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Modernstes Strafrecht
ОглавлениеPaul Johann Anselm Ritter von Feuerbach – er wurde 1808 geadelt – stammte aus einer Frankfurter Juristenfamilie. 1775 geboren, musste er als Siebzehnjähriger regelrecht aus dem Elternhaus fliehen, nachdem er die Mätresse seines Vaters geohrfeigt hatte, der herrschsüchtige Vater hätte ihn sonst nach altem Züchtigungsrecht einkerkern lassen. Der junge Mann ging zu Verwandten nach Jena und schrieb sich dort an der Universität ein, die in diesem Jahrzehnt ihre große Blüte erlebte: Hier lehrten Schiller, Reinhold, Fichte, Schelling, Schlegel. Er begann ein Rechtsstudium, begeisterte sich aber bald bei Kant-Schüler Reinhold für die Philosophie, deren Studium er, noch nicht zwanzigjährig, mit der Promotion abschloss. Sein erstes Buch war zu dieser Zeit schon erschienen, nun folgte ein zweites; beide behandelten rechtsphilosophische Themen.
Allerdings brauchte er jetzt dringend einen Brotberuf: Seine Freundin und spätere Ehefrau, Wilhelmine Tröster, war schwanger. Sie kam aus bescheidenen Verhältnissen, es gab allerdings hochadlige Vorfahren: Der Mann, der als ihr Großvater galt, hatte, um die Stelle eines Verwalters von Schloss Dornburg zu bekommen, in die Ehe mit einem Mädchen eingewilligt, welches von Ernst August I., Herzog von Sachsen-Weimar, ein Kind erwartete – Ludwig Feuerbachs Mutter war demnach eine Cousine zweiten Grades von Großherzog Karl August, dem Freund und Förderer Goethes.7
Der junge Philosophus nahm also das Jura-Studium wieder auf, und er brauchte nur vier Semester bis zur Promotion, die gleichzeitig Lehrerlaubnis war. Von der Brotwissenschaft war die Juristerei freilich zur Leidenschaft geworden, und er hatte inzwischen neben mehreren Aufsätzen und Rezensionen auch noch ein drittes Buch veröffentlicht: Anti-Hobbes oder über die Grenzen der höchsten Gewalt und das Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherrn. Ab dem Sommersemester 1799 las er in Jena als Privatdozent und war dabei so erfolgreich, dass er den bisherigen Strafrechtsdozenten regelrecht ausstach. Er musste sich nicht lange an fremde Kompendien halten, denn in den kommenden beiden Jahren brachte er zwei Werke heraus, durch die er sich „den Rang eines der größten Juristen seiner und aller Zeiten eroberte“ (Gustav Radbruch8): die zweibändige Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts und das Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden peinlichen Rechts; letzteres wurde für ein halbes Jahrhundert zum Standard-Unterrichtswerk und erlebte vierzehn Auflagen.
1801 erhielt Feuerbach eine – unbesoldete – ordentliche Professur, doch jetzt erreichten ihn Rufe von gleich vier Universitäten. Er entschied sich für Kiel, wo er nach all den Jahren des Darbens erstmals eine halbwegs komfortable und gesellschaftlich anerkannte Position genießen konnte. Lange hielt es ihn dort nicht, zumal im Herbst 1803 wieder Rufe von vier oder fünf verschiedenen Seiten kamen, unter anderem aus Bayern für die Universität Landshut. Was ihn dazu bewegte, dieses Angebot anzunehmen, waren nicht nur „das liebliche Klima des südlichen Bayerns, die schöne Gegend von Landshut, die Wohlfeilheit der dortigen Lebensmittel, die große Frequenz dieser Universität“, sondern auch „die hohe Liberalität der Regierung“, und wohl nicht zuletzt die großzügige Besoldung. Er hatte nicht unter 1500 Gulden zusagen wollen, doch schon das Angebot lautete auf 1800 Gulden jährlich, und er konnte es sogar noch um 200 Gulden heraufhandeln. „Ich werde jetzt also ein sehr wohlhabender, nach meiner Ansicht reicher Mann“, schrieb er stolz an den Vater, den er mit seinen Erfolgen wieder versöhnlich stimmen konnte.9
Richtig reich wurde er zwar nie, doch er machte, wie wir heute sagen würden, eine außerordentlich steile Karriere: Nach einem ersten Semester intensiver und immens erfolgreicher Vorlesungstätigkeit erhält er von der Regierung den Auftrag, ein neues Strafgesetzbuch zu schreiben. Er ist zudem häufig als Deputierter der Landshuter Universität in München, dadurch ergeben sich rasch enge Beziehungen zu Regierungskreisen. Es gelingt ihm, mehrere Berufungen von Gesinnungsgenossen nach Landshut durchzusetzen.10 Allerdings bestehen scharfe Rivalitäten im Landshuter Lehrkörper, in dem sich „Illuminaten“ und „Obskuranten“ unversöhnlich gegenüberstehen und die protestantischen „Ausländer“ auf mitunter fanatische Ablehnung stoßen. Bei der Disputation eines Doktoranden wird Paul Johann Anselm Feuerbach in einem abgekarteten Spiel regelrecht verhöhnt.11 Der noch nicht dreißigjährige Dozent ist gegen einen solchen Affront nicht gewappnet, er nimmt Reißaus, schlägt sich – es ist mitten in der französischen Offensive von 1805, die eine österreichische Besetzung Bayerns beendet und zum Bündnis mit Frankreich führt –, zu der nach Würzburg geflohenen Regierung durch, um ihr seine Bestallung zurückzugeben. Dann geht er nach Frankfurt zum Vater. Doch obwohl er sich durch seine unerlaubte Entfernung von seinem Lehrstuhl eines Dienstvergehens schuldig gemacht hat, bietet ihm die Regierung die Leitung der Gesetