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Wenig mehr als zwei Wochen später, am Nachmittag des 15. März 2000, einem Mittwoch, schlug die Abendausgabe der Evening Mail wie eine Bombe in den Straßen Birminghams ein. Die explosive Schlagzeile lautete: »DOLCHSTOSS IN DEN RÜCKEN«.

Der dazugehörige Artikel war starker Tobak. Offenbar sollte der Autohersteller Rover von seinem deutschen Eigentümer, BMW, verkauft werden, was für das Werk von Longbridge, vor den Toren Birminghams, massive Arbeitsplatzverluste bedeutete. Und dies, obwohl der Fortbestand von Rover – wie jeder glaubte – im vorangegangenen Jahr durch einen Regierungszuschuß von 152 Millionen Pfund garantiert worden war und das Management von BMW wiederholt versichert hatte, den angeschlagenen Hersteller auf jeden Fall halten zu wollen. Der Labour-Abgeordnete von Northfield, Richard Burden, wurde mit den Worten zitiert: »Sollte BMW von seinen bisherigen, offiziell verkündeten Plänen für Longbridge abweichen, so wäre dies ein krasser Vertrauensbruch. Dies kommt aus heiterem Himmel. Dies bedeutet, die Existenz von fünfzigtausend Menschen aufs Spiel zu setzen, deren Jobs von Longbridge abhängen. BMW hat sich den Bürgern Großbritanniens verpflichtet, und die Bürger Großbritanniens haben sich BMW verpflichtet. Es ist an beiden Seiten, sich an diese Verpflichtung zu halten.«

Am späten Nachmittag des nächsten Tages loggte sich Philip Chase früher als sonst aus seinem Computer aus und fuhr nach Longbridge, weil er aus eigener Anschauung wissen wollte, wie es um die Stimmung der Belegschaft und der Leute vor Ort bestellt war. Seine Kollegen von der Wirtschaftsredaktion waren an diesem Morgen nach München geflogen, um an einer Pressekonferenz des BMW-Vorstands teilzunehmen. Sie übermittelten immer schlechtere Neuigkeiten. Offenbar sollte sogar Land Rover, der prestigeträchtigste Teil des Rover-Imperiums, aufgelöst und das Werk selbst einer kleinen Risikokapitalgesellschaft namens Alchemy Partners zum Kauf angeboten werden, von der bereits zu hören war, daß sie den allergrößten Teil der Arbeiter von Longbridge entlassen und nur so viele behalten wolle, wie man für die Produktion exklusiver Sportwagen brauchte. Der Rest des Werkes sollte umgewandelt werden, möglicherweise in ein neues Wohnviertel. Doch wer sollte hier noch wohnen, wenn es keine Arbeit mehr gab?

An diesem Nachmittag war vor dem Südtor des Werkes nicht viel los. Es wehte ein schneidender Märzwind, der Himmel war grau und bedeckt, und die wenigen von der Schicht kommenden Arbeiter, mit denen Philip sprechen konnte, hatten mehr oder weniger das Gleiche zu sagen: Sie seien »am Boden zerstört« oder »völlig am Ende«, und die Entscheidung dieser »deutschen Schweine« sei ein »Schlag ins Gesicht«. Philip hatte seinen Job nach wenigen Minuten erledigt: Diese Zitate reichten aus, obwohl er sie sich auch am Schreibtisch hätte ausdenken können. Doch er wollte noch bleiben. Er hatte das Gefühl, als würde hier Geschichte geschrieben – bedrückende, deprimierende Geschichte, natürlich, aber trotzdem etwas, das bezeugt und festgehalten werden wollte. Da ihm die Kälte langsam in die Knochen kroch, wickelte er sich fester in seinen Regenmantel und ging die Bristol Road bergauf. Kurz vor der Bushaltestelle der Linie 62 bog er nach rechts zum Pub ab, The Old Hare and Hounds. Als er die Tür öffnete und eintrat, erkannte er den Laden erst nicht wieder, denn seit seinem letzten Besuch hatte man den Innenbereich neu gestaltet, um Gäste aus der Mittelschicht anzulocken. Statt der uralten Eichentische und des fast undurchdringlichen Zwielichts fand er eine ganze Reihe kleinerer, bequemerer Sitzgruppen vor, an den Wänden standen Bücher, und in jeder Ecke flackerte ein künstliches Kaminfeuer.

