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ОглавлениеAuf den Kalkklippen
Etretat
Dienstag, 7. Dezember 1999
Morgen
Liebste Schwester,
von hier oben hat man einen phantastischen Blick, aber leider ist es zu kalt, um viel zu schreiben. Meine Finger sind schon ganz steif. Aber ich wollte diesen Brief unbedingt noch vor meiner Rückkehr nach England beginnen, und dies ist die absolut letzte Gelegenheit.
Beschäftigt mich noch etwas, kurz bevor ich das europäische Festland verlasse? Kurz bevor ich heimkehre?
Ich suche den Horizont ab und halte Ausschau nach Omen. Ruhige See, klarer, blauer Himmel. Das muß wohl etwas zu bedeuten haben.
Offenbar kommen Leute hier rauf, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ich sehe einen Jungen weiter unten auf dem Weg, der genau das vorzuhaben scheint, denn er steht gefährlich nahe am Rand der Klippen. Er steht dort schon so lange, wie ich hier auf der Bank sitze, und er trägt nur T-Shirt und Jeans. Er friert sich bestimmt zu Tode.
So verzweifelt bin ich immerhin noch nicht, auch wenn es in den letzten Wochen ein paar schlimme Tiefpunkte gegeben hat. Punkte, an denen ich nicht mehr mit mir klargekommen bin, an denen auf einmal alles außer Kontrolle geraten ist. Dieses Gefühl kennst Du bestimmt von früher. Ich bin mir ganz sicher, daß Du es kennst. Wie dem auch sei – das habe ich hinter mir. Von nun an geht es aufwärts und voran.
Etretat liegt unter mir, und ich kann den weiten Bogen des Strandes und die spitzen Dächer des Châteaus sehen, in dem ich gestern übernachtet habe. Ich habe es nicht geschafft, die Stadt zu erkunden. Wenn man jede nur denkbare Freiheit hat, macht man am Ende seltsamerweise gar nichts. Offenbar ist unbegrenzte Wahl gleich gar keine Wahl. Ich hätte ja eine sole à la dieppoise essen können, und vielleicht hätte ein zum Flirten aufgelegter Kellner mich hinterher umsonst mit Calvados versorgt. Statt dessen bin ich im Château geblieben und habe einen alten, französisch synchronisierten Film mit Gene Hackman gesehen.
Dafür gebe ich mir vier von zehn Punkten. Aber warte nur ab. Ich kann auch mehr schaffen. Ist das überhaupt eine Methode, sein Leben neu anzufangen?
Fange ich denn wirklich ein neues Leben an? Vielleicht nehme ich nach einer langen und unter dem Strich völlig ergebnislosen Unterbrechung nur ein altes wieder auf.