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2. Hegel statt Biedermeier Frommer Ludwig
ОглавлениеIn Wigands Conversations-Lexikon aus dem Jahre 1847, im nicht namentlich gezeichneten (allerdings, wie man weiß, von Ludwig Feuerbach verfassten) Artikel „Paul Johann Anselm von Feuerbach und seine Söhne“ heißt es, Ludwig sei „der, welcher die Rolle seines Vaters zu wiederholen bestimmt scheint“.92 Zunächst sah es nicht danach aus. Ganz anders als sein Vater, der sich als Halbwüchsiger aus Frankfurt hinaus ins Lager der vor der Stadt liegenden Franzosen schlich und dann an ihrer Spitze in die Stadt einmarschierte,93 war Ludwig in diesem Alter sehr brav und fromm.
Ob er es schon als Kind war, wissen wir nicht, mangels jeglicher Quelle. Das einzige und auch bloß indirekte Zeugnis über seine Kindheit ist ein Nebensatz in einem Briefentwurf des knapp dreißigjährigen Dr. Ludwig Feuerbach, in dem er Friedrich Thiersch daran erinnert, dass er sich „als Knabe … so mancherweise Ihres Wohlwollens zu erfreuen hatte“.94 Wir sind also auf das Vorstellungsvermögen angewiesen und müssen uns die Kindheit des Philosophen selbst ausmalen.
Ludwig war noch ein Kleinkind, als er mit seinen Eltern und Brüdern von Landshut nach München übersiedelte. Die Familie Feuerbach bezog ein „großes Quartier von 11 Zimmern“95 im Zentrum der Hauptstadt, kaum fünfhundert Meter von der Residenz entfernt. München, das damals gut 40.000 Einwohner zählte, war noch „die gemütliche, altbayerische Bauernstadt, wo sommers die Heuwägen übers Pflaster holperten“.96 Die ständische Trennung zwischen Aristokratie und „niederem Volk“ war vermutlich weniger zu spüren als in bürgerlich geprägten alten Reichsstädten wie Augsburg, selbst wenn es nicht überall so zuging wie im Bockskeller, der, wie ein Zeitgenosse schwärmte, „etwas von einem Hexenpanorama [hatte], indem alle Stände und Geschlechter bunt und gleich durcheinander gemischt sind … Staatsdiener und Offiziere neben Höckerweibern, Schauspieler neben öffentlichen Mädchen, Tonkünstler neben Sackflickerinnen, Fleischerknechte neben elegant gekleideten Frauen, zerlumpte Bettler neben duftenden Süßlingen … Der freie republikanische Sinn der Münchner nimmt an dieser orgischen Unterwelt keinen Anstoß.“97
Ganz ins Bild dieses „republikanischen Sinns“ passte „Vater Max“, der König, der „beim Kaltenbrunner zum Kuchelfenster hineinschreien konnte, ob die Knödel schon fertig seien“ – und dies keineswegs inkognito.98 Der junge Ludwig Feuerbach muss ihn öfter zu Gesicht bekommen haben, sein Vater war ja nicht nur gut mit ihm bekannt, sondern auch einer seiner geschätztesten Fachleute. Es ist durchaus möglich, dass dieses Münchner Leben mit seiner im Grunde noch bäuerlichen, oftmals herben, aber auch herzlichen Direktheit Ludwig Feuerbach geprägt hat: Mit den einfachen Bauern im ländlichen Bruckberg, wo er einen Großteil seines Lebens verbringen wird, kann er sich ungezwungener unterhalten als in Abendgesellschaften.