In einer dieser Ecken drängte sich eine Schar von mindestens zwanzig Männern, die mit unterdrückter, aber deutlich spürbarer Wut die letzten Neuigkeiten aus München diskutierten. Philip ging zu ihnen und stellte sich vor. Viele Männer kannten seinen Namen, und wie er erwartet hatte, waren sie hocherfreut, mit einem ortsansässigen Journalisten sprechen zu können. Schon nach kurzer Zeit kam die Rede auf die ersten Reaktionen von Medien und Labour Party auf die sich immer weiter zuspitzende Krise, und die Stellungnahme Richard Burdens erntete große Zustimmung. Im Anschluß fragte jemand: »Und was ist mit Paul Trotter?«

»Wer?« fragten mindestens vier oder fünf andere Stimmen.

»Paul Trotter. Was hat er zu der Sache zu sagen?«

»Sein Wahlkreis ist doch meilenweit weg.«

»Klar, aber er kommt von hier, oder? Ist hier in der Gegend aufgewachsen. Ich kenne seinen Dad noch von der Arbeit im Werk. Was hat er dazu zu sagen?«

»Kein Problem, das wissen wir gleich«, sagte Philip und holte sein Handy hervor. »Ich rufe ihn an.«

Er suchte Pauls Nummer in seinem Telefonbuch und drückte die Wähltaste. Beim vierten oder fünften Klingeln antwortete eine weibliche Stimme. Philip stellte sich als Journalisten der Post vor, der früher mit dem Parlamentsabgeordneten zur Schule gegangen sei, und nach einigem Hin und Her wurde er weitergereicht.

»Ich würde gern wissen«, sagte er zu Paul, »was Sie zu den gestrigen Neuigkeiten aus Birmingham meinen.«

Im Pub trat Stille ein, weil die um den Tisch versammelten Männer den Hals reckten und vergeblich versuchten, Pauls Worte mitzuhören. Anfangs verzog Philip keine Miene, dann wirkte er verwirrt.

»Damit ich Sie richtig verstehe, Paul«, sagte er, bevor er das Gespräch beendete. »Sie behaupten, sehr froh über diese Neuigkeiten zu sein, richtig?« Aus dem Handy drangen noch ein paar laute, entschiedene Worte, und Philip klang eindeutig spöttisch, als er abschließend sagte: »Gut, Paul, vielen Dank für Ihre Stellungnahme. Viel Glück für heute abend.«

Er klappte das Handy zu und legte es vor sich auf den Tisch, die Stirn in tiefe Falten gelegt.

»Und?« fragte jemand.

Philip ließ seinen Blick über die Runde gespannter Gesichter gleiten und berichtete seinen Zuhörern anschließend mehr als verdutzt: »Er meint, das seien gute Neuigkeiten für die Wirtschaft, gute Neuigkeiten für Birmingham und gute Neuigkeiten für das ganze Land.«

Als Philip anrief, saß Paul in London im Schminkraum eines Fernsehstudios an der South Bank, die Wangen rosa von frisch aufgetragenem Rouge. Longbridge war das letzte, woran er dachte. Er übte gerade im Kopf einen Witz über Schokolade.

Die Sache hatte am Tag zuvor mit einem Anruf Malvinas ihren Anfang genommen.

»Du bist drin«, sagte sie. »Diese Woche. Morgen nachmittag ist Aufzeichnung.«

»Wo drin?« fragte Paul, und sie erinnerte ihn an ihr Versprechen, ihm einen Auftritt in einer satirischen Fernsehshow zu besorgen: Eine wöchentliche Runde, in der junge Komiker bissige Witze über die neuesten Nachrichten rissen, manchmal im Beisein eines wichtigen Politikers. Wenn ein Parlamentsabgeordneter zu dieser Sendung eingeladen wurde, galt das als große Sache, wenngleich er (nur selten eine Sie) sich häufig einer Mauer aus Spott gegenüber sah und nicht immer darauf bauen konnte, mit unbeschädigtem Ruf davonzukommen.

Paul konnte es kaum glauben.

