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Von der zivilen Auflehnung zur Gewaltanwendung Todesmarsch und Existenzängste

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Rom und Trient machten von ihrer Macht über Südtirol einen denkbar schlechten Gebrauch. Wie bereits angedeutet, hatte das Pariser Abkommen eine Auslegung erfahren, die seinen Sinn und Zweck in das Gegenteil verkehrte. An Stelle einer Region Südtirol war die Doppelregion Trentino-Tiroler Etschland mit je einem Landtag in Bozen und Trient und einem übergeordneten Regionalrat geschaffen worden. Im Regionalrat waren die Südtiroler im Verhältnis zwei zu fünf vertreten, daher den Launen der Italiener völlig ausgeliefert. Vor allem aber waren es die Trentiner, die bestimmten, was wie über die Bühne ging. Dies begann schon bei der Zuteilung der Gelder. Mit ihrem Übergewicht konnten sie den Hauptanteil des Budgets in ihre Provinz verlagern. Zwar räumte das Autonomiestatut den Südtiroler Abgeordneten die Möglichkeit ein, gegen das Regionalbudget Einspruch zu erheben. Diese Bestimmung hatte aber nur einen dekorativen Wert. Denn immer, wenn die Südtiroler von diesem Recht Gebrauch machten, genehmigte der Innenminister den Haushalt so, wie ihn die Trentiner erstellt hatten.25 Ähnlich war es mit Artikel 14 im Regionalstatut. Die Region konnte auf die Provinz, auf die Gemeinden und auf andere Körperschaften bestimmte Verwaltungsbefugnisse übertragen.26 Dies war aber keine Muss-, sondern nur eine Kann-Bestimmung, eine Kann-Bestimmung freilich, die lange Zeit die Hoffnung aufrechterhielt, dass wenigstens auf dem Gebiet der Verwaltung ein gewisses Maß an Autonomie zugestanden werde. Aber bis 1960 blieb dieser Artikel toter Buchstabe; später wurde er nur in Ausnahmefällen angewandt.27

Zur Enttäuschung über die verweigerte Autonomie kam die Sorge über die Zuwanderung, die bereits 1945/46 massiv eingesetzt hatte und in den 1950er-Jahren beängstigende Ausmaße annahm. Dieser Zustrom aus dem Süden folgte nicht einem Naturgesetz, sondern war gelenkt. System steckte auch hinter der Praxis, den Südtirolern den Zugang zu den staatlichen und halbstaatlichen Stellen zu versperren. Diese Ausgrenzung erzeugte allmählich einen gefährlichen Druck. Bedingt durch den Einzug der Technik in die Landwirtschaft, setzte der Bauernstand immer mehr Arbeitskräfte frei. Zudem strebten Jahr für Jahr stärkere Geburtenjahrgänge in das Erwerbsleben. Stellen hätte es ja in Südtirol gegeben, aber sie waren Italienern vorbehalten. Und so blieb oft nur mehr der Weg ins Ausland offen. Um 1958 verließen jährlich rund 7.000 Südtiroler ihre Heimat, um in Deutschland oder in der Schweiz Arbeit zu suchen.28 Nur ein kleiner Prozentsatz von ihnen kehrte nach Südtirol zurück; die meisten blieben für immer weg. Potenziert wurde diese Verdrängungs- und Überfremdungstendenz durch eine gezielte Wohnbaupolitik. In den 1950er- und 1960er-Jahren war es für einen Südtiroler fast unmöglich, eine Sozialwohnung zu bekommen. In der Zeit von 1945 bis 1956 wurden in der Provinz Bozen 4.100 Volkswohnungen errichtet, aber nur 246 davon gingen an Südtiroler.29

Auf die Gefahr, die Südtirol vom Süden her drohte, machte Kanonikus Michael Gamper schon im Oktober 1953 aufmerksam. Der Prozentsatz der einheimischen Bevölkerung sinke von Jahr zu Jahr steil ab, „gegenüber dem unheimlichen Anschwellen der Einwanderer“. „Fast mit mathematischer Sicherheit können wir den Zeitpunkt errechnen, zu dem wir nicht bloß innerhalb der zu unserer Majorisierung geschaffenen Region, sondern auch innerhalb der engeren Landesgrenzen eine wehrlose Minderheit bilden werden … Es ist ein Todesmarsch, auf dem wir Südtiroler seit 1945 uns befinden, wenn nicht noch in letzter Stunde Rettung kommt.“30 Michael Gamper, ein Mann des Volkes in des Wortes positivem Sinn, hatte hier die Problematik um Südtirol auf den Punkt gebracht. Dass Gamper mit der Parole vom Todesmarsch keine leere Worthülse in die Welt gesetzt, sondern ein Schlagwort mit Inhalt geprägt hatte, zeigte sich spätestens bei der Landtagswahl von 1956: Verglichen mit 1948 verzeichneten die italienischen Parteien einen Stimmenzuwachs von 32,8 Prozent (rund 16.000 Stimmen), die Listen der Südtiroler Parteien hingegen nur einen Stimmenzuwachs von 16 Prozent (17.000 Stimmen).31 Zu diesen Fakten kam dazu, dass sich in den 1950er-Jahren ganz allgemein das politische Klima verschlechterte. Es wurde für die Südtiroler zusehends unbehaglicher, in Südtirol zu leben. „Politik, Exekutive und Justiz arbeiteten Hand in Hand, um in Südtirol eine Atmosphäre präpotenter Repression zu erzeugen.“32 Reine Lappalien gaben Anlass für Anzeigen, umständliche Untersuchungen und für Verurteilungen. Jede Schwurgerichtssession hatte eine Reihe von Schmähprozessen im Programm, reine Grotesken im Nachkriegseuropa, in Südtirol aber harte Wirklichkeit. Die Erbitterung über solche Verfahren steigerte sich von Mal zu Mal, weil sich die Italiener den Südtirolern gegenüber alles leisten konnten – Verhöhnungen, Diffamierungen33, Störaktionen, Überfälle und Verprügelungen34 – ohne Gefahr zu laufen, von Polizei und Justiz jemals zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Wie haben die Südtiroler auf alle diese Diskriminierungen und Provokationen reagiert? Die meisten taten das, was sie oder ihre Väter unterm Faschismus getan hatten: Sie duckten sich und machten die Faust im Sack. „Zu Beginn der fünfziger Jahre“, sagt der Bozner Unternehmer und Landwirt Franz Widmann, „da haben wir noch aus der Faschistenzeit diese Angst in den Knochen gehabt, diese kolonialistischen Minderwertigkeitskomplexe. Wir haben uns nicht losgesagt von dieser Hypothek. Wir haben ja alle nach dem Krieg unter diesem deutschen Komplex gelitten. Auch aus dieser Situation heraus läßt es sich erklären, warum wir nicht die Forderung nach Selbstbestimmung beibehalten haben, warum die Politik der Volkspartei so konziliant war. Alles Deutsche befand sich ja praktisch in einem halbkriminellen Raum. Österreich war noch nicht handlungsfähig, ein besetztes Land, Südtirol auf sich allein gestellt.“35

Sepp Kerschbaumer

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