken werde, weil es im Grunde keinen Adressaten gibt –, und wenn ich fertig bin, werde ich das venezianische Notizbuch zuklappen, in das ich ihn geschrieben habe, und es an einem sicheren Ort verwahren. Vielleicht wird es eines Tages von jemand anderem gelesen werden. Ich wünschte mir sehr, Du wärest dieser Jemand. Aber heute abend habe ich endlich begriffen, wie sehr mich dieser Wunsch behindert. Der Wunsch, Du mögest mich hören. Der Wunsch, Du läsest meine Worte. Der Wunsch, Du wärst noch am Leben.

Ich muß neu anfangen. In jeder Hinsicht. Und das bedeutet, daß ich als erstes das Allerschwerste tun muß – genau das, wogegen ich mich die ganze Zeit innerlich aufgelehnt habe: Ich muß die Hoffnung aufgeben.

Kann ich sie aufgeben?

Ich glaube schon. Ja, ich kann es.

Ja. Fertig. Ich habe es getan.

Und dafür, liebe Miriam, vergib bitte

Deiner Dich liebenden Schwester

Claire.

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