»Sie wollen mich? Du hast sie rumgekriegt? Wie hast du das denn geschafft, um Himmels willen?«

»Habe ich dir doch erzählt – ich kenne jemanden, der dort arbeitet. Er war mal kurz mit meiner Mutter zusammen.« (Offenbar hatte Malvinas Mutter in den letzten paar Jahren häufig den Partner gewechselt, weshalb ihm diese Erklärung durchaus einleuchtete.) »Weißt du nicht mehr? Vor ein paar Wochen habe ich ihm gesagt, du könntest auch kurzfristig bereitstehen, falls jemand ausfällt. Jemand, den sie wirklich haben wollen.«

»Ist ja großartig«, sagte Paul, der nur selten merkte, wenn eine gute Neuigkeit eine versteckte Beleidigung enthielt. Doch dann wurde er auf einmal nervös. »Halt – warte mal. Muss ich da witzig sein?«

»Es ist ja eine Comedy-Show«, erwiderte Malvina. »Da wäre es nicht ganz verkehrt, wenn du ein oder zwei Witze machen würdest.«

»Ich erzähle eigentlich nie Witze«, gestand Paul. »Ich meine ... ich kann nie wirklich nachvollziehen, was andere Leute witzig finden.«

»Tja, dann musst du einen Sinn für Humor entwickeln«, sagte Malvina pragmatisch. »Du hast noch vierundzwanzig Stunden Zeit dafür. Ich an deiner Stelle würde sofort damit anfangen.«

»Und wie?«

»Nimm heute abend alle Zeitungen mit nach Hause«, sagte sie, »mach’s dir gemütlich, lies sie und schau, ob dir zu irgendeinem Thema etwas Witziges einfällt. Such dir am besten eine Sache aus, zu der du eine Beziehung hast, die etwas mit dir zu tun hat. Sei nicht schüchtern, sondern mach ein bißchen Werbung für dich. Und tu so, als wäre dir nichts heilig. Das ist der entscheidende Punkt.«

»Aber jeder in Millbank sieht diese Show. Wahrscheinlich sogar Tony. Vielleicht paßt es den Leuten nicht, wenn mir nichts heilig ist.«

Malvina meinte, er solle sich keine Sorgen machen. Ihr war längst klar, daß Humor nicht Pauls Stärke war. Doch seine Neigung, alles todernst zu nehmen, war eine der Seiten an ihm, die sie reizend fand. Sie machte es so einfach, ihn zu necken.

Wieder in seiner Wohnung, graste Paul den ganzen Abend die Zeitungslandschaft ab und zappte sich durch die Nachrichtenkanäle. Er fand so gut wie nichts Brauchbares. Peter Mandelson, der Nordirland-Minister, hatte den Abzug von fünfhundert Soldaten angekündigt, und British Aerospace hatte einen Zuschuß von 530 Millionen Pfund für die Entwicklung eines Super-Jumbo bekommen, der 2007 der Öffentlichkeit vorgestellt werden sollte. BMW verkaufte das Rover-Werk in Longbridge – eine traurige Sache, natürlich, und irgendwie eine typische Birmingham-Story, aber nicht der Stoff für eine Comedy-Show. Die einzige Nachricht, die in Pauls Augen etwas taugte, war die, daß die EU-Minister sich endlich darauf geeinigt hatten, den Verkauf britischer Schokolade in anderen europäischen Ländern zuzulassen. Bisher hatte es immer geheißen, sie enthalte zuviel Milch und Pflanzenfett und zuwenig Kakaoanteile.

Paul dachte über diese Nachricht nach, und als er zu Bett ging, war er vorsichtig optimistisch, daß sie geeignet sein könnte. Zum einen profitierte in erster Linie das Cadbury-Werk in Bournville von der neuen Regelung, und indem er sie erwähnte, spräche er für Birmingham, seine Heimatstadt, wo man ihm eher mit Mißtrauen begegnete und wo er fast immer eine schlechte Presse bekam. Zum anderen war es eine positive, herzerfrischende Story über ein beliebtes britisches Produkt, und eigentlich konnte er damit bei der Parteiführung nur punkten. (Ganz anders als mit der elenden Longbridge-Sache.) Er mußte sich also nur noch einen Witz zu diesem Thema ausdenken und dafür sorgen, daß er ihn irgendwie in der Sendung unterbrachte.

»Und? Hattest du eine Idee?« fragte Malvina am nächsten Tag, als ihr Taxi anhielt und sich durch den zähen Verkehr der Londoner Innenstadt zur South Bank durchzukämpfen begann.

»Noch keine richtig gute«, gestand Paul. »Das einzige, was mir eingefallen ist – gibt es da nicht diese ... alte Cockney-Redewendung oder so: ›Ich bin coco‹?«

Malvina nickte bedächtig.