Die Atmosphäre im elterlichen Haus muss dazu kontrastiert haben: Der Strafrechtler Paul Johann Anselm Feuerbach war zu dieser Zeit schon europaweit eine Berühmtheit und stand mit Gelehrten in ganz Deutschland, in Holland und sogar Russland in Verbindung. Zum engsten Freundeskreis der Familie gehörten außer den prominenten Philologen Thiersch und Niethammer auch der damals über sechzigjährige „Philosoph des Sturm und Drang“ Friedrich Heinrich Jacobi, der seit 1807 erster Präsident der bayerischen Akademie der Wissenschaften war. Die vielen Bezugnahmen auf ihn, vor allem in den Schriften der dreißiger Jahre, zeugen von dem Eindruck, den der bedeutende Mann auf den jungen Ludwig gemacht haben muss.99
In München wuchs die Familie mit acht Kindern auf eine Größe an, wie sie einer altbayerischen Bauernfamilie zur Ehre gereicht hätte. Ihr Mittelpunkt, ihre Seele, war mit Sicherheit die Mutter: Wilhelmine (Minna), geborene Tröster. Als Kind soll sie sich „durch Liebreiz und Munterkeit“ ausgezeichnet haben und als junge Frau eine außerordentliche Schönheit gewesen sein. Ihre geringe Schulbildung – sie hatte nur die Dorfschule besucht – glich sie durch eigenen Lernwillen und Wissensdurst aus: Wenn sie am Abend dem Vater die Zeitung bringen sollte, hatte sie sie selbst bereits gelesen. Dass sie „von seltener Herzensgüte und Sanftmut“100 war, lässt sich auch aus Ludwigs Briefen an sie erahnen. Enkel Anselm, der Maler, porträtierte sie; in seinen Erinnerungen berichtet er von „der schönen, gütigen Großmutter“.101 Ludwig soll ihr in den Gesichtszügen geähnelt haben, auch seine Naturliebe und seine Freude am Wandern sollen mütterliches Erbe gewesen sein, ebenso die Musikalität, die allen Feuerbach-Kindern eigen war – auch dem Philosophen Ludwig, der, zumindest in der Jugend, „die Flöte blies“.102
Die beiden ältesten Feuerbach-Söhne Anselm und Karl hatten keine Volksschule besucht, Friedrich Thiersch hatte sie als Hauslehrer privat auf das Gymnasium vorbereitet. Seit 1802 galt zwar in Bayern der allgemeine Schulzwang, doch die staatliche Volks- oder „Trivialschule“ war erst im Aufbau begriffen, und so mag man dem Strafrechtler noch das Ausnahmerecht für „Standespersonen“103 zugebilligt haben, das in der alten Schulordnung von 1770/71 vorgesehen war. Inzwischen war aber im Zuge der Reformen auch die Erneuerung des staatlichen Volksschulwesens mit sehr viel Energie vorangetrieben worden, und ausgerechnet von Friedrich Immanuel Niethammer, der mit Jacobi, Thiersch und Paul Johann Anselm Feuerbach zum kleinen Kreis der prominenten „Nordlichter“ in der Residenzstadt zählte. Schon aus Solidarität mit seinem Mitstreiter wird Paul Johann Anselm Feuerbach, als Sohn Ludwig 1810 ins schulpflichtige Alter kam, keine Ausnahmegenehmigung mehr angestrebt haben.
Die Schule, die Ludwig besuchte, war vielleicht schon eine staatliche, doch sicherlich noch katholisch geprägt: Erst 1803 war das erste Lehrerseminar gegründet worden, viele Lehrer waren ehemalige Mönche aus den aufgelösten Klöstern, wie überhaupt das Schulwesen noch größtenteils in den Händen von Klerikern war. Auch die Mitschüler werden zumeist katholisch gewesen sein. Bayern hatte zwar seit neuestem protestantische Bevölkerungsteile (die ehemaligen Reichsstädte waren konfessionell gemischt, und die früheren Grafschaften Ansbach und Bayreuth waren traditionell ganz protestantisch), außerdem waren die großen christlichen Konfessionen im ganzen Lande gleichberechtigt. Es mag also um diese Zeit in München bereits protestantische „Zugereiste“ aus den neuen Landesteilen gegeben haben, doch diese Gemeinde war sicherlich sehr klein. Außerhalb des Hofes – Königin Karoline war Protestantin – wird es auch kaum protestantische Gottesdienste und Religionsunterricht gegeben haben.
