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Ungeliebte Nordlichter
ОглавлениеDie Widerstände wuchsen, und der inzwischen zum Geheimrat aufgestiegene Paul Johann Anselm Feuerbach hatte es längst nicht nur mit sachlicher Kritik zu tun. Was am Palmsonntag 1810 geschah, kann noch als Schabernack der derben bayerischen Art gewertet werden: Ab halb sieben Uhr früh klopfen angeblich bestellte Lieferanten, Palmenbringerinnen, Pudelscherer, sogar Einsargerinnen pausenlos bei Feuerbachs an die Tür. Der Strafrechtler reagiert ebenso derb: Er bestellt ein Polizeiaufgebot ins Haus, das die Protagonisten der Komödie hereinlässt, sie drinnen aber in ein Zimmer einsperrt und verhaftet. Am Nachmittag geht Feuerbach zum König, der schon im Bilde ist: Er will sich in die Provinz versetzen lassen, doch Max Joseph tröstet seinen Geheimrat in rührender Weise, dann drückt er ihm eine „sehr große Anweisung auf seine Privatdispositionskasse“ in die Hand und sagt ihm, er solle sich eine Reise gönnen, um Abstand von der Sache zu gewinnen.22
Schon ein oder zwei Jahre zuvor hatte es angefangen: Anonyme Verdächtigungen, bis hin zum Hochverrat, zirkulierten im Wirtshaus und in Flugschriften; an Hauswänden oder in Zeitungen waren Schmähschriften zu lesen, Briefwechsel wurden fingiert und nie geschriebene Bücher in hämischen Rezensionen verrissen. Paul Johann Anselm Feuerbach war eines der prominentesten, aber bei weitem nicht das einzige Opfer einer inszenierten Hetze gegen alles, was in der von Montgelas gerufenen intellektuellen Elite protestantisch und „norddeutsch“ war. Die Hetze wurde zum blutigen Ernst, als in den Faschingstagen des Jahres 1811 auf Friedrich Thiersch, der zum engsten Freundeskreis der Familie Feuerbach gehörte, ein Mordanschlag verübt wurde, den dieser nur mit knapper Not überlebte.
Thiersch war neben dem Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi23, dem Archäologen Schlichtegroll und dem Pädagogen Niethammer einer der brillantesten Köpfen unter den „Nordlichtern“. 1784 in Sachsen geboren, in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, war er 1809 als Gymnasiallehrer nach München gekommen, wo er nebenbei als Hauslehrer nicht nur die beiden ältesten Söhne des Strafrechtlers Feuerbach unterrichtete, sondern auch die vier ältesten Töchter des Königs, die er so für das Griechische zu begeistern verstand, dass sie den Nymphenburger Park in Hexametern beschrieben. Thiersch wurde Mitglied der Akademie der Wissenschaften, später ihr Präsident, und machte sich insbesondere um die Ausbildung der Gymnasiallehrer verdient. Seine bis heute unvergessene fünfzigjährige Tätigkeit als Lehrer der Lehrer trug ihm den Titel des praeceptor Bavariae ein. Er war ein ungemein begeisterungsfähiger, hoch gebildeter Mann, der mit Gelehrten wie Wilhelm von Humboldt, Künstlern wie Thorvaldsen, Dichtern wie Platen und Heine im Austausch stand. Außerdem ein Philhellene der ersten Stunde, der, noch bevor Prinz Otto (möglicherweise auf seine Vermittlung hin) von den Schutzmächten zum König des befreiten Griechenland gekürt wurde, ausgiebig und auf eigene Kosten Griechenland bereist hatte; er sprach fließend Neugriechisch, kannte viele geistliche und politische Führer im Lande und vermittelte mehrfach bei Konflikten unter ihnen.24 Im Leben der beiden älteren Brüder Ludwigs, Anselm und Karl, spielte er eine wichtige Rolle: Er war es, der Anselm, dem ältesten, die Liebe zur Antike einpflanzte, die dieser an seinen Sohn, den Maler Anselm Feuerbach, weitergab (dessen Pate wiederum Thiersch war25). Und für Karl, den zweitältesten, war Thiersch der Freund, der ihn in schwierigster Lage wieder aufrichtete.
