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Am letzten Abend des zwanzigsten Jahrhunderts füllten bleiche Menschen die Straßen Londons. Dicht gedrängte Menschentrauben schoben und drängelten sich zur Themse, um das funkelnagelneue London Eye zu bestaunen und beim großartigen Feuerwerk dabeizusein – »River of Fire« genannt –, das ihnen die Stadt versprochen hatte. Es sah gefährlich aus, als die vielen Menschen die nach Whitehall und Embankment führenden Straßen verstopften. Seit Wochen hatten Schwarzmaler vor Toten und Verletzten gewarnt und geunkt, daß Menschenansammlungen dieser Größenordnung unweigerlich Tragödien zur Folge hätten. Dieselben Leute hatten seit noch längerer Zeit prophezeit, daß Punkt Mitternacht sämtliche Computersysteme auf dem Globus zusammenbrächen.

»Ich bin froh, daß ich hier bin«, sagte Sheila Trotter, »und nicht dort. Ich möchte um keinen Preis der Welt dort sein.«

Benjamin unterbrach seine Arbeit und sah verstohlen zu seiner Mutter. Obwohl sie jetzt Ende Sechzig war, konnte sie ihn immer noch überraschen. Sie zog also wirklich diese Leblosigkeit, diese lähmende Ruhe, der Partystimmung vor, die heute abend in der Londoner Innenstadt herrschte? Gefiel es ihr wirklich besser, zu viert im alten Wohnzimmer in Rubery zu sitzen, dem Haus, in dem sie seit fünfundvierzig Jahren mit ihrem Mann lebte? Und das, obwohl sich alle vier nichts mehr zu sagen hatten? Alle sechs, dachte Benjamin, wenn man Susan, seine Schwägerin mitzählte, die oben die kleine Antonia zu Bett brachte. Aber sie trug nicht unbedingt zur feierlichen Stimmung bei. Susan war heute abend voller Groll – wütend auf ihren Mann, Benjamins jüngeren Bruder Paul, der nicht bei ihnen war. Die Tatsache, daß er vielleicht gleich im Fernsehen zu sehen wäre, schien ihre Wut nur zu steigern.

Emily, Benjamins Frau, reichte ihrer Schwiegermutter noch ein halbes Glas Cava. »Nimm ruhig, liebe Sheila«, sagte sie, »ein neues Jahrtausend beginnt ja nicht jeden Tag, oder?«

Benjamin kochte innerlich, so idiotisch fand er diese Worte, und er streckte die Hand nach dem Stapel CDs aus, der vor ihm auf dem Wohnzimmertisch lag. Er nahm eine CD und schob sie in den externen CD-Brenner, den er sich vor ein paar Tagen gekauft hatte. Er machte Sicherheitskopien von allen Dateien, die er auf Festplatte hatte, und das war eine zeitraubende Arbeit. Die meisten Musikdateien etwa (eine Sammlung all dessen, was er in den letzten fünfzehn Jahren komponiert, arrangiert und aufgenommen hatte) umfaßten jeweils mehr als zehn Megabytes, und es gab fast hundertfünfzig davon.

»Mußt du denn unbedingt arbeiten, Ben?« sagte sein Vater. »Ich finde es komisch, daß du dir ausgerechnet heute abend nicht ein bißchen Zeit nehmen kannst.«

»Vergiß es, Colin«, sagte Emily resigniert. »Er macht es nur, um uns etwas zu beweisen. Er will den heutigen Abend nicht genießen, und das will er uns klar signalisieren.«

»Damit hat das nichts zu tun«, sagte Benjamin trotzig, aber beherrscht, den Blick auf den Bildschirm seines Laptops gerichtet. »Wie oft soll ich es dir denn noch sagen? Vor Mitternacht muß ich alle Dateien gesichert haben.«

Susan kam herunter und ließ sich aufs Sofa fallen. Sie wirkte gestreßt und erschöpft.

»Schläft sie?« fragte Sheila.

»Endlich. Mein Gott, es wird nicht einfacher. Ich war jetzt...« – sie sah auf ihre Uhr – »...eine Dreiviertelstunde oben. Sie liegt die ganze Zeit neben einem und plappert und singt. Ob sie vielleicht hyperaktiv ist? Was meinst du?«

»Hier«, sagte Emily und reichte ihr ein Glas. »Trink erst mal etwas.«

Susan nahm das Glas und stand sofort wieder auf, weil ihr einfiel, daß sie ihrem Bruder Mark versprochen hatte, ihn noch vor Mitternacht anzurufen.

»Wo steckt er im Augenblick?« fragte Sheila.

»In Liberia.« (Mark arbeitete für Reuters, und er konnte von einem Monat auf den anderen plötzlich in einer ganz anderen Ecke der Welt sein.)

»Liberia? Unglaublich!«

»Gibt offenbar keine Zeitunterverschiebung. Sie haben auch die Greenwicher Zeit. Ich telefoniere nur kurz. Keine Sorge, Colin, du bekommst das Geld zurück.«

Colin winkte zustimmend, und Susan verschwand im Flur, wo das Telefon stand. Mitternacht rückte näher. Um Viertel vor zwölf griff Benjamin zum Handy und rief im Büro an. Adrian, der EDV-Experte der Firma, hatte den Auftrag, Sicherheitskopien aller Dateien des hauseigenen Netzes anzufertigen. Benjamin schätzte, daß es über 4000 Firmenkonten waren, und um zwanzig Uhr hatte Adrian immer noch geschuftet. Jetzt nahm er nicht ab, und Benjamin ging davon aus, daß er rechtzeitig fertiggeworden war. Auf Adrian war immer Verlaß. Trotzdem hatte Benjamin als sein Vorgesetzter die Verantwortung, sich noch einmal zu vergewissern, ob die Daten der Kunden gesichert waren.

