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Halt in der Familie

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Wie war der Mensch und Familienvater Sepp Kerschbaumer? Da ist einmal seine Religiosität, die sein Denken und Handeln bestimmte. Für die Tochter Helga sind die Wurzeln hierfür wahrscheinlich im Heim gelegt worden. Disziplin, Pflichtbewusstsein und Strenge – vor allem Strenge gegen sich selbst – waren für ihn immer selbstverständliche Leitlinien; auch das wahrscheinlich ein Erbe der Heimerziehung.

„Früh aufstehen und hart arbeiten, das war das Motto seines Lebens. Er hat gerne hart gearbeitet“, erinnert sich die Tochter. Vor allem die Arbeit in den Obstwiesen machte ihm Freude. Doch ein Bauer sei aus ihm nie geworden: „Dem Vater haftete einfach eine gewisse Ungeschicklichkeit an, er konnte besser mit der Feder als mit der Sense umgehen.“ Von seiner äußeren Erscheinung her aber war er der Bauer. Kam er in der blauen Schürze und im abgetragenen karierten Jöppl daher, glaubte man, er trage das Festtagsgewand. Zog er den schwarzen Anzug an und band er sich eine Krawatte um, so stellte er nichts Besonderes vor.

In den Jahren bevor er sich intensiv mit Politik befasste, ergriff er verschiedene Initiativen, um das Einkommen zu verbessern. Er war ein Mensch voller Ideen und Tatendrang. Einmal verlegte er sich auf eine Hasenzucht, dann ging er zur Schafzucht über, schließlich widmete er sich dem Gemüseanbau. Und so nebenbei erbaute er, um 1956/57, das Gasthaus Schloßwirt in Frangart.16 Wenn er glaubte, dass es sich arbeitsmäßig gerade gut ausgehe, konnte er für ein paar Tage auch alles hinwerfen und eine Fahrt unternehmen. Solche Entschlüsse waren nicht das Ergebnis langer Planung, sondern eines spontanen Einfalls. So unternahm er 1950 ganz plötzlich mit seinem Freund Willy Alessandri einen Ausflug zum Gardasee, und weil es so schön war, vom Gardasee nach Genua, und von Genua ging die Reise auch noch nach Mailand.17 Nicht immer glücklich über solche Initiativen war seine Frau, die sich von einem Tag auf den anderen darauf einstellen musste, dass sie den Laden für mehrere Tage oder für eine ganze Woche allein weiterzuführen hatte. Wenn die Tochter Helga sagt, dass aus ihm nie ein Bauer geworden sei, hat sie noch in einem weiteren Sinne recht. Bei der Arbeit in den Feldern war er mit seinen Gedanken mehr bei der Politik als bei der Arbeit. Beim Umstechen oder beim Baumschneiden in der Obstwiese, so erzählte er einmal Pepi Fontana, seien ihm meistens die besten Gedanken gekommen. Er trug stets Bleistift und Papier bei sich. Fiel ihm ein Gedanke für das nächste Rundschreiben ein, so hielt er ihn sofort fest. Er hatte nämlich die Erfahrung gemacht, dass die beste Idee und die glänzendste Formulierung unwiederbringlich weg waren, wenn er sie nicht gleich zu Papier brachte.


Sepp Kerschbaumer und Willy Alessandri vor dem Mailänder Dom bei der Motorradfahrt Frangart–Genua–Mailand–Frangart, um 1950


Sepp Kerschbaumer in seiner Obstwiese

So etwas wie einen Achtstundentag kannte Sepp Kerschbaumer nicht. Er war ein Frühaufsteher und blieb es sein Leben lang. Jeden Tag, ob der Himmel klar war oder trüb, ob es regnete oder schneite, fuhr er mit dem Fahrrad oder mit dem Vicky nach Bozen zur Fünf-Uhr-Messe. „Mit Vorliebe besuchte er die Herz-Jesu-Kirche oder verweilte im Gebet vor dem historischen Herz-Jesu-Bild im Dom.“18 Dass er unter keinen Umständen die Sonntagsmesse ausließ, versteht sich von selbst. Der Sonntag gehörte dem Herrgott, der Familie und – in zunehmendem Maße – der Politik. Seine Tochter Helga erinnert sich, dass er jede freie Minute nützte, um zu lesen oder zu schreiben. „Die Sonntage vor allem, da war er den ganzen Tag zu Hause und hat geschrieben“. Er dürfte es immer als Mangel empfunden haben, keine höhere Schulbildung genossen zu haben. Umso mehr war er darauf bedacht, seine Kinder mit guter Lektüre zu versorgen. „Er hat uns Bücher gekauft und ist auch in die Bücherei gegangen, um sie auszuleihen“, erzählt Helga Kerschbaumer. Das sei damals in den 1950er-Jahren nicht üblich gewesen bei den Familien der Umgebung. Auch ein Grammofon hat es bei den Kerschbaumers gegeben, und das hatte zur Folge, dass die Familie automatisch der Treffpunkt für die Jugend von Frangart wurde. „Vielleicht wollte er uns unter Kontrolle haben“, deutet die Tochter die Großzügigkeit des Vaters. Eine Zeit lang lernte er sogar Ziehorgel spielen, um daheim musizieren zu können.19 Wahrscheinlich waren es später die steigenden Ansprüche der Politik, die ihn zwangen, das Musizieren aufzugeben.