»Was bedeutet sie?« fragte er.

»Sie bedeutet: ›Ich bin d’accord‹.«

»Gut, dann kann ich das doch sagen.« Und als er ihren verständnislosen Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Das wäre ein Wortspiel. Ein Wortspiel mit ›Kakao‹.«

»Ja.« Sie nickte wieder und schien ungewohnt ernsthaft über seine Worte nachzudenken. »Und wann genau willst du das sagen? Wann im Laufe der Sendung... willst du das anbringen?«

»Vielleicht reden wir ja über diese EU-Geschichte«, erklärte Paul, »und dann würde einer der anderen Gäste zu mir sagen: ›Was ist mir dir, Paul? Magst du britische Schokolade?‹ Und...« Er verstummte und merkte, wie ihm das Selbstvertrauen abhanden kam, weil Malvina ihn immer noch verständnislos anstarrte. »Das wäre ..., wenn ich das sagte ...«

»Nach allem, was ich weiß«, erwiderte sie nach einer langen, bedeutsamen Pause, »haben sie Witzeschreiber am Set. Die können dir bestimmt helfen, wenn du Probleme bekommst.«

Paul wandte sich beleidigt ab und sah aus dem Taxifenster. »Im Zusammenhang wird es witzig sein«, sagte er. »Warte nur ab.«

Als er später am Nachmittag auf seinem Schminkstuhl saß, dachte er immer noch über den Witz nach. Die letzten zwei Stunden, die er mit Proben und steifem Small talk mit den anderen Gästen der Sendung verbracht hatte, hatten seine Nervosität noch weiter gesteigert. Er verstand diese Leute nicht, er sprach nicht ihre Sprache und wußte die Hälfte der Zeit nicht, ob sie gerade witzelten oder es ernst meinten. Man hatte ihm eine Liste mit Fragen gegeben, die dieser Fernsehposse als Grundlage dienen sollten, und er stellte mit Schrecken fest, daß das Thema des europaweiten Verkaufs britischer Schokolade nicht darunter war. Er hatte einen der Regisseure auf die Sache angesprochen und ihm seinen ›Ich bin coco‹-Witz vorgeführt, jedoch nur verblüfftes Schweigen geerntet.

»Er hat mich einfach ignoriert«, beklagte sich Paul bei Malvina. Sie saß neben ihm auf einem Stuhl, als er vor einem hell erleuchteten Spiegel auf die Rückkehr des Make-up-Mädchens wartete, das ans Telefon gerufen worden war. »Er hat mich nur wortlos angestarrt.«

»Ich wünschte, er würde mich ignorieren«, antwortete Malvina. »Während der Proben hat er mich ständig angebaggert. Es müsste ihm doch eigentlich reichen, daß er schon meine Mutter gebumst hat.«

»Du weißt, was mit diesen Leuten los ist, oder?« Paul beugte sich zu ihr hin und flüsterte. »Die sind alle auf Drogen.« Er lenkte ihren Blick auf eine große Schale mit weißem Pulver, die vor ihm auf dem Regal stand. »Das Zeug wurde mir angeboten. Und auch noch von diesem Make-up-Mädchen. Unglaublich dreist. ›Nehmen Sie das sonst auch immer, Mr. Trotter?‹, hat sie gefragt. Wahnsinn, oder? Was wäre wohl, wenn ich darauf eingegangen wäre und sie die Sache dann den Zeitungen verraten hätte? Das ist doch regelrecht hinterlistig, oder?«

Malvina stand auf und untersuchte den Inhalt der Schale. Sie tauchte einen Finger hinein, leckte ihn ab und zog ein Gesicht.

»Paul, komm auf den Teppich, ja? Das ist einfach nur Puder. Für das Gesicht. Um den Schweiß zu bedecken.«

»Oh.«

Pauls Handy klingelte, und während Malvina den Anruf entgegennahm, dachte er weiter über seinen Witz nach. Er fand ihn mindestens genauso komisch wie einige der völlig absurden Witze des Showmasters (ein beliebter Fernsehkomiker) oder die zynischen Seitenhiebe seines Gegenspielers (der klugscheißerische Redakteur einer Satirezeitschrift). Außerdem mußte die Öffentlichkeit davon erfahren. Schokolade war für alle von Interesse. Cadbury’s war eine bedeutende britische Firma. Warum sollte man diese Sache nicht ein bißchen in den Vordergrund stellen?

