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Vierter Kaffee des Tages

National Film Theatre Café

London, South Bank

Mittwoch, 8. Oktober 1999

Nachmittag

Da bin ich wieder, liebste Schwester, nach einer Unterbrechung von ungefähr zwanzig Stunden, und die erste Frage, die sich mir stellt, nachdem ich den ganzen Vormittag mehr oder weniger ziellos durch die Straßen gelaufen bin, ist: Wer sind all diese Leute, und was tun sie hier?

Nicht, daß ich mich besonders gut an London erinnere. Ich glaube, ich war seit sechs Jahren nicht mehr hier. Aber ich weiß noch (oder glaubte zu wissen), wo sich ein paar meiner Lieblingsläden befinden. In einer der Seitenstraßen zwischen Covent Garden und Long Acre gab es einen Kleiderladen, in dem man schöne Tücher kaufen konnte, und drei Türen weiter gab es einen Laden mit handbemalter Töpferware. Ich hatte gehofft, dort einen Aschenbecher für Dad zu finden, als eine Art Friedensangebot. (Reines Wunschdenken, klar. Es bräuchte mehr, um Frieden zu schließen ... ) Aber egal – die Sache ist die, daß es diese beiden Läden nicht mehr gibt. Statt dessen gibt es dort zwei Coffee Shops, und beide waren bis auf den letzten Platz besetzt. Da ich gerade in Italien war, bin ich daran gewöhnt, daß die Leute vierundzwanzig Stunden am Tag am Handy hängen, aber vor meiner Abreise habe ich dort drüben allen im Brustton der Überzeugung verkündet: »Ach, wißt ihr, in England machen sie das bestimmt nicht mit, nicht in diesem Ausmaß.« Warum tue ich das nur immer wieder? Warum töne ich immer wieder herum wie eine führende Expertin, obwohl ich im Grunde keine Ahnung habe? Mein Gott, inzwischen hat hier jeder eines. Die Dinger sehen aus wie ans Ohr geschraubt, wenn die Leute damit die Charing Cross Road rauf- und runterlaufen und wie Verrückte mit sich selbst brabbeln. Und wenn sie dann auch noch diese Ohrstöpsel drin haben, merkt man gar nicht mehr, daß sie telefonieren, und hält sie für Leute aus einem Projekt für betreutes Wohnen. (Von denen es hier auch ziemlich viele gibt.) Doch die Frage ist – wie schon gesagt –, wer sind all diese Leute, und was tun sie? Natürlich sollte ich aus dem Verschwinden einiger Läden keine voreiligen Schlüsse ziehen (vielleicht habe ich mich ja auch in der Straße geirrt), aber mein erster Eindruck ist, daß es in dieser Stadt eine große Anzahl von Menschen gibt, die nicht mehr arbeiten, jedenfalls nicht in dem Sinne, daß sie etwas produzieren oder verkaufen. Das gilt offenbar als ziemlich altmodisch. Statt dessen treffen sich die Leute, und sie reden. Und wenn sie sich nicht persönlich treffen und reden, reden sie meist in ihre Handys, und meist reden sie hinein, um irgendein neues Treffen zu vereinbaren. Ich wüßte wirklich brennend gern, worüber sie reden, wenn sie sich schließlich treffen. Das ist noch so ein Irrtum, den ich in Italien begangen habe. Ich habe immer wieder allen Leuten erzählt, daß die Engländer so verschlossen seien. Aber das scheint gar nicht zu stimmen – wir sind zu einer Nation von Quasselstrippen geworden. Wir sind auf einmal unglaublich gesellig. Trotzdem weiß ich immer noch nicht, was da eigentlich geredet wird. Offenbar findet im ganzen Land ein gigantisch großes, unglaublich wichtiges Gespräch statt, und ich habe das Gefühl, als einziger Mensch nicht genug zu wissen, um daran teilnehmen zu können. Worum geht es denn? Um das Fernsehprogramm vom letzten Abend? Um die Ausfuhrsperre für britisches Rindfleisch? Um die Frage; wie man den Virus besiegen kann, der beim Jahrtausendwechsel unsere Computer befallen wird?

Und noch etwas, bevor ich es vergesse: Dieses monströse Riesenrad, das jetzt neben der County Hall an der Themse steht. Was genau soll das?

Gut, das dürften genug soziologische Kommentare für heute sein. Schließlich gibt es noch mehr zu erzählen, vor allem, daß ich beschlossen habe, die bittere Pille zu schlucken und mich der Sache zu stellen usw. – und noch heute abend nach Birmingham zurückzufahren (weil die Preise der hiesigen Hotels der reine Irrsinn sind und ich mir keine weitere Nacht leisten kann). Außerdem scheint mich schon wieder ein Stück Vergangenheit eingeholt zu haben, obwohl ich noch keine 24 Stunden zurück in England bin. Und zwar in Gestalt eines Flyers, den ich in der Queen Elizabeth Hall eingesammelt habe. Dort findet am nächsten Montag eine Veranstaltung mit dem Titel »Abschied vom alten Jahrhundert« statt. Sechs »Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben« (ist da zu lesen) werden uns berichten, »was sie am Ende des zweiten Jahrtausends mit dem größtem Bedauern hinter sich lassen und was sie mit dem größtem Vergnügen abhaken«. Und wer ist die Nummer Vier auf der Liste? Nein, nicht Benjamin (obwohl wir damals alle glaubten, er würde ein berühmter Autor werden), sondern Doug Anderton, der uns – siehe da! – als »Journalist und politischer Kommentator« vorgestellt wird.

Noch ein Omen? Sagt es mir, daß ich mich nicht mutig in die Zukunft stürze, sondern die ersten, unfreiwilligen Schritte zurück in die Vergangenheit tue? Ja, um Himmels willen, ich habe Doug das letzte Mal vor ungefähr fünfzehn Jahren gesehen. Auf meiner Hochzeit. Wenn ich mich recht erinnere, war er damals ziemlich betrunken und hat mich gegen eine Wand gedrückt und mir gesagt, ich würde den Falschen heiraten. (Er hatte natürlich Recht, wenn auch in anderer Hinsicht, als er gemeint hat.) Wäre bestimmt komisch, jetzt im Publikum zu sitzen und ihn über die Angst vor dem Jahrtausendwechsel und soziale Veränderungen predigen zu hören. Vermutlich wäre es bloß eine neue Version dessen, was wir schon vor zwanzig Jahren über uns ergehen lassen mußten, wenn wir bei einer Redaktionssitzung der Schülerzeitung am Tisch versammelt waren. Außer, daß wir inzwischen graue Haare bekommen und Rückenprobleme sich einstellen.

Ob du schon graue Haare hast, liebe Miriam? Oder brauchst du dir über so etwas längst keine Sorgen mehr zu machen?

In fünfzig Minuten geht ein Zug nach Birmingham. Den muß ich unbedingt noch kriegen.

Klassentreffen

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