Von beiden Eltern Ludwig Feuerbachs kann man annehmen, dass sie mit dieser Diaspora-Situation ohne große Schwierigkeiten zurechtkamen. In der Religiosität der Aufklärung spielte die Kirchenbindung allgemein eine untergeordnete Rolle, und Paul Johann Anselm Feuerbach hatte schon an der Universität Landshut einen unverkrampften Umgang mit katholischen Professoren-Kollegen104 gehabt. Auch bei der Mutter scheint konfessionelle Gebundenheit keine dominierende Rolle gespielt zu haben, jedenfalls konnte sie später der Religionskritik ihres Sohnes durchaus positive Seiten abgewinnen.105
Als Paul Johann Anselm Feuerbach nach Bamberg strafversetzt wurde und die Familie im Sommer 1814 dorthin zog, trat Ludwig als Zehnjähriger und die Unterprimärklasse überspringend gleich in die Oberprimärschule ein, wo er bereits Latein als Unterrichtsfach hatte. Im Spätherbst 1816 erhielt er ein lobendes Abschlusszeugnis: Er habe sich „durch seinen offenen Charakter, seine Ordnungsliebe, sowie durch äußerst stilles, ruhiges Wesen, durch vorzügliches sittliches Betragen überhaupt und durch großen Fleiß ausgezeichnet“.106 Wenige Monate zuvor war die Familie durch die Trennung der Eltern auseinandergerissen worden. Aus dieser Zeit – März 1817 – stammt der erste erhaltene Brief des dreizehnjährigen Ludwig an seine „liebste Mutter“. Die Sprache ist noch recht kindlich, Ludwig erzählt vom Hund und den fünf Vögeln, die sie haben, und wie viele Semmeln und Glas Bier sie täglich bekommen.107 Der zweite Brief, vom 9. Februar 1818, wieder an die Mutter, ist schon in Ansbach geschrieben, wo Ludwig nun das Gymnasium besucht. Aus weiteren Briefen an die Mutter erfahren wir, dass er fechten lernt, dass er in der „Turnerschaft“ ist und dass er ausgedehnte Wanderungen macht.
Im Januar 1819 wird der Stil der Briefe auf einmal seltsam betulich, der Ton geradezu pastoral: „Ich will aufwärts blicken gen Himmel zu dem Unaussprechlichen und ihn inbrünstig und demutsvoll anflehen, dass er Dir, o Gute, und Deinen lieben Töchtern, eine gute Gesundheit gebe und über Euch Friede, Ruhe, Frohsinn und Freuden in Fülle ausgieße!“108 Zwar sind dies Neujahrswünsche, doch es steckt offensichtlich mehr dahinter. In einem späteren Text verrät uns Ludwig Feuerbach, was in dieser Zeit in ihm vorgegangen ist: „Die erste während meiner Jugendperiode … mit Entschiedenheit hervorgetretene Richtung galt nicht der Wissenschaft oder gar Philosophie, sondern der Religion.“ Auslöser sei keineswegs der Religionsunterricht gewesen, dieser habe ihn sogar „ganz gleichgültig gelassen“. Auch andere religiöse Einflüsse schließt er aus: „Diese religiöse Richtung entstand … rein aus mir selbst durch das Bedürfnis nach einem Etwas, das mir weder meine Umgebung, noch der Gymnasialunterricht gab.“109
Zwei oder drei Jahre vor dem Abitur war sich Ludwig sicher: Er wollte Theologe werden. Dieses Berufsziel strebte er mit sehr viel Energie an, er beschäftigte sich intensiv mit der Bibel, und dafür genügte ihm der gymnasiale Hebräisch-Unterricht für künftige Theologiestudenten nicht: Beim Rabbiner von Ansbach nahm er Privatstunden – und unterrichtete dessen Sohn Moses dafür jahrelang in Latein. Moses Wassermann soll der erste Latein lernende Jude in Ansbach gewesen sein, im Städtchen sorgte die Sache jedenfalls für Aufsehen, und der arme Junge wurde auf dem Weg zu seinem „Lehrer“ sogar von Gassenjungen verprügelt. (Als er einmal deswegen an „Nervenfieber“ erkrankte, besuchte Ludwig ihn, obwohl das Leiden als ansteckend galt; die Freundschaft mit dem um sieben Jahre jüngeren Juden brach nie mehr ab).110
