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Eine verlorene Stimme der Vernunft

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Ein Beamter kann in die Lage kommen, dass er Handlungen setzen muss, die mit seiner Überzeugung im Widerspruch stehen. In diese Situation geriet 1957 der Bozner Quästor Renato Mazzoni. Er hatte bei dem Ringen um einen Platz für die Kundgebung von Sigmundskron eine Position einnehmen müssen, die mit seiner Einstellung nicht im Einklang stand. Wie er wirklich dachte und die Dinge in Südtirol beurteilte, legte er dem Innenminister Fernando Tambroni mit Schreiben vom 17. März 1957 ausführlich und unmissverständlich dar. Seiner Meinung nach sei der jetzige Zustand auf einen schweren Bildungsmangel und auf die politische Kurzsichtigkeit der regierenden Trentiner Kreise zurückzuführen. Sie hätten eine historische Gelegenheit versäumt und nicht begriffen, welch ein Instrument vor allem kultureller und dann auch verwaltungsmäßiger Art das Autonomiestatut darstelle, um Europa zu zeigen, dass das freie, zivile und demokratische Zusammenleben von zwei Volksgruppen in einem bestimmten Raum möglich sei.

Bedenklich findet er auch den kulturellen Hochmut, der jedes Südtiroler Brauchtum als dekadente Folklore abtue und nicht begreifen wolle, dass das Volkstum nicht allein in der Hochsprache, sondern auch in der Mundart, im Brauchtum, in den Überlieferungen, kurz in all dem begründet liegt, was von der Vergangenheit auf die Gegenwart gekommen ist.

Wer ein solches Volkstum als eine „civiltà della Stube“ bezeichne, offenbare seine Arroganz und setze eine vermeintliche Überlegenheit der lateinischen Zivilisation über jede andere davon abweichende Lebensart. „Die systematische Ablehnung der Verständigungsbereitschaft, die Unkenntnis der deutschen Sprache seitens der Politiker, Justizbeamten und hohen Staatsfunktionäre hat eine unüberwindliche Barriere zum Verständnis der Bedürfnisse der Minderheit entstehen lassen.“ Er selbst habe es als seine erste Aufgabe angesehen, die deutsche Sprache zu erlernen, dies habe ihn in die Lage versetzt, die Südtiroler Wesensart zu verstehen. Und dadurch habe er sich nicht nur die Wertschätzung und das Vertrauen der Politiker erworben, sondern auch und vor allem der Bevölkerung.

In ihrer antikulturellen und antihistorischen Handlungsweise hätten die regierenden Trentiner Kreise mächtige Bundesgenossen in den nationalistischen Zirkeln der Provinz Bozen gefunden, die sich in allen Parteien, insbesondere aber in der Democrazia Cristiana und im bürokratischen Apparat des Staates eingenistet hätten – und das auf jeder Ebene, sei es in Rom wie in Bozen.

Auch das zerstörerische Werk der Presse nimmt Mazzoni aufs Korn. Dem „Alto Adige“ sei es, der römischen Subventionen und des Absatzes wegen, nicht schwergefallen, die nationalistische Werbetrommel zu rühren, ohne Rücksicht auf die Folgen für jene, deren Anliegen er vorgebe zu vertreten.

Dem Staat, so Mazzoni weiter, müsste die Erlernung der deutschen Sprache ein ernstes Anliegen sein. Derzeit sei es so, dass eine Generation von Italienern heranwachse, die die deutsche Sprache nicht beherrsche und ihre Gleichaltrigen deutscher Muttersprache auch in Zukunft nicht verstehen werde. Der Staat, rät er dem Innenminister, müsse unverzüglich ernsthafte Maßnahmen zur Behebung dieser Situation treffen.


Der Bozner Quästor Renato Mazzoni, ein Mann der Mäßigung und der Vernunft, aber ohne Rückhalt in Rom, daher auf verlorenem Posten

Mazzoni schlägt Tambroni vor, bei der Region die rein legislativen Aufgaben zu belassen und jegliche verwaltungsmäßige Kompetenz an die beiden Provinzen zu delegieren. Der Anspruch der Trentiner Politikerklasse, die italienische Volksgruppe vor den Deutschen schützen zu müssen, habe die Situation zusätzlich verschlechtert. Es sei zunächst eine „linguistische Häresie“, aber auch ein politischer Fehler, von der italienischen Volksgruppe in Südtirol als ethnischer Minderheit zu sprechen, denn die Italiener in Südtirol bildeten einen integrierenden Bestandteil der italienischen Nation. Ein anderer Fehler sei der, die Region auf die Person des Präsidenten Odorizzi zuzuschneiden („La Regione si chiama Odorizzi“). In Wirklichkeit sei die Region mehr als eine Gesetzesmaschine, sie sei ein humanes Ganzes, entstanden aus der Geschichte, aus dem Brauchtum, aus gemeinsam erlebtem Leid, aus dem Erbe der Väter.

Fatal sei, dass sich die deutsche Volksgruppe in ihren Hoffnungen auf eine echte Autonomie verraten fühle und das „Los von Trient“ ausgerufen habe. Aber man halte sich vor Augen: „Los von Trient“ heiße noch nicht „Los von Rom“. Um zu vermeiden, dass es zu einem „Los von Rom“ komme, müsse man mit hoher politischer Intelligenz den Dialog wieder aufnehmen und das ganze Problem einer gerechten Lösung zuführen. Konkret: Das Statut müsste so abgeändert werden, dass die legislativen und administrativen Aspirationen der deutschen Minderheit gesichert seien. Dabei dürfe man sich nur vom Gerechtigkeitssinn und nicht von der „italica furberia“ (italienischen Schlauheit) leiten lassen. Nur so könne man auch den Italienern in Südtirol einen neuen ethnischen und sozialen Frieden verschaffen. „Es drängt mich“, schreibt Mazzoni abschließend dem Minister, „Ihnen meine tiefe Besorgnis darüber auszusprechen, daß sich unter dem Druck der Ereignisse die Lage weiter verschlechtern wird.“ Die Gründe dafür sieht er in der „Internationalisierung des Südtirolproblems, in der fehlenden Koordinierung der verschiedenen Staatsgremien und ihren Eifersüchteleien, in der nationalistischen Erpressung gegenüber Rom durch genau bekannte Trentiner und italienische Kreise in Südtirol, in den Fehlern der SVP und den stets misslungenen Versuchen, diese Partei durch Zuwendungen an diskreditierte Personen und Institutionen zu spalten.“


Andrea Mitolo, genannt Duce von Bozen, suchte – im Unterschied zu Mazzoni – die Konfrontation mit den Südtirolern. So sprengte er am 19. November 1957 mit einem Schlägertrupp in Neumarkt eine Versammlung der Südtiroler Volkspartei.

„Wenn die geschichtsbildenden Ereignisse den Staat zum ‚redde nationem‘ zwingen werden“, warnt Mazzoni den Minister eindringlich, „dann wird man von der Gerechtigkeit abweichen und den ethnischen Bedürfnissen mehr als das Gebührende gewähren müssen.“ Zum Schaden der italienischen Volksgruppe, wie er meint, die man schlauerweise durch juridische Ausflüchte schützen wolle. „Leider wird nicht unsere Generation dafür büßen müssen, sondern jene, die nach uns kommen wird.“72

Soweit der Bozner Quästor Renato Mazzoni in seinem Lagebericht. Doch war und blieb er ein einsamer Rufer in der Wüste, ein lästiger obendrein. Rom dachte damals nicht daran, Südtirol Konzessionen einzuräumen. Deshalb wollte es in Bozen auch an der Spitze der Polizei einen Mann der harten Hand, nicht einen Menschen mit Herz und Verstand. Vollends in Ungnade fiel Mazzoni in Rom durch die Ereignisse um die Kundgebung von Sigmundskron. Ein kleiner Zwischenfall bei einer Gegenkundgebung des MSI, bei der italienische Schüler zum Sitz der Volkspartei marschieren wollten, gab den letzten Anstoß zu seinem Sturz. Er wird nach Treviso versetzt. Für den aus Venedig stammenden Staatsbeamten alten Stils, der seine delikate Aufgabe in Südtirol seit 1947 mit Geschick und Verständnis für die Minderheit ausgeübt hatte, ist dies eine Strafversetzung, eine Demütigung, an der er schwer leidet. Depressionen stellen sich ein. Anfang 1959 scheidet er freiwillig aus dem Leben.

Renato Mazzoni, der treue Diener seines Staates, war gewissermaßen das erste Opfer der von ihm frühzeitig als verfehlt erkannten Politik des Staates in Südtirol. Es hat noch Jahre gedauert und noch vieler Opfer bedurft, bis die Vernunft im Sinne Mazzonis sich einen Weg bahnte.

Sepp Kerschbaumer

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