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ОглавлениеAuf der Fähre Pride of Portsmouth
Im Restaurant
Dienstag, 7. Dezember 1999
Später Nachmittag
Ich weiß wirklich nicht, wie man auf dieser Fährverbindung im Winter einen Gewinn erwirtschaften soll. Abgesehen von mir und dem Mann hinter der Theke – keine Ahnung, was er ist, der Steward oder Proviantmeister oder so ähnlich – ist es hier gähnend leer. Draußen ist es dunkel, und Regen spritzt an die Scheiben. Vielleicht auch nur Gischt. Jedenfalls würde ich bei dem Anblick am liebsten vor Kälte zittern, obwohl es hier drinnen warm ist, fast überheizt.
Ich schreibe diesen Brief in das postkartengroße Notizbuch, das ich mir in Venedig gekauft habe. Es hat einen festen, marmorierten, seidenblauen Einband und wunderbar dicke Seiten, die aussehen, als hätte man sie mit der Hand aufgeschnitten. Wenn ich diesen Brief beende – sollte ich ihn je beenden –, könnte ich die Seiten bestimmt heraustrennen und in einen Briefumschlag stecken. Obwohl das eigentlich Unsinn wäre, oder? Richtig in Schwung bin ich jedenfalls noch nicht. Was ich bisher zu Papier gebracht habe, ist wohl eher als Nabelschau zu bezeichnen. Eigentlich müßte ich wissen, wie ein Brief an Dich auszusehen hat, denn ich habe Dir in den zurückliegenden Jahren ja nicht umsonst Tausende und Abertausende von Wörtern geschrieben. Aber jeder neue Brief an Dich ist wie der allererste.
Ich habe so ein Gefühl, als würde dies der längste von allen werden.
Als ich mich auf den Kalkklippen hoch über Etretat auf die Bank gesetzt habe, wußte ich noch nicht, wem ich schreiben sollte, Dir oder Stefano. Ich habe mich für Dich entschieden. Du kannst stolz auf mich sein. Ich bin fest entschlossen, an meinem Vorsatz festzuhalten. Ich habe mir geschworen, mich nicht bei ihm zu melden, und an das, was man sich selbst geschworen hat, ist man am stärksten gebunden. Natürlich fällt es mir schwer, denn wir haben uns vier Monate lang täglich gesprochen, gemailt oder wenigstens gesimst. Mit einer solchen Gewohnheit kann man nicht so schnell brechen. Aber es wird bald besser, bestimmt. Im Moment bin ich noch auf Entzug. Wenn ich mein Handy anschaue, das auf dem Tisch neben der Kaffeetasse liegt, komme ich mir vor wie eine Ex-Raucherin, der man eine Schachtel Zigaretten vor die Nase hält. Ich könnte ihm einfach eine SMS schicken. Er hat mir überhaupt erst beigebracht, wie man simst. Aber das wäre Wahnsinn. Außerdem würde er mich dafür hassen. Und ich habe Angst, daß er mich hassen könnte – große Angst. Das ist meine größte Angst. Ganz schön albern, findest du nicht auch? Wo ist der Unterschied, wenn ich ihn sowieso nie wiedersehe?
Am besten, ich mache eine Liste. Listen zu machen, ist immer eine gute Verdrängungsmethode. Meine Lektionen aus der Stefano-Katastrophe:
1 Verheiratete Männer verlassen nur ungern Frau und Töchter für eine Single-Frau in den späten Dreißigern.
2 Eine Affäre kann selbst ohne Sex noch weitergehen.
Ein dritter Punkt fällt mir gerade nicht ein. Immerhin, das ist schon ganz brauchbar. Beide Lektionen sind wichtig. Sie kommen mir bestimmt zustatten, wenn ich mich noch einmal in so etwas hineinreite. Noch besser wäre es natürlich, wenn sie verhinderten, daß ich mich je wieder in so etwas hineinreite (hoffe ich jedenfalls).
Tja, das sieht gut aus auf Papier – ganz besonders auf diesem teuren, dicken, cremefarbenen venezianischen Papier. Leider fällt mir gerade ein Zitat ein, das Philip immer für mich parat hatte. Irgendeine morsche Stütze der Gesellschaft hat einmal in einem Anfall von Altersschwachsinn gesagt: »Ja, ich habe aus meinen Fehlern gelernt, und ich bin mir sicher, daß ich sie alle perfekt wiederholen könnte.« Ha, ha. So wird es mir vermutlich ergehen.