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Herr Präsident

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Ein unerwarteter Ausweg bot sich an: Großherzog Karl August von Weimar, der von Feuerbachs Schicksal erfahren hatte, machte von sich aus ein großzügiges Angebot: Die Position des Kanzlers der Universität Jena, dazu Wirklicher Geheimer Rat mit dem Rang eines Staatsministers (er wäre Goethes „Kollege“ gewesen), als Dreingabe das Großkreuz des Falkenordens. Doch Feuerbach lehnte schließlich ab, diese „Aussicht auf einen sehr ehrenvollen Ruhestand“40 konnte ihn noch nicht verlocken, trotz allem hing er inzwischen an Bayern. Er blieb einstweilen in München und widmete sich hauptsächlich seinen Studien zur vergleichenden Rechtsgeschichte. Erst Montgelas’ Sturz im Februar 1817 beendete die verfahrene Situation: Paul Johann Anselm Feuerbach wurde zum ersten Präsidenten des Appellationsgerichts Ansbach ernannt. Der Ort war zwar provinziell und verschlafen, doch der „Rezatkreis“, wie die Gegend in der Montgelas-Ära hieß, war protestantisch und hatte vor noch nicht langer Zeit unter reformfreudiger preußischer Verwaltung gestanden (Hardenberg hatte als „preußischer Vizekönig“ viel modernisiert). Feuerbach war offenbar schon bald entschlossen, hier zu bleiben, denn schon nach einem Jahr kaufte er ein sehr stattliches Haus.41 Seine Amtsgeschäfte führte er, zumindest in der ersten Zeit, vorbildlich, und der Justizminister, vordem sein Gegner, erstattete dem König nach einer Visitation einen so lobenden Bericht, dass dieser sich persönlich mit Handbillet bedankte – und obendrein einen Schuldschein über „ein nicht unbedeutendes Kapital“ für ihn tilgte.42

Schon in seiner meisterlichen Ansbacher Antrittsrede43 hatte Feuerbach dezent eine Beschleunigung der Gerichtsverfahren angemahnt. Im Vorfeld der Ständeversammlung, die nach Inkrafttreten der Verfassung von 1818 – durch sie wurde Bayern als erstes deutsches Land zur konstitutionellen Monarchie – zusammentrat, ließ er „höchsten und hohen Personen“ eine witzig-satirische Parabel zukommen, in der die Gerechtigkeit in einem Verlies als zerlumpte Gefangene und unter elenden Bedingungen unablässig Schriftstücke liefern muss. In einem nächtens verfassten Brief wendet sie sich an die Ständevertreter mit der Bitte, sie von ihrem „auf himmelhohen Felsen erbauten baufälligen Schlosse der unerreichbaren Appellationsburg herabzuholen“ und „wieder unter meinen lieben Menschen auf der gesegneten Erde in den Städten, Flecken und Dörfern wohnen zu lassen, so dass jeder mich finden könne, der mich sucht und braucht“.44

Von Ansbach aus wurde Paul Johann Anselm Feuerbach auch mehrfach politisch aktiv. Als Ende 1817 bekannt wurde, dass Bayern mit dem Vatikan ein Konkordat geschlossen hatte, sah er nicht nur die 1803 zugestandene Freiheit der Religionsausübung in Gefahr, er sah auch schon finsterste Zeiten wiederkehren. Ein Brief an Tiedge, den dieser auf Feuerbachs Wunsch zirkulieren ließ und unter anderen dem preußischen Staatskanzler Hardenberg zuspielte, beginnt mit einem wahren Pamphlet: „Am hellen Mittag der Geisterwelt hat die Hölle ihren Rachen geöffnet, und auf einmal sieben volle Jahrhunderte verschlungen, so dass das heutige Jahr nicht mehr 1818 sondern 1073 ist, wo Papst Gregor VII. wieder als Statthalter Christi uns regiert.“ Feuerbach organisierte einen „Adressensturm“ der evangelischen Kirchenstellen und Städte in ganz Bayern und veröffentlichte möglicherweise auch mehrere Artikel im „Neuen Rheinischen Mercur“.45 Einen neuen Adressensturm – zweihundert Unterschriften in fünf Tagen allein in Ansbach – entfesselte er einige Jahre später gegen Bestrebungen, den protestantischen Presbyterien eine Sittenrichterfunktion, oder wie er es nannte, „eine geistliche Seelenherrschaft“ zu übertragen.46