Nach dem Attentat auf Thiersch ergriff die Regierung zwar Maßnahmen. Unter anderem wurde der Hauptdrahtzieher Johann Christoph von Aretin in die Provinz versetzt. Doch Feuerbach hatte sich weiterhin mit Verdächtigungen auseinanderzusetzen: Die einen warfen ihm Franzosenfreundlichkeit vor, weil er den Code Napoléon lobte und das Schwurgericht grundsätzlich positiv bewertete; andere, bis hin zu Montgelas, argwöhnten bei ihm Sympathien für das gegnerische Österreich. Nachdem er den Entwurf zum neuen Bürgerlichen Gesetzbuch abgeliefert hatte, wurde er praktisch kaltgestellt, indem man ihm einfach keine Arbeit mehr gab. Feuerbach nutzte die „Muße“ und schrieb ein Buch über die Schwurgerichtsfrage sowie mehrere Flugschriften zur aktuellen politischen Lage.
Es war 1812, die Zeit von Napoleons Russland-Desaster und der Aufrufe in ganz Deutschland zum großen Befreiungskampf. Paul Johann Anselm Feuerbach nahm – wie Thiersch, der seine Studenten mitbrachte – an Exerzierübungen teil, um als „Gemeiner“ in der Nationalgarde zu dienen, und im November 1813 fragte er brieflich bei General Raglowich an, ob nicht in der Armee Verwendung für ihn wäre („nur nicht zum Rechnungswesen und zu denjenigen Geschäften, welche Mathematik erfordern“26). Eine seiner Flugschriften fand auch in der Bevölkerung starken Widerhall: „Über die Unterdrückung und Wiederbefreiung Europens“.27 In diesem glänzend geschriebenen, im Vergleich zu vielen patriotischen Schriften der Epoche wohltuend unpathetischen Text hält Feuerbach den deutschen Staaten vor, sie hätten es sich selbst zuzuschreiben gehabt, wenn Napoleon sie so leicht überrennen konnte: „Erschlaffung, träge Gemächlichkeit, eigenliebige Selbstgenügsamkeit, List statt offenen Vertrauens herrschten im Volk, wie in den Kabinetten.“ Die Landesverteidigung habe man „Lohnknechten“ überlassen, befehligt durch „ausgediente Heerführer oder unerfahrene Offiziere, die nichts hatten als eine Geburt, welche ihnen das Verdienst entbehrlich machte“. Fürsten und Adel hätten bloß noch ihren beengten Interessenhorizont gesehen und sich auf dem Besitzstand ausgeruht. Die Französische Revolution indessen habe ungeheure Energien freigesetzt, die Napoleon geschickt zu kanalisieren und instrumentalisieren verstanden habe: „Große Ideen über Menschheit und Menschenwürde (welche trotz den Greueln, zu welchen sie als Vorwand dienen mussten, ewig wahr und herrlich bleiben und, einmal gewonnen, niemals wieder verloren gehen können) hatten sich der Geister bemächtigt.“ Und diese Energien hätten Frankreichs Heere so unüberwindlich gemacht. Um sie zu besiegen, müsse sich nicht in den Köpfen, sondern in den Herzen etwas bewegen: „Was insbesondere gesunkene Völker aufrichten, entzweite Nationen vereinigen und für Einen Zweck zu großen Opfern und großen Thaten ermannen soll, kann nur irgend ein Gemeinschaftliches sein, was nicht den Kopf, sondern die Brust erfüllt, nicht kalt zum Verstande, sondern eindringend zum Gemüthe spricht.“28
Die Schrift erschien in der Woche nach der Völkerschlacht von Leipzig, war also vorher geschrieben und gedruckt worden. Wäre die Schlacht zugunsten Napoleons ausgegangen, hätte der Verfasser Schlimmes zu gewärtigen gehabt. Aber auch so reichte es zu einer amtlichen Rüge, in der es hieß, es werde „die dem feindlichen Souverän … gebührende Achtung gänzlich vermisst“.29 Dahinter stand Montgelas, den allerdings wohl etwas anderes noch mehr störte, nämlich der liberale und nationale Tenor der Schrift. Er wollte nichts wissen von patriotischem Volkskrieg, und für die „wieder aufkommende fatale Deutschheit“ hatte er nur Hohnlachen übrig.30 Als Paul Johann Anselm Feuerbach einige Monate später in einer zweiten Flugschrift die napoleonischen Weltherrschaftsansprüche als „Grab der Menschheit“ bezeichnete und unmittelbar vor dem Wiener Kongreß in einer dritten Schrift – „Über teutsche Freiheit und Vertretung teutscher Völker durch Landstände“ – für Verfassung und konstitutionelle Monarchie plädierte, betrieb Montgelas seine Entfernung. Feuerbach notierte: „Seitdem wird die politische Luft schwül, und ich merke, dass sich Gewitter zusammenziehen.“31