Ludwigs wohl schwärmerische, doch sehr intensiv gelebte Religiosität scheint die mehr oder weniger kirchenfreie Frömmigkeit vieler Protestanten der Spätaufklärung gewesen zu sein, deren „freies Christentum“ vor allem in tätiger Nächstenliebe, sittlicher Lebensführung und gefühlsbestimmter Frömmigkeit bestand. Ein Hinweis darauf ist die Lektüre, die Ludwig seiner Mutter eindringlich für die Schwestern ans Herz legt: Stunden der Andacht zur Beförderung wahren Christenthums und häuslicher Gottesverehrung. Die damals außerordentlich verbreitete Schrift war neben der Bibel das wichtigste Hausbuch zahlloser Familien, und zwar nicht nur protestantischer, sondern auch katholischer Konfession. Ihr Autor, Heinrich Zschokke, ein sehr fortschrittlich gesinnter Geist, hatte in der Schweiz pädagogische Pionierarbeit geleistet und tatkräftig an politischen Reformen mitgewirkt; sein umfangreiches Oeuvre von Trauerspielen, Erzählungen und Traktaten politischen, pädagogischen, sogar forstwirtschaftlichen Inhalts – Erbauungsliteratur ist die Ausnahme – machte ihn zu einem der meistgelesenen deutschen Autoren des neunzehnten Jahrhunderts.111
Ludwigs „politische Ausrichtung“, wie sie in der ganz selbstverständlichen Sympathie für den Attentäter Sand im bereits zitierten Brief an die Mutter zum Ausdruck kommt, stand keineswegs im Widerspruch zu seiner Religiosität. Diese Sympathie war kennzeichnend für breite Kreise des protestantisch geprägten deutschen Frühliberalismus. Berühmtestes Beispiel ist der Berliner Theologieprofessor de Wette, der an die Mutter des Attentäters einen Trostbrief schrieb (es kostete ihn das Amt). In dieselbe Richtung weist auch der Eintrag Ludwigs in das Poesiealbum eines Ansbacher Freundes, der ebenfalls Theologe werden wollte: „Unser Vaterland ist jetzt im Spital; alles darin leidet; Freiheit und Recht liegen auf dem Sterbebette, und die alten erhabenen Tugenden schleichen nur noch als blasse dürre Totengerippe daher, und leider sind die Ärzte, die zu seiner Heilung berufen sind, teils selbst auf dem Hunde, teils klägliche Quacksalber. Darum wollen wir uns zu gesunden und tüchtigen Ärzten bilden, die nicht aus Lohnsucht, sondern aus reiner Liebe zum Vaterland an seiner Heilung arbeiten.“112
Im Frühjahr 1823, als der neunzehnjährige Ludwig Feuerbach dies schrieb, hatte er das Gymnasium – seine „gleichgiltigste Lebensperiode“113 – hinter sich. Im Abschlusszeugnis wird ihm die Ernsthaftigkeit seines theologischen Selbststudiums bescheinigt: „Durch das fleißige Lesen der Bibel hat er es zu einer großen Fertigkeit in der Bibelsprache gebracht und dürfte es darin mit vielen Geistlichen aufnehmen.“ Einige Abhandlungen, die er geschrieben habe, hätten es freilich nötig gemacht, „ihn vor dem groben Mystizismus zu warnen“.114 Zum Zeitpunkt des Abiturs kann dieser „Mystizismus“ so grob nicht gewesen sein, und mit Sicherheit war er nicht von der Art, die einige Jahre zuvor seinen ältesten Bruder Anselm nächtelang auf den Knien um Erleuchtung und übernatürliche Erscheinungen flehen ließ – aus leidvoller Erfahrung würde sein Vater eingeschritten sein. In einem Rückblick sagt Ludwig Feuerbach, er habe damals „auf dem Standpunkt denkender Religiosität“ gestanden. Zeugnis davon sind auch die Lektüren, mit denen er sich in dem halben Jahr beschäftigte, das er nach dem Abitur im Elternhaus mit der wieder vereinigten Familie verbrachte: Opitz, Augustinus, Hieronymus, Luther, Hamann, Herders Briefe das Studium der Theologie betreffend.115