Читать книгу Klassentreffen - Jonathan Coe - Страница 16

26

Оглавление

Auf halbem Weg über die Lambeth Bridge bremste Paul scharf, stützte sich mit einem Fuß auf der hohen Bordsteinkante ab und legte eine Pause ein, um wieder zu Atem zu kommen. Er war ungewohnte anderthalb Meilen geradelt, und in seinen Oberschenkeln pochte ein dumpfer Schmerz. Nach ein paar Sekunden wendete er sein Fahrrad um neunzig Grad und fuhr zur Ostseite der Brücke. Als er abstieg, kam eine großer, flaschengrüner Van vorbei, ein Auto, das eher dazu geeignet war, Nahrungsmittelpakete auf den tückischen Versorgungsrouten zwischen Kabul und Mazaral Sharif zu transportieren, als eine offensichtlich wohlhabende, dreiköpfige Familie zum nächsten Tesco-Supermarkt und zurück. Die Fahrerin, ein Handy am Ohr, hupte wütend und machte einen ruckartigen Schlenker, um Paul auszuweichen, der so um knappe zehn Zentimeter dem Tod entging. Er dachte nicht weiter darüber nach, denn er wußte längst, daß lebensgefährliche Situationen dieser Art in der Londoner Innenstadt, wo Radfahrer und Autofahrer einen ständigen, unerklärten Krieg gegeneinander führten, völlig normal waren. Außerdem wäre es eine prima Episode für seine neue Kolumne mit dem Titel »Geständnisse eines radelnden Parlamentariers«, die Malvina nächste Woche dem Redakteur einer unabhängigen, allmorgendlich in der U-Bahn verteilten Zeitschrift anbieten wollte. Sie nahm ihre neue Aufgabe ernst, und diese Idee war nur eine von vielen, die sie Paul vor ein paar Tagen vorgestellt hatte. Außerdem hatte sie die Idee, daß er an einer bekannten und zur besten Sendezeit laufenden satirischen Quiz-Show teilnehmen sollte. Offenbar kannte Malvina einen der Regisseure und wollte diesen baldmöglichst auf die Sache ansprechen. Sie erwies sich schon jetzt als viel effizienter und nützlicher, als Paul je für möglich gehalten hätte.

Er hob sein Fahrrad auf den Bürgersteig und lehnte es ans Brückengeländer. Die Ellbogen aufs Geländer und das Kinn auf beide Hände gestützt, verlor er sich kurz in dem Anblick, der ihn immer wieder von neuem berauschte: Links von ihm der Westminster-Palast, dessen Mauerwerk im Licht der Strahler butterweich wirkte und dessen Spiegelbild golden auf der schwarzen, metallischen Oberfläche der schlafenden Themse schimmerte. Und rechts von ihm der Emporkömmling, das London Eye, kecker, geschmeidiger und höher als alle anderen Gebäude ringsumher, das ein Muster aus Flecken blauen Neonlichts auf den Fluß warf. Das eine Bauwerk stand für Tradition und Kontinuität – genau die Dinge, denen Paul gründlich mißtraute. Das andere stand für – ja, für was? Es war auf eine grandiose Art zweckfrei. Es war eine Maschine, eine makellose Maschine des Geldmachens, die den Menschen völlig neue Ausblicke auf etwas bereits Bekanntes bot. Noch standen Riesenrad und Palast einander friedlich gegenüber, sie hatten einen surrealistischen, brüchigen Waffenstillstand miteinander geschlossen und überragten gemeinsam diesen Teil Londons. Und Paul, der zwischen beiden auf der Brücke stand, fühlte sich auf einmal in eine fiebrige Hochstimmung versetzt, er spürte, daß sein Leben, das ihn zu dieser Zeit an diesen Ort geführt hatte, von Grund auf stimmte. Hier war sein Platz.