Im Juni 1814 wurde er als zweiter Präsident ans Appellationsgericht in Bamberg versetzt, auf ausdrückliche Anweisung des Königs blieben ihm aber Rang und Besoldung. Feuerbach war es nur recht, er war „des Hoflebens und seiner Schikanen längst bis zur Verzweiflung überdrüssig“.32 Bamberg ließ sich zunächst gut an, er wohnte in der Dompropstei33 und genoss das Leben. Auf Dauer konnte es freilich nicht gut gehen: Als Wirklicher Geheimer Rat stand Feuerbach im Rang über dem ersten Präsidenten, der ostentativ darauf bestand, sein Vorgesetzter zu sein. Faktisch hatte der Strafrechtler also wieder keine Arbeit. Zur Verbitterung hierüber kamen die Enttäuschung über den Verlauf des Wiener Kongresses und der Zorn über Reaktion und Gesinnungsschnüffelei in Bayern. Im Sommer 1815 gönnte sich Feuerbach einen Kuraufenthalt in Karlsbad. Er bewegte sich dort in erlauchten Kreisen und „genoss nach den Demütigungen in Bamberg mit vollen Zügen die Wonnen der Zelebrität“.34 Mit der damals hochberühmten Elisa von der Recke und derem Lebensgefährten Christoph August Tiedge schloss er die einzige ihn auch geistig-musisch anregende Freundschaft seines Lebens. Eine andere Karlsbader Bekanntschaft war der preußische Innenminister von Schuckmann, der ihm eine gesetzgeberische Tätigkeit und einen Lehrstuhl in Berlin in Aussicht stellte. Eine Weile setzte Feuerbach seine ganze Hoffnung auf Preußen, das ihm aber, als sich die Anzeichen für die einsetzende Reaktion mehrten, immer weniger verlockend vorkam: So sah er in der Schmalzschen Denunziationsschrift die „Ankündigung der Plane einer aristokratischen Partei, welche des Despotismus bedarf, um den Geist des Rechts und rechtlicher Freiheit wieder in die alten Ketten zu legen“.35
Dennoch fuhr Feuerbach Anfang 1816 – wieder einmal ohne Erlaubnis der Regierung – für Monate nach München, angeblich ärztlicher Konsultationen wegen, in Wirklichkeit um seinen Wegzug von Bayern zu organisieren. Mit einer Mischung aus Komödie – er spielte den Kranken und empfing Besucher im Bett, neben sich „ein Tisch mit großen Arzneigläsern, Büchsen und Pflastern“36 – und waghalsigem Trotz gegen königliche Reskripte verteidigte er sich hier gegen den gefährlichsten Angriff auf seine Karriere: Es war bereits ausgehandelt, dass Salzburg, Tirol und Innviertel wieder an Österreich zurückfallen sollten. Montgelas nutzte die Gelegenheit, um schnell noch alle „weniger befähigten Subjekte“ nach Salzburg zu versetzen und damit nach Österreich abzuschieben37 – und Paul Johann Anselm Feuerbach zählte dazu: Drei Wochen vor der Unterzeichnung des Abtretungsvertrags wurde er zum „Generalkommissär des Salzachkreises“ ernannt. Feuerbachs Rettung war schließlich die Weigerung Österreichs, neue Beamte zu übernehmen. Dem widerspenstigen Geheimen Rat wurde Urlaub auf unbestimmte Zeit gewährt, den dieser für Reisen, Begegnungen – „vor allem mit Männern des kommenden Bundestages“38 – und die Abfassung einer Denkschrift nutzte, in der er die Schaffung eines schon von Goethe ins Gespräch gebrachten Bundes der deutschen Klein- und Mittelstaaten vorschlug.39