Dem disziplinierten, ernsthaften Menschen bedeutete die Familie alles. Die Familie war ihm vielleicht auch deshalb wichtig, weil er die eigene so früh verloren hatte. „Er war immer daheim“, erinnert sich die Tochter. Die Erziehung der Kinder habe eindeutig der Vater bestimmt, wobei die Strenge, die er sich selbst zumutete, auch für die Familie zur Richtschnur wurde. Bei aller Bescheidenheit und Demut: Herr des Hauses blieb er. Die Geschäftsführung hat er nie abgegeben, selbst in den Zeiten nicht, als die Politik und die Vorbereitung des Kampfes im Untergrund ihm praktisch kaum mehr Zeit für das Geschäft ließen. Doch wusste er immer, dass seine Frau und die Töchter den Laden schon schmeißen würden.

Wenn man sagt, dass Sepp Kerschbaumer ein Familienmensch war, dann ist das in einem etwas weiteren Sinn zu verstehen. Zur Familie gehörten auch die Nachbarsleute. Die Grenzen von seinem eigenen Hausstand zur Dorfgemeinschaft waren fließend. Wenn auch im Auftreten bescheiden und zurückhaltend, war er ein kontaktfreudiger und geselliger Mensch, der die Bekanntschaften und Freundschaften pflegte. Freilich war es nicht die laute Gesellschaft, die er suchte, sondern das abendliche Gespräch mit Freunden und Nachbarn, kurz mit Leuten, mit denen er sich gut verstand.

Das Gebot, dass man den Sonntag heiligen müsse, stand für Sepp Kerschbaumer außer Diskussion. „So war ihm besonders die Sonntagsarbeit ein Dorn im Auge. Und zwar hätten nach ihm nicht bloß die knechtlichen Arbeiten an Sonn- und Feiertagen abgeschafft werden sollen, sondern auch die Nachtarbeit.“20 Konsequent wie er war, aß er sonntags nie frisches Brot, weil er es nicht für richtig fand, dass die Bäcker in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag arbeiten mussten. Streng hielt er sich auch an das Gebot, dass man den Namen Gottes nicht verunehren dürfe. Er war gewiss nicht die personifizierte Sanftmut. Im Gegenteil, man konnte ihn auch aufbrausend und zornig erleben. Nie aber kam ein Fluchwort über seine Lippen, selbst in der höchsten Erregung nicht. Gerade die Politik bietet Anlässe, sich aufzuregen und die Beherrschung zu verlieren. Aber da gab es für ihn Grenzen, die nicht überschritten wurden. Das schärfste Kraftwort, das er sich durchgehen ließ, war Porzellana.21

Zu den Wesenszügen Kerschbaumers gehörte, dass er ehrlich war. Das hatte dann aber zur Folge, dass er auch ein ehrlicher Steuerzahler war. Gib Gott, was Gottes ist, und dem Staat, was des Staates ist. Ein Grundsatz, der aber nur selten wörtlich genommen wird. Im Allgemeinen herrscht die Meinung vor, dass sich der Staat eh schon mehr nehme, als ihm zustünde. Dieser Ansicht war auch Kerschbaumers Steuerberater, ein Nonsberger, der mit ihm nicht sehr zufrieden war. Mehrmals bemerkte er: „Herr Kerschbaumer, es ist richtig und in Ordnung, dass Sie ein guter Tiroler sind, aber beim Steuerzahlen müssen Sie ein guter Italiener sein. Nur in diesem einen Falle, wohlgemerkt!“22 Für Sepp Kerschbaumer aber war es nicht einfach, seine Persönlichkeit in diese zwei Hälften aufzuspalten.

Sepp Kerschbaumer hielt auch Maß im Essen und Trinken. Alkohol trank er von einem bestimmten Tag an überhaupt keinen Tropfen mehr. Und das aus einem ganz bestimmten Grund. Es war im Frühjahr 1957 oder 1958, dass er mit einigen Freunden die Weinkost im Hotel Laurin in Bozen besuchte. Als das ganze Ritual der Verkostung durchgespielt war, verließ die Runde leicht angesäuselt und in herrlicher Stimmung das Hotel. Die frische Luft dürfte dazu beigetragen haben, dass die gute Laune bei Kerschbaumer in Übermut umschlug. Er erblickte auf der anderen Straßenseite einen Polizisten. Da überkam ihn die unbändige Lust, den Mann zu provozieren. Er ergriff einen Ligusterstock am Gehsteig und wälzte ihn in die Straßenmitte. Prompt eilte der Polizist herbei und fragte ihn, was ihm denn einfalle, ein solches Verkehrshindernis hier in den Weg zu stellen. Er hieß ihn ihm auf die Quästur zu folgen, die damals im Palais Widmann ihre Büros hatte. Bei der Durchsicht der Papiere stellte der Polizist fest, dass Kerschbaumer Vater von sechs Kindern war. Zu seinem Kollegen gewandt bemerkte er: „È padre di sei figli, lasciamolo andare – Er ist Vater von sechs Kindern, lassen wir ihn gehen.“ Der andere nickte. Dann zu Kerschbaumer: „Vada a casa Kerschbaumer, man non faccia più questi scherzi – gehen Sie nach Hause, Kerschbaumer, aber mache Sie keine solchen Scherze mehr.“ „Da waren sie doch wieder menschlich“, bemerkte er Pepi Fontana gegenüber. In der Tat: Ein verknöcherter Bürokrat oder ein Fanatiker hätte den Fall zu einem Skandal hochspielen können. Sepp Kerschbaumer war der Ausrutscher eine Lehre fürs ganze Leben. Er hatte zum ersten Mal erfahren, dass ihn der Alkohol zu einer Handlung verleiten konnte, die ihm sonst gar nicht in den Sinn gekommen wäre. Von diesem Tag an trank er keinen Tropfen Wein mehr, gar nicht zu reden von Spirituosen. Keine Runde und kein Anlass konnten ihn bewegen, auch nur an einem Glas zu nippen. Der Grundsatzmensch Kerschbaumer hatte einen Beschluss gefasst, und dabei blieb es.

Sepp Kerschbaumer

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