Eine vergleichsweise nebengeordnete, doch bis heute publikumswirksame Beschäftigung war in den letzten Lebensjahren der Fall Kaspar Hauser. Feuerbach hatte sich schon bald nach dem Auftauchen des Findlings intensiv mit ihm beschäftigt, ihn zeitweise auch bei sich wohnen lassen. Eine Weile lang sorgte er persönlich für Erziehung und Lebensunterhalt. In seiner 1832 erschienenen Broschüre Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen zeichnet er von Kaspar das Rousseausche Bild des unverdorbenen jungen Menschen, dessen „stilles Gemüt einem spiegelglatten See in der Ruhe einer Mondscheinnacht“47 gleicht. In einem geheimen, erst 1852 von seinem Sohn Ludwig veröffentlichten Memoire an Königin Karoline, der Witwe des inzwischen gestorbenen Max Joseph, deduzierte er die berühmt gewordene These, Kaspar Hauser müsse der beiseitegeschaffte Sohn des Großherzogs Karl von Baden und dessen Frau Stephanie Beauharnais sein.48

Die Hauptarbeit – neben seinem Amt als Präsident des Appellationsgerichts – waren indessen wieder Bücher, vor allem die großartige Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen. Beiträge zur Rechts- und Menschenkunde. Zur Abfassung der vergleichenden universellen Rechtskunde, für die er sein Leben lang Material gesammelt hatte, kam er nicht mehr.49 Am 11. April 1833 erlag er während eines Aufenthaltes in Frankfurt einem Schlaganfall. Dass bald das Gerücht aufkam, er sei vergiftet worden, ist wohl der Affäre Kaspar Hauser zuzuschreiben.50

Die öffentliche, „politische“ Biographie dieses außerordentlichen Mannes ist in mancherlei Hinsicht kennzeichnend für die ersten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, namentlich in Süddeutschland. Der „große Umbruch“ (Nipperdey) war nicht nur die Folge der gewaltigen „Arrondierung“ der zu Mittelmächten aufgestiegenen neuen Herzogtümer und Klein-Königreiche; er war auch wesentlich das Werk der späten Aufklärung, deren Anhänger in Bayern wie anderswo in Deutschland an den Schalthebeln der Macht saßen und nun in reformerischen Kraftakten ihre Werte und Ziele verwirklichen wollten. Ihre extremste Ausprägung hatte die deutsche Aufklärung im Geheimbund der Illuminaten gefunden, der die menschliche Gesellschaft zu „einem Meisterstück der Vernunft“ gestalten wollte. Bis zu seinem Verbot 1784/85 hatte dieser Bund zwar nur knapp zehn Jahre bestanden, es gehörten ihm jedoch Fürsten und Geistesgrößen aus ganz Deutschland an: Karl August von Weimar ebenso wie Herder, Schiller, Goethe oder Pestalozzi. Die Grundidee war, eine Elite von rein durch die Vernunft geleiteten Mitgliedern heranzubilden und diese durch Unterwanderung der politischen Institutionen die Geschicke der Gesellschaft bestimmen zu lassen.

Mit Montgelas wurde die Utopie für eine Zeit zur Wirklichkeit, dabei erwies sich auch ihre Zwiespältigkeit: Es fehlte dieser aufgeklärten Elite nicht nur jedes Gespür für geschichtlich Gewachsenes – volkstümliche Religiosität, Barockkultur oder, wie in Tirol, uralte politische Institutionen –, sie war auch unfähig, neue gesellschaftliche und politische Impulse aufzunehmen, die „von unten“ kamen, wie insbesondere die nach den Befreiungskriegen erwachende Vaterlandsbegeisterung oder der immer lauter werdende Ruf nach Verfassung und Volksvertretung. Auch wenn in Intellektuellenzirkeln über Rousseaus Gesellschaftsvertrag und Montesquieus Gewaltenteilung debattiert wurde, so fehlte der Aufklärung in Deutschland jene gesellschaftskritische und politische Brisanz, die sie in Frankreich entwickelt hatte, wo sie wesentlich zum Zusammenbruch des Ancien Régime beitrug.

Aufgeklärtheit war in Deutschland sozusagen Privatsache, sie bedeutete persönliche „Vernünftigkeit“, oder, wie Kant es in seinem berühmten Aufsatz formulierte, den „Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“. Kant setzte, wie die meisten deutschen Vertreter der Aufklärung, auf die erzieherische Wirkung und verlangte denn auch von den Herrschenden als Freiheit „bloß die unschädlichste“, „nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen“. Dass die Vernunft sich auch in veränderten gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen niederschlagen sollte, diese Konsequenz zog die deutsche Aufklärung des 18. Jahrhunderts nicht. Sie forderte auch nicht die Freiheit, es zu tun. Paul Johann Anselm Feuerbach nahm sich diese Freiheit zum Teil schon heraus. In seinem Bereich, dem Strafrecht, konnte sein Genie rechtsstaatliche, der Menschenwürde entsprechende Zustände verwirklichen, zumindest für eine Zeit. Mit seinen Forderungen nach konstitutioneller Bindung der Monarchie ging er ein hohes Risiko ein und nahm Sanktionen in Kauf. Er war von den Aufklärern Montgelas und Max I. Joseph geholt worden, durch sein Werk gehörte er aber schon zur ersten Generation der großen Liberalen des 19. Jahrhunderts.

Ludwig Feuerbach

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