Da tippte Malvina ihm auf die Schulter und gab ihm das Handy.

»Rede mal kurz mit diesem Typen«, sagte sie. »Philip Chase. Von der Post.«

Der Name des Journalisten sagte Paul nichts, und seine erste Reaktion – denn ihm fiel ein, daß er vor gut einer Woche mit Malvina darüber gesprochen hatte, sich ein Medienprofil in den USA aufzubauen – bestand darin, nach dem Handy zu greifen und aufgeregt zu brüllen: »Hallo, Washington!«

»Philip Chase am Apparat«, sagte die Stimme am anderen Ende mit nasalem Akzent. »Ich rufe aus Birmingham an. Tut mir leid, wenn Sie Woodward und Bernstein erwartet haben sollten. Spreche ich mit Paul Trotter?«

»Ja«, sagte Paul kühl.

Philip erinnerte ihn daran, daß sie gemeinsam zur Schule gegangen waren – eine Information, die Paul gerade kein bißchen interessierte. Er erzählte Philip von der Fernsehshow, in der er gleich aufträte – eine Information, die Philip aus unerklärlichen Gründen auch nicht im entferntesten beeindruckte. Philip, der merkte, daß Paul nicht zu einem langen Gespräch aufgelegt war, fragte ihn, was er von den gestrigen Neuigkeiten aus Birmingham halte. Paul, dessen Gedanken immer noch eher um Schokoladenexporte als um Werksschließungen in der Automobilindustrie kreisten, antwortete, das seien gute Neuigkeiten für die Wirtschaft, gute Neuigkeiten für Birmingham und gute Neuigkeiten für das ganze Land. Am anderen Ende trat ein schockiertes Schweigen ein. Philip schien nicht erwartet zu haben, daß er sich so unmißverständlich ausdrücken würde.

»Damit ich Sie richtig verstehe, Paul«, sagte Philip. »Sie behaupten, sehr froh über diese Neuigkeiten zu sein, richtig?«

Paul warf Malvina einen glücklichen Blick zu und holte tief Luft, bevor er sehr laut und mit gräßlichem Cockney-Akzent sagte: »Ich bin coco!« Und ohne seine Aufgeregtheit ganz unterdrücken zu können, fügte er mit normaler Stimme hinzu: »Und das dürfen Sie zitieren!«

Danach war es ziemlich egal, ob er diesen Satz noch in der Show unterbrachte oder nicht.

Ein Auto mit Chauffeur fuhr sie zurück nach Kennington. Es war wesentlich bequemer als ein schwarzes Taxi. Die Sitze waren edler, weicher und mit einem elastischen Lederimitat bezogen, auf dem sich Malvinas Schenkel mit verführerisch knisterndem Geräusch rieben, wenn sie sich bewegte. In Abständen tauchten die Straßenlaternen ihr Gesicht in ein bernsteinfarbenes Licht. Jedesmal, wenn sie vor einer der vielen roten Ampeln hielten, ruckte ihr Körper hin und her. Paul war leicht benebelt, denn er hatte nach der Aufzeichnung im Gästebereich ein paar Wodka gekippt. Er war in Hochstimmung, und der Gedanke, daß sein erster Kontakt mit dem Showgeschäft so erfolgreich verlaufen war, berauschte ihn. (Im Grunde war er froh, daß es keine völlige Katastrophe gewesen war.) Er wollte Malvina, der Frau, die ihm all dies ermöglicht hatte, seine Dankbarkeit zeigen. Der Frau, die die ganze Zeit neben ihm gestanden und die Scharten für ihn ausgewetzt hatte. Immer, wenn er versucht hatte, mit diesen verwirrenden Medienleuten zu kommunizieren, hatte sie gekonnt eingegriffen. Die Frau, die mit Philip Chase telefoniert hatte, nachdem er zum Set gerufen worden war, wissend, daß er eben eine weitere unbegreifliche Dummheit begangen hatte (würde man vor der Kamera den Schweiß sehen, den ihm dies auf die Stirn trieb?). Malvina hatte die Sache in ein paar Minuten geklärt, indem sie deutlich machte, was Paul gemeint hatte, und das Ganze als das komische Mißverständnis enthüllte, das es ja tatsächlich war. Wie hatte er es je ohne sie geschafft? Was, wenn sie ihn jetzt im Stich ließe? Er hätte sie am liebsten in den Arm genommen, doch ihr schmaler, straffer Körper – immer unter Strom, nie entspannt – verbot das. Er hätte sie auch gern geküßt. Vielleicht passierte das später einmal. Vorerst sagte er nur: »Meinst du, daß es gut gelaufen ist heute abend?«

»Was meinst du denn?« antwortete sie, drehte ihr Gesicht ein kleines Stück in seine Richtung und strich die Strähne zur Seite, die ihr über ein Auge gefallen war.

»Ich glaube, es ist gut gelaufen. Ich glaube wirklich, daß ich gut in Form war. Das hat dein Freund doch auch gemeint, oder?«

»Na, ja – nicht so ganz. Er hat nur gesagt: ›War okay, wir schneiden das zurecht‹.«

Für einen Augenblick wirkte Paul niedergeschlagen. Dann dachte er ein wenig darüber nach und brach in ein angetrunkenes Lachen aus. »O Mann. Ich war scheiße, oder?«

»Nein«, sagte Malvina freundlich. »Sie haben nur gesagt, sie könnten das zurechtschneiden.«

Sie strich sich wieder die aufmüpfige Haarsträhne aus dem Gesicht und erlaubte sich einen kurzen Blick in Pauls Augen – was sie in den letzten Minuten vorsichtshalber vermieden hatte –, und Paul nutzte diesen kleinen Moment der Intimität, um ihr eine Hand aufs Nylon ihres schmalen Oberschenkels zu legen, darüberzufahren und ihr Knie zu streicheln. Sie betrachtete teilnahmslos seine Hand und wirkte, als steckte sie überhaupt nicht in ihrem Körper.

»Du bist das Beste, was mir je passiert ist«, brach es aus ihm heraus.

Malvina schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, bin ich nicht.«

Paul dachte über seine Worte nach. »Du hast recht. Das Beste, was mir je passiert ist, ist wohl, daß ich damals diese Wahl gewonnen habe.«

»Was ist mit deiner Frau? Mit deiner Tochter?« Da er nicht antwortete, fuhr sie fort: »Paul, du mußt wieder zurück auf den Boden der Tatsachen kommen.«

»Den Boden der Tatsachen?« Er klang, als wäre ihm dieser Begriff neu. »In welcher Hinsicht?«

»In jeder. Im Moment lebst du in einer Phantasiewelt. Du bist so abgeschnitten von allem, was in der wirklichen Welt vor sich geht, daß es mir fast angst macht.«

»Meinst du jetzt Longbridge?« fragte er und runzelte die Stirn.

»Zum Teil meine ich auch Longbridge, ja. Sicher, ich bin in politischer Hinsicht nicht gerade der... gewissenhafteste Mensch auf der Welt, aber selbst ich kann sehen, daß der drohende Jobverlust Tausender von Menschen wichtiger ist als die Frage, wieviel Kakao ein Schokoladenriegel enthalten muß, bevor er in Antwerpen verkauft werden darf, verflucht noch mal ...« Sie hob seine Hand weg, die immer noch lose auf ihrem Knie gelegen hatte. »Aber nicht nur das. Auch, was mich betrifft, mußt du auf den Boden der Tatsachen kommen.«

»Und das heißt...?« sagte Paul, schob sich näher an sie heran, und sein Herz tat einen Satz, als er dachte, daß der Moment, den er so lange herbeigesehnt hatte, endlich kurz bevorstand.

»Das heißt, daß du dich früher oder später entscheiden mußt, was du von mir willst, Paul.«

»Das weiß ich schon«, sagte er und strich ihr zwei- oder dreimal sanft übers Haar, bevor er seine Lippen an den kleinen, makellosen Bogen ihres Ohres legte und flüsterte: »Ich möchte heute abend mir dir schlafen.«

Wahrscheinlich war es nur ein Flüstern, aber doch so laut, daß der Fahrer das Autoradio anschaltete. Es war auf einen AOR-Nachtsender eingestellt, auf dem gerade der Titelsong aus dem Film Arthur lief.

Malvina rückte von ihm ab. Sie sagte nichts, betrachtete Paul jedoch eine Weile mit einem Blick, aus dem zugleich Zurückweisung, Traurigkeit und (sofern er sich dies nicht nur einredete) ein kleines bißchen zögernd unterdrücktes Verlangen sprachen. Doch alles, was sie schließlich sagte, war: »Ich glaube nicht, daß du dir die Sache wirklich gut überlegt hast.«

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