Doug Anderton wartete am Ecktisch eines Restaurants in Westminster auf ihn, das sich auf Anglo-Indische Küche spezialisiert hatte. Das Gebäude hatte bis vor kurzem eine Leihbücherei beherbergt, und die Wände des galerieartigen Zwischengeschosses waren noch von Büchern gesäumt, so daß die Gäste, durch die extravagant hohen Preise bereits vom Hauch der Exklusiviät umnebelt, einen zusätzlichen Kitzel des Ungehörigen verspürten, wenn sie daran dachten, daß sie in einem Raum speisten, der, einem mittlerweile überholten und fast komisch wirkenden demokratischen Ideal entsprechend, früher einmal der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich gewesen war. Doug, die Stirn entweder aus Konzentration oder aus verächtlicher Rivalität in Falten gelegt – schwer zu sagen, was es war –, las den Gastkommentar eines Kollegen von der Tageszeitungskonkurrenz und nippte dabei an seinem Ananas-Bellini. Seine bemüht proletarische Uniform aus Jeansjacke, T-Shirt und Jeanshose konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß er sich in dieser Umgebung sichtlich wohl fühlte.

»Doug«, sagte Paul, streckte ihm die Hand hin und lächelte herzlich.

Doug faltete die Zeitung zusammen und schüttelte Paul kurz die Hand. »Hallo, Trotter«, erwiderte er.

»Trotter?« sagte Paul, der sich ihm gegenüber niederließ. Er war offenbar entschlossen, alles mit Humor zu nehmen. »Das klingt aber nicht besonders freundlich, wenn man bedenkt, daß wir uns einundzwanzig Jahre nicht gesehen haben.«

»Du bist zehn Minuten zu spät«, stellte Doug fest. »Hast du keinen Parkplatz gefunden?«

»Ich bin mit dem Fahrrad«, sagte Paul. Er schenkte sich ein großes Glas stilles Mineralwasser aus einer Flasche ein, deren Preis den kürzlich von New Labour festgelegten Mindeststundenlohn überstieg. »Neuerdings bin ich immer mit dem Fahrrad unterwegs. Malvina hat gemeint, das täte mir gut.«

Doug lachte. »Hat dich auf den Gesundheitstrip gebracht, wie? Aber ich dachte, deine Frau heißt Susan.«

»Richtig. Und mit Gesundheit hat das nichts zu tun. Malvina ist meine Medienberaterin. Du hast sie am Telefon gehabt.«

»Ah, ja. Natürlich. Wie konnte ich das nur vergessen. Deine... Medienberaterin.« Er zog das Wort betont in die Länge. »Tja, vielleicht sollten wir etwas bestellen und das Vorgeplänkel so schnell wie möglich abhaken – was du in den letzten zwanzig Jahren getrieben hast und so weiter. Dann bekommen wir wenigstens etwas in den Magen.«

»Da gibt es für uns beide nicht viel Neues, oder?« sagte Paul und griff nach einer Speisekarte. »Ich habe deine Karriere aufmerksam verfolgt. Und du meine sicherlich auch.«

»Nun ja, ich habe in einer kurzen Rede auf dich angespielt, die ich vor ein paar Monaten im South Bank Centre gehalten habe«, sagte Doug. »Aber ich kann nicht behaupten, daß ich in den letzten Jahren besonders oft an dich gedacht hätte. Für mich warst du eigentlich erst 1997 am Wahlabend wieder da, als du aus dem Nichts aufgetaucht bist, einen ziemlich angesehenen Minister der Konservativen ins politische Jenseits befördert und dabei ausgesehen hast, als hättest du gerade einen Schock fürs Leben bekommen.«

»Du glaubst doch nicht diesen krausen Mist, daß ich nicht mit meiner Wahl gerechnet hätte, oder? Ich weiß, daß du das damals geschrieben hast, aber... komm schon. Du könntest mir ein bißchen mehr zutrauen.«

»Wie geht es deinem Bruder?« fragte Doug als Antwort.