»Susan, es ist soweit – schau nur! Kannst du Paul irgendwo sehen?«

Die Fernsehkameras zeigten jetzt das Innere des Millennium Domes, in dem sich ein handverlesenes Publikum aus Politikern, Prominenten und Mitgliedern der Königsfamilie versammelt hatte, um auf den Glockenschlag von Big Ben zu warten. Niemand wußte genau, wie Paul Trotter es angestellt hatte, doch er hatte im letzten Moment noch eine Einladung ergattert. Für seine Frau und seine dreijährige Tochter hatte es keine Tickets mehr gegeben, aber das hielt ihn nicht ab. Diese prestigeträchtige Gelegenheit konnte er sich nicht entgehen lassen. Er war als jüngster Labour-Abgeordneter eingeladen worden, eine Tatsache, die er im letzten Bericht an seinen Wahlkreis hervorgehoben hatte (ohne Zweifel zur großen Heiterkeit der Leser). Seine Eltern hatten ihre Stühle dicht vor den Fernseher gestellt und hielten Ausschau nach ihm.

»Komm schon, Benjamin, komm und sieh dir das mit an. Die Uhr kann jede Minute schlagen.«

Benjamin stand zögernd auf, ging zum Rest der Familie und setzte sich neben seine Frau. Sie legte ihm eine Hand aufs Knie und reichte ihm ein Glas. Er nippte daran und verzog das Gesicht. Das neue Jahrtausend mit Supermarkt-Cava zu begrüßen, mein Gott, heute, an diesem ganz besonderen Tag, hätten sie sich doch wirklich ein bißchen mehr Mühe geben können. Im Fernsehen erblickte er das grinsende Gesicht des Premierministers, dem er vor zweieinhalb Jahren gemeinsam mit Millionen anderer Briten mit so großer Zuversicht seine Stimme gegeben hatte. Der neben der Königin stehende Premierminister formte die Worte des Liedes Auld Lang Syne, doch beide boten keine besonders berauschende Vorstellung. Gab es im Dome überhaupt jemanden, der den Text dieses dämlichen Liedes kannte?

»Gutes neues Jahrtausend, Liebling«, sagte Emily und küßte ihn auf den Mund.

Benjamin erwiderte den Kuß, umarmte seine Mutter und seinen Vater und wollte gerade Susan in den Arm nehmen, als diese sagte: »Schaut nur, da ist er!«

Es war Paul, tatsächlich, er drängelte sich zwischen den Partygästen durch und packte den Premierminister bei der Schulter, als dieser seinen Kollegen aus der Politik auf den Rücken klopfte und ihnen die Hand schüttelte. Paul schaffte es, die Aufmerksamkeit des Mannes für einen Moment auf sich zu lenken, und während dieser kurzen Zeit sah man dem Premierminister an, daß er verwirrt war und absolut keine Ahnung hatte, wer da vor ihm stand.

»Gut gemacht, Paul!« rief Sheila in Richtung Fernseher. »Du bist reingekommen. Du hast dich bemerkbar gemacht«

»Mist!« schrie Colin und raste zum Fernsehschrank. »Ich habe vergessen, das Video einzulegen. Mist, Mist, Mist!«

Zwanzig Minuten später, als das Singen vorbei war und das »River of Fire«-Feuerwerk mit kläglichem Zischen zu Ende gegangen war, klingelte das Telefon. Es war Benjamins Schwester Lois, die aus Yorkshire anrief.

»Sie haben ihr Feuerwerk hinten im Garten abgebrannt«, teilte Colin dem Rest der Familie mit. »Alle Nachbarn waren da. Offenbar hat die ganze Straße mitgemacht.« Er ließ sich wieder in den Armsessel sinken und trank noch einen Schluck Wein. »Zweitausend«, sagte er verwundert, seufzte und blähte die Wangen auf. »Ich hätte nicht gedacht, daß ich das noch erlebe.«

Sheila Trotter ging in die Küche und setzte Teewasser auf.

»Ich weiß nicht«, murmelte sie beim Gehen, ohne die Worte an jemand bestimmten zu richten. »Ich habe nicht das Gefühl, daß irgend etwas anders wäre.«

Benjamin kehrte zum Computer zurück und stellte fest, daß alle Dateien in Ordnung waren und die Datumsanzeige ohne zu murren auf den 01.01.2000 umgesprungen war. Trotzdem fuhr er fort, Sicherungskopien zu erstellen. Dabei fiel ihm ein, daß er vor fast dreißig Jahren seine Hausarbeiten an genau diesem Tisch gemacht hatte, in genau diesem Haus, während seine Eltern auf genau denselben Sesseln vor dem Fernseher gesessen hatten. Damals waren natürlich Bruder und Schwester dagewesen, nicht Ehefrau und Schwägerin – aber eigentlich war das kein großer Unterschied, oder? Im Grunde hatte sich sein Leben in den letzten drei Jahrzehnten kaum verändert.

Er nahm den Becher mit Tee, den seine Mutter ihm hinhielt, und dachte: Ja, du hast recht. Es hat sich nichts verändert.

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