Читать книгу Ludwig Feuerbach - Josef Winiger - Страница 13
Die Dynastie der Feuerbäche
ОглавлениеAlle acht Feuerbach-Kinder waren hochbegabt, drei von ihnen – Anselm, Karl und Ludwig – in außerordentlichem Maße. Anselm, der Älteste, war die Künstlernatur schlechthin der Familie: Dichter, Musiker (er spielte so gut Klavier, dass er die Beethoven-Symphonien „donnern lassen“ konnte) und Zeichner, mit August von Platen befreundet. Nach zwei Semestern in Erlangen ging er nach Heidelberg, wo er bei Georg Friedrich Creuzer und dem Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß Philologie studierte und sich mehr oder weniger im Selbststudium mit Archäologie befasste. Nach glänzendem Abschlussexamen wirkte er ein Jahrzehnt lang als Gymnasiallehrer in Speyer. Die Schrift Der Vaticanische Apollo, die mit Lessings Laokoon verglichen wurde, brachte ihm 1836 eine Professur in Freiburg ein. Eine sehr glückliche Ehe, der eine Tochter und ein Sohn (der Maler Anselm Feuerbach) entstammten, fand mit dem Tod der Frau ein frühes Ende. Der sechsunddreißigjährige Witwer heiratete einige Jahre später die Schriftstellerin Henriette Heydenreich (Schwester eines engen Freundes von Ludwig Feuerbach), die ihm mit ihrer Fürsorge für die Kinder und ihrer künstlerischen und intellektuellen Regsamkeit ein Zuhause sicherte, das seinen Neigungen entsprach. Der Maler-Sohn Anselm erinnert sich an die „bildsame Luft“ im Elternhaus: „Es gingen viele bedeutende Menschen in unserm Hause aus und ein; alles Schöne in Natur, Kunst und Leben wurde mit Interesse aufgenommen, und wir Kinder hatten unseren Anteil an dem, was vorging, da wir nie in einer Kinderstube abgesperrt waren. Es wurde auch viel gute Musik im Hause gemacht; Haydn, Mozart, Beethoven waren mir immer in den Ohren.“60
Seine hohe künstlerische Sensibilität hatte jedoch auch ihre selbstzerstörerische Seite: Schon im ersten Studienjahr in Erlangen fiel er unter dem Einfluss eines mystischen Schwärmers in eine schwere Depression. Vater Feuerbach, der sich jetzt mehr um seine Kinder kümmerte als in der Münchner Zeit, nahm ihn zu einem Aufenthalt im illustren Kreis auf Schloss Löbichau mit61 und übergab ihn anschließend für ein Jahr der Obhut seiner Freundin Elisa von der Recke, die ihn auch nach Karlsbad mitnahm, wo Anselm eine Unterhaltung mit Goethe hatte. Nach dem frühen Tod seiner ersten Frau wurde er der veranlagten selbstquälerischen Schwermut nicht mehr Herr, weder die zweite Ehe mit Henriette noch eine spät angetretene Italienreise vermochten ihn daraus zu befreien. Als sein Bruder Ludwig ihn drei Jahre vor dem Tod besuchte, war ein Gespräch mit ihm kaum noch möglich.62
Karl, der Zweitälteste, ein genialer Mathematiker, hat ein kleines Stück Wissenschaftsgeschichte geschrieben: Von ihm stammt die Beschreibung des als „Feuerbach-Kreis“ bekannten Neunpunktekreises. Er schien für Depressionen weniger anfällig zu sein als der hypersensible Anselm. Er war ein eher extrovertierter Typ, der seine Sensibilität hinter Ironie und Verwegenheit verbarg, nach den Worten Ludwigs „ein höchst origineller Mensch, der wilden Tatendrang mit mathematischem Tiefsinn auf seltsame Weise in sich vereinigte“.63 So soll Karl einmal, wie sein Jugendfreund Ignaz Schwörer dem Maler Anselm Feuerbach erzählte, auf einem Spaziergang plötzlich in einen Bach gesprungen sein und mit dem Mühlrad eine Runde gedreht haben; ein andermal habe er auf der Vogeljagd seinem Freund, der ihn wegen eines Fehlschusses neckte, aus kurzer Distanz beide Ladungen einer Doppelflinte durch den linken Rockschoß gejagt.64 Als junger Student in Erlangen, wo er dem Vater zuliebe ein Jura-Studium begonnen hatte, dann aber zur Mathematik wechselte,65 war er mit Anselm zusammen Gründungsmitglied der neuen Burschenschaft „Bubenreuther“. Die beiden scheinen ein flottes Leben geführt zu haben, jedenfalls häuften sie in eineinhalb Jahren eintausend Gulden Schulden auf, obwohl sie den Professoren das Vorlesungsgeld schuldig blieben (der Vater war so erzürnt, dass er sie „unter die Soldaten tun“ wollte – was er mit den beiden Söhnen Nanettes später wirklich tat).66
Karl beendete sein Studium mit Promotion in Freiburg mit der Arbeit über den Neunpunktekreis. In Freiburg engagierte er sich im konspirativen Jünglingsbund, von dem noch die Rede sein wird. Nachdem dieser 1824 verraten worden war, wurde Karl, der inzwischen Gymnasialprofessor in Erlangen war, auf offener Straße verhaftet und mit neunzehn Bundesgenossen in München ohne Anklage inhaftiert. Eine Zeitlang schien er mit Standhaftigkeit und dem ihm eigenen Sarkasmus die Situation ausgehalten zu haben, doch die Isolation (Briefe von und an die Eltern waren nicht erlaubt, nur Anselm durfte ihn gelegentlich besuchen, mit den Mithäftlingen kommunizierte er per Kassiber) und die Angst, Kameraden verraten zu haben, führte zu der Zwangsvorstellung, durch Selbstopferung könne er die Befreiung der Mitgefangenen erwirken. Nach acht Monaten unternahm er zwei Selbstmordversuche. Beide überlebte er, doch nach dem zweiten erwachte er im Wahnsinn. Freund Thiersch nahm ihn in Pflege. Nach der Aufhebung des Haftbefehls im Mai 1825 kehrte er, leidlich wiederhergestellt, doch seelisch ein Wrack, nach Ansbach ins Elternhaus zurück.67 Hier beschäftigte er sich mit weiteren mathematischen Forschungen, und ein Jahr später erhielt er wieder eine Anstellung am Gymnasium in Hof, doch er wurde mehr und mehr zum einzelgängerischen Sonderling und starb mit 34 Jahren.
Eduard, ein Jahr älter als Ludwig, folgte im Gegensatz zu seinen älteren Brüdern nicht seiner Neigung, die den Naturwissenschaften galt, sondern studierte dem Vater zuliebe Jura, erst in Göttingen, dann in Erlangen. Hochbegabt war er offensichtlich auch, denn schon mit 23 Jahren erhielt er als Doktor der Rechte die Lehrerlaubnis. Einige Jahre lang war er Privatdozent an der inzwischen von Landshut nach München verlegten Ludwig-Maximilians-Universität, mit dreißig Jahren war er bereits ordentlicher Professor in Erlangen, bald auch Dekan seiner Fakultät und Prokanzler der Universität. Ludwig mochte ihn sehr, und sicher nicht nur der Hilfsbereitschaft wegen, mit der er ihm Bücher aus der Erlanger Universitätsbibliothek besorgte. Sympathisch war ihm wohl vor allem Eduards Naturliebe. Bewundernd schreibt er über ihn: „Er hatte wirklich alle Anlagen zu einem Naturforscher: einen vorurteilslosen Verstand, scharfen Blick, treffliche Beobachtungsgabe und ein Gedächtnis, dem nichts mehr entfiel, auch nicht das Speziellste von dem, was er einmal gesehen hatte.“
Eduard war häufig zu Besuch in Bruckberg, wo Ludwig von 1836 an wohnte, er verbrachte dort meist seine Ferien und heiratete schließlich die Tochter des Betriebsleiters der Porzellanmanufaktur, an der Ludwig durch seine Frau beteiligt war. Dieser Verwalter war Ludwigs enger Freund und überdies der Schwager seiner Frau, wodurch Eduard endgültig zu Ludwigs eigenem Lebenskreis gehörte. Durch seine zwei Kinder ist er der einzige aus der Feuerbach-Dynastie, von dem heute noch Nachkommen leben. Erst vierzigjährig, starb er ganz unvermittelt in Bruckberg. Ludwig widmete ihm einen schönen Nachruf.68
Von Friedrich (oder „Fritz“, wie er in der Familie genannt wurde), dem jüngsten der Feuerbach-Brüder, wissen wir am wenigsten, obwohl Ludwig, vor allem nach Eduards Tod, zu ihm ein besonders enges und herzliches Verhältnis hatte. Friedrich begann relativ spät ein Theologiestudium, fand dann aber durch Friedrich Rückert, der damals in Erlangen lehrte, in der Orientalistik sein Fach. In Bonn setzte er bei Christian Lassen und August Wilhelm Schlegel sein Studium fort. Anfang der dreißiger Jahre ging er nach Paris, wo er zweimal an der Cholera erkrankte, die ihm noch jahrelang zu schaffen machte. Um 1837 promovierte er, übte aber nie einen Beruf aus, sondern begnügte sich mit der minimalen Rente, die Bayern den Kindern von Staatsräten lebenslang gewährte. Auch er verliebte sich in Bruckberg in eine Tochter des Manufakturverwalters, doch seine Abneigung gegen einen Brotberuf war so stark, dass er lieber allein blieb. Über vierzig Jahre lang „privatisierte“ er in Nürnberg in einem Gartenhaus, bescheiden, zurückgezogen, ja menschenscheu, ganz seinen Sprachstudien hingegeben: Zum Sanskrit waren das Französische, das Italienische und das Spanische hinzugekommen. Er übersetzte auch, bekannt wurde seine Übertragung von Manon Lescaut von Prévost. Nebenbei veröffentlichte er aphoristische Schriften, in denen er nach eigenen Worten „predigte, was sein Bruder Ludwig lehrte“ – was dieser nicht gelten lassen wollte: Friedrich habe durchaus „auf eigenen Beinen“ gestanden.69
Als 1822, nach dem Tod Nanettes, die Familie Feuerbach endlich wieder vereinigt war, müssen die drei Schwestern, die bisher mit der Mutter in Bamberg gelebt hatten, den Brüdern beinahe fremd vorgekommen sein. Helene, die älteste, auch hübscheste, koketteste, vor allem begabteste der drei, war Ludwigs Lieblingsschwester, und Karl scheint geradezu vernarrt in sie gewesen zu sein. Ihre Begabungen und Vorzüge wurden ihr freilich zum Verhängnis. Im Alter zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Jahren, in dem ihre Brüder an der Universität die Grundlagen für ihre Karriere legen und ihr jugendliches Ungestüm im studentischen Treiben ausleben konnten, wurde sie – anscheinend vom Vater – in die Ehe mit einem wesentlich älteren Gerichtsrat von Dobeneck gesteckt, der ihr menschlich und intellektuell nichts zu bieten hatte – ein „Tölpel“, wie der Maler-Neffe Anselm bissig bemerkte. Nach vier Jahren wurde die Ehe zwar einvernehmlich getrennt, und Helene ging erst einmal nach Speyer, um ihrem Bruder Anselm nach dem Tod der ersten Frau den Haushalt zu führen. Doch sie verfiel in eine schwere Depression. Nach leidlicher Genesung führte sie ein unstetes Leben: Erzieherin in Irland, Gesangsausbildung und Gesellschaftsdame in Paris, Reisen durch England, Deutschland, die Schweiz, Italien. Sie dichtete, zeichnete, komponierte, vertonte auch Gedichte von Béranger. Sie entbrannte für Paganini und reiste ihm von Stadt zu Stadt nach, um ihn dann, als er auf ihr Werben eingehen wollte, entsetzt zurückzuweisen und in ekstatische religiöse Schwärmereien zu verfallen. Mit dreißig erlitt sie einen neuen Depressionsschub, der die Einweisung in eine Heilanstalt erforderte. Zum Katholizismus konvertiert, suchte sie die Nähe von Klöstern, war möglicherweise auch eine Zeitlang Nonne. Als ihr Maler-Neffe Anselm sie 1865 in Rom besuchte, lebte sie in einem kleinen Stübchen, dessen Wände von Heiligenbildern und Rosenkränzen über und über behangen waren. Völlig verarmt starb sie, zweiundachtzigjährig, 1891 in Treviso.70
Auch die beiden jüngeren Schwestern, Leonore und Elise, waren hoch musikalisch. Ihre Stimmen, die sie oft bei kleinen Hauskonzerten im Bruckberger Schloss hören ließen, wurden gerühmt. Sonst wissen wir herzlich wenig von den beiden Frauen. Von Elise können wir ahnen, dass sie eine ebenso kluge wie aufmerksame Beobachterin war. In Ludwigs Leben spielte sie mehrfach eine vermittelnde Rolle im Hintergrund, es gibt auch Zeugnisse dafür, dass sie an seinen Begegnungen und Auseinandersetzungen aktiven Anteil nahm. Leonore und Elise blieben zeitlebens unzertrennlich. Sie lebten mit der Mutter zusammen bis zu deren Tod 1852, dann zu zweit als kultivierte Damen in Nürnberg, geschätzt von Brüdern und Neffen, vom Maler Anselm insbesondere, der sie porträtierte und von ihnen als den „heiteren Tanten in Nürnberg“71 sprach.
Die Familie Feuerbach gilt als Paradebeispiel für die Problematik „Genie und Wahnsinn“. Eine Mitte des 20. Jahrhunderts entstandene Studie, deren methodische Grundlagen und pathologische Raster freilich aus der Sicht der heutigen Psychiatrie fragwürdig erscheinen, will bei jedem ihrer Mitglieder mehr oder minder ausgeprägte psychopathische Züge nachweisen.72 Eine Disposition bei drei der acht Feuerbach-Geschwister – Anselm, Karl, Helene – ist offenbar. Doch bei Eduard zum Beispiel wird sie von Ludwig Feuerbach explizit verneint: sein „geistiges Wesen“ sei „kerngesund“ gewesen, „nur äußerlich von Kapricen in Anspruch genommen“.73 Dass er „zu hypochondrischen Stimmungen neigte“, führt seine Schwägerin Julie Stadler auf sein kontaktarmes, freudloses Juristendasein zurück, das der passionierte Naturforscher nur dem Vater zuliebe gewählt hatte. Die Hypochondrie verschwand denn auch mit der Ehe, die sehr glücklich war.74 Auch Friedrichs exzentrische Lebensweise hat Ludwig nicht als krankhaft empfunden, ebenso wenig wie die Unberechenbarkeiten des Vaters. Und er selbst machte nicht einmal eine dieser Depressionen durch, wie sie bei Hochbegabten zu Beginn des Erwachsenenalters sehr häufig sind. Wir dürfen die psychopathologische Optik also, zumindest für Ludwig Feuerbach, getrost vernachlässigen.