»Oh, Benjamin geht es gut.« (Schwer zu sagen, ob Paul das wirklich glaubte oder sich einzureden versuchte.) »Weißt du – sein größtes Problem besteht darin, daß er im Grunde rundherum glücklich ist, sich das aber nicht eingestehen will. Es gefällt ihm, daß er immer noch kein Buch veröffentlicht hat. Und daß niemand seine Musik spielt, gefällt ihm auch. Er ist liebend gern Buchhalter. Am liebsten sieht er sich als einen Emile Zola der doppelten Buchführung. Die Tatsache, daß die Welt sich weigert, seine Begabung anzuerkennen, erhöht bloß noch den Reiz für ihn.«

»Hmm ...« Doug schien nicht sehr überzeugt zu sein. »Ich kenne ihn natürlich nicht so gut wie du, aber ich hätte gedacht, er wäre unglücklich verheiratet, bedauerte seine Kinderlosigkeit und hätte in beruflicher und kreativer Hinsicht keine Erfüllung gefunden. Was ist mit Lois?«

Paul spulte rasch ein paar Details ab – daß Lois noch in York lebe, immer noch eine Universitätsbibliothekarin und immer noch mit Christopher verheiratet sei – und ließ dabei immer mehr durchblicken, daß ihn das Leben seines Bruders und seiner Schwester fast bis zum Abscheu langweilte. Als er merkte, daß Doug ein Gähnen zu unterdrücken versuchte, sagte er: »Ich weiß. Sie haben nicht gerade die Welt verändert, meine Geschwister, oder? Der bloße Gedanke an sie läßt einen einschlafen.«

»Liegt nicht daran«, sagte Doug und rieb sich die Augen. »Wir haben vor kurzem einen Sohn bekommen, Ranulph. Fünf Monate alt. Ich war die halbe Nacht mit ihm auf.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Paul pflichtschuldig.

»Tja, weißt du, Frankie wollte noch eins. Sie ist meine ...«

»Deine Frau. Ich weiß. Honourable Francesca Gifford. Tochter von Lord und Lady Gifford, Shoscombe. Cheltenham und Brasenose College, Oxford. Ich habe sie heute nachmittag im Debrett nachgeschlagen.« Er sah Doug mit einem Blick an, aus dem eine gewisse Keckheit sprach. »Sie war schon einmal verheiratet, richtig?«

Doug brummte bestätigend.

»Einvernehmliche Trennung?«

»Was soll das sein? Ein Interview?« Doug hatte so getan, als studierte er die Weinkarte. Jetzt legte er sie weg. Offenbar meinte er, ebensogut offen sein zu können, wenn er es schon auf sich genommen hatte, zwei oder drei Stunden mit Paul zu verbringen. »Im Grunde hat sie ihn nur verlassen, weil er keine Kinder mehr wollte. Er hatte genug davon, Kinder großzuziehen. Aber sie ist eine Frau, die rätselhafterweise genau das liebt. Sie liebt alles daran. Liebt es, schwanger zu sein. Selbst die Wehen scheinen ihr nichts auszumachen. Und sie liebt alles, was danach kommt. Die Besuche der Hebamme. Das Baden, das Windeln. Das ganze Drumherum – die Kinderstühle, die Körbchen, die Kinderbettchen, die Flaschen, das Abkochen. Das liebt sie. Im Moment pumpt sie sich den halben Tag Milch ab – hängt an dieser Melkmaschine, mit der sie aussieht wie eine preisgekrönte Jersey-Kuh.« Offenbar bekam er das Bild nicht aus dem Kopf, denn er blinzelte. »Ich kriege auf einmal eine ganz neue Einstellung zu ihren Brüsten, ehrlich.«

»Wie viele hat sie denn jetzt?«

»Na, zwei. Wie jede andere Frau auch.«

»Nein – Kinder, meine ich.«

»Oh. Insgesamt vier. Zwei Jungs, zwei Mädchen. Leben alle bei uns. Dazu natürlich das Kindermädchen.« Wenn Doug über seine gegenwärtige Menage nachdachte, war er unweigerlich bedrückt oder hatte zumindest ein vages Schuldgefühl. Vielleicht lag es am Gedanken an seine Mutter, inzwischen Witwe und allein in Rednal lebend, die immer so klein und verloren wirkte, wenn er Francesca endlich wieder einmal überredet hatte, sie für ein paar Tage einzuladen. Er schüttelte den Gedanken ungeduldig ab. »Und wie alt ist Antonia jetzt? Sie muß doch schon drei sein.«

»Ja, ganz genau. Du hast ein gutes Gedächtnis.«

»Ein Baby, das nach einem Parteivorsitzenden benannt ist und im Alter von ein paar Monaten eine wichtige Rolle in einer Wahlkampagne gespielt hat, vergißt man nicht so leicht.«

Paul seufzte müde. »Sie ist nicht nach Tony benannt worden. Das ist noch so ein idiotisches Märchen, das ihr Journalisten erfunden habt.« Er fügte hinzu: »Hör zu, Douglas, wenn du vorhaben solltest, den ganzen Abend zynisch und feindselig zu sein, brauchen wir das hier nicht fortsetzen.«

»Der Anlaß für diese Verabredung war mir von Anfang an etwas schleierhaft«, sagte Doug. »Warum genau hast du mich eingeladen?«

Paul setzte zu einer Erklärung an. Malvina habe ihm bewußt gemacht, sagte er, daß er Freundschaften mit einflußreichen Journalisten pflegen müsse, um in den Medien mehr Profil zu gewinnen. Lag es da nicht nahe, die Bekanntschaft mit jemandem aufzufrischen, der sich einen Namen als einer der wichtigsten politischen Kommentatoren im Land gemacht habe und in ihrer gemeinsamen Schulzeit eine so wichtige Figur für ihn gewesen sei, damals, in den lange zurückliegenden, rührend unschuldigen Tagen der späten Siebziger?

»Aber als Schüler haben wir einander gehaßt«, sagte Doug und wies damit geschickt auf die einzige Schwachstelle von Pauls Vorschlag hin.

»Aber nicht doch«, sagte Paul frappiert und runzelte die Stirn. »War das echt so?«

»Natürlich war das so. Na, schön – im Grunde hat dich jeder gehaßt. Das mußt du doch noch wissen.«

»Wirklich? Warum?«

»Weil dich alle für einen miesen, kleinen, rechten Furz gehalten haben.«

»Ach, so – aber das war ja nichts Persönliches. Das heißt doch, daß wir trotzdem Freunde sein können, zumal nach zwanzig Jahren, oder?«

Doug kratzte sich am Kopf. Er war ziemlich verdutzt, welche Richtung das Gespräch nahm. »Paul, du bist mit den Jahren nicht weniger seltsam geworden. Was meinst du mit ›Freunde‹? Wie könnten wir je Freunde sein? Worauf sollte diese Freundschaft denn beruhen?«

»Tja...« Paul hatte sich längst eine Antwort auf diese Frage überlegt. »Malvina dachte – nur als Beispiel –, daß wir ja beide Kinder im gleichen Alter haben, und die könnten wir doch mal zusammenbringen und schauen, ob sie miteinander spielen.«

»Damit ich dich richtig verstehe«, sagte Doug, »deine Medienberaterin schlägt vor, daß unsere Kinder miteinander spielen? Das ist wirklich das Absurdeste, was ich je gehört habe.«

»Das ist nicht absurd«, beharrte Paul. »Wir beide haben doch viel mehr gemeinsam als früher.«

»Zum Beispiel?«

»Na, zum Beispiel in politischer Hinsicht. Inzwischen stehen wir doch auf derselben Seite oder nicht? Unter dem Strich sind wir beide der Meinung, daß in New Labour die größte Hoffnung für das Wohl Großbritanniens und seiner Bürger liegt.«

»Wie kommst du denn darauf? Liest du je die Sachen, die ich für die Zeitung schreibe?«

»Gut, ich weiß, daß du ein paar Sachen kritisch siehst...«

»Ein paar...?« Doug verschluckte sich und prustete die Reste eines Poppadom mit Gurke auf die Tischdecke.

»... aber im Grunde stimmt es doch, oder? Du stehst genau wie ich hinter den Leitsätzen und Idealen der New Labour-Revolution. Richtig?«

»Könnte durchaus sein«, sagte Doug, »aber dazu müßte ich erst mal wissen, worin zum Teufel sie eigentlich bestehen.«

»Jetzt bist du einfach blöd«, murmelte Paul mürrisch.

»Nein, bin ich nicht.« Doug, der bei diesem Thema langsam in Fahrt kam, schickte den Kellner weg, der um ihren Tisch scharwenzelt war, und fuhr fort: »Worin bestehen sie denn, eure ›Leitsätze‹, Paul? Sag es mir. Ich bin gespannt. Ehrlich.«

»Meine eigenen? Oder die der Partei?«

»Beides. Ich gehe mal davon aus, daß sie identisch sind.«

»Nun ...« Zum erstenmal an diesem Abend schienen Paul die Worte zu fehlen. Er zögerte kurz, dann sagte er: »Warum hast du den Mann weggeschickt? Ich wollte gerade bestellen.«

»Nicht ablenken.«

Paul rutschte auf seinem Platz hin und her. »Gut, Doug, paß auf – du bittest mich, eine sehr lange, sehr komplexe Reihe von Leitsätzen auf eine einfache Formel zu bringen, und das geht ...«

»Zum Beispiel der ›Dritte Weg‹«, warf Doug ein.

»Was?«

»Der ›Dritte Weg‹. Darum macht ihr immer so viel Tamtam. Worin besteht er?«

»Worin er besteht?«

»Ja.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine: ›Worin besteht er?‹ Eine einfachere Frage gibt es doch nicht.«

»Wirklich, Douglas«, sagte Paul und betupfte seine Lippen mit der Serviette, obwohl er noch gar nichts gegessen hatte, »ich glaube, du siehst das etwas naiv.«

»Worin besteht er? Das ist alles, was ich wissen möchte.«

»Gut. Na, schön.« Paul rutschte noch ein bißchen hin und her, dann setzte er sich gerade hin, dann trommelte er mit den Fingern auf den Tisch. »Schön – er ist eine Alternative. Eine Alternative zur fruchtlosen, verbrauchten Dichotomie von Links und Rechts.« Er sah Doug an, der allerdings keine Reaktion zeigte. »Ist doch eine gute Sache, oder?«

»Klingt nach einer ziemlich guten Sache. Klingt nach etwas, das wir alle schon seit Jahren suchen. Und ihr Leute zaubert es an einem Wochenende aus dem Hut, wenn ich das richtig verstehe. Was zieht ihr denn als nächstes aus der Tasche? Den Stein der Weisen? Die Bundeslade? Was hat Tony noch so alles hinter seinem Sofa auf Chequers versteckt?«

Für ein oder zwei Sekunden sah es aus, als würde Paul doch noch die Fassung verlieren. Aber er sagte nur: »Spielen unsere Kinder jetzt zusammen oder nicht?«

Doug lachte. »Gut, wenn du willst.« Er fing den Blick des Kellners auf und winkte ihn wieder heran. »Und weißt du, warum? Weil ich schätze, daß es demnächst eine Geschichte über dich geben wird, und sie wird richtig groß sein, sie wird ein richtiger Skandal sein ... Und wenn das passiert, will ich dabeisein.« Er lächelte kämpferisch. »So sieht’s aus. Das ist der einzige Grund.«

»Soll mir recht sein«, sagte Paul. »Und im übrigen bestätigt das meine Annahme.« Als Doug ihn überrascht ansah, erklärte er: »Wir haben etwas gemeinsam – den Ehrgeiz. Du willst doch auch nicht dein ganzes Leben denselben Job machen, oder?«

»Nein«, sagte Doug, »wohl, nicht. Aber ein kleines Spätzchen pfeift mir vom Dach zu, daß ich sowieso bald befördert werde.«

Damit waren sie in gewisser Weise zu einer Übereinkunft gelangt und wandten sich dem wesentlich dringenderen Anliegen zu, etwas zu essen zu bestellen.

Kurz nach elf Uhr abends kehrte Paul in seine Wohnung in Kennington zurück. Die Woche über wohnte er im dritten Stock eines umgewandelten Reihenhauses, ein paar Straßen vom Kricketfeld von Oval entfernt. Das bedeutete, daß Susan und Antonia an vier von sieben Nächten allein in ihrem Haus auf dem Land waren – einer umgebauten Scheune am halb ländlichen Rand seines Wahlkreises in den Midlands. Das verursachte ihm gelegentlich Schuldgefühle (das Haus lag ziemlich einsam, und er wußte, daß Susan in der Gegend immer noch keine Freunde gefunden hatte), aber in anderer Hinsicht paßte es ihm sehr gut. Im Grunde lebte er wie ein Junggeselle, hatte als Sicherheit jedoch das warme Nest der Familie, in dem er Zuflucht suchen konnte, wenn er sich gestreßt und einsam zu fühlen begann.

Susan hatte keinen Schlüssel zu seiner Londoner Wohnung. Doch für Malvina hatte er vor einigen Tagen einen nachmachen lassen. Sie war aus allen Wolken gefallen, als er ihn ihr überreicht hatte, und hatte gefragt: »Wofür ist der?« »Vielleicht brauchst du ihn mal«, hatte Paul wie nebenbei geantwortet und ihr dann einen Kuß auf die Wange gegeben, den dritten im Laufe ihrer Freundschaft. Wie zuvor war sie dem Kuß nicht ausgewichen, hatte ihn aber auch nicht wirklich erwidert. Paul hatte keine Ahnung, wie sie diese Gesten bewertete – den Kuß oder auch das Geschenk des Schlüssels –, war sich im Grunde aber selbst nicht darüber im klaren, wie er sie deuten sollte. Er hatte sich immer noch nicht eingestanden, wie stark er sich von Malvina angezogen fühlte und welche Rolle dies bei seiner Entscheidung gespielt hatte, sie einzustellen. Tatsache war jedenfalls, daß er sie außerordentlich attraktiv fand und daß dies sein Verhalten in letzter Zeit maßgeblich mitbestimmt hatte, ganz gleich, ob er sich dies eingestehen konnte oder nicht. Im Grunde wäre es Paul jetzt am liebsten gewesen, wenn ihm die Verantwortung für sein Tun abgenommen worden wäre, so daß er sich von einer Flut der Leidenschaft hätte mitreißen lassen können, die jemand anderer ausgelöst hatte. Kurz gesagt, er wartete darauf, daß Malvina etwas tat, was sie niemals täte: sich ihm an den Hals werfen.

Als er an diesem Abend seine Wohnungstür öffnete, spürte Paul einen Kitzel der Erwartung, denn seit er Malvina den Schlüssel gegeben hatte, lebte er in vager Erwartung dessen, was er selbst einen »James-Bond-Moment« nannte. Darunter verstand er eine ähnliche Szene, wie sie in zahllosen James-Bond-Filmen vorkommt: Der Held kehrt zu später Stunde in sein Hotel zurück, das sich an irgendeinem exotischen Ort befindet, und als er in seinem Zimmer das Licht anknipst, stellt er fest, daß sein Bett bereits von einer nackten Femme fatale belegt ist, die sich verführerisch unter der Bettdecke räkelt und ihn mit einer schläfrig-lasziven Textzeile einlädt, sich zu ihr zu gesellen. Und da Paul sich im Zustand leichter Betrunkenheit gern einbildete, etwas von dem Charme und der sexuellen Anziehungskraft von Ian Flemings legendärer Schöpfung zu besitzen, gab er die Hoffnung nicht auf, eines Tages selbst so etwas zu erleben.

Doch an diesem Abend erlebte er vorerst eine neuerliche Enttäuschung. Sein Schlafzimmer war unerklärlich Malvinaleer, und als er per SMS nachfragte, wo sie sei, erhielt er keine Antwort. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als Susan anzurufen, ungeduldig ihrem ausführlichen Bericht über die Ereignisse des Tages zu lauschen und sie am Ende zu bitten, Antonia einen Kuß von ihm zu geben. Und nachdem er noch über das Treffen mit Doug nachgedacht hatte, das nicht so erfolgreich verlaufen war wie gehofft, fiel er in einen tiefen und selbstzufriedenen Schlaf.

Klassentreffen

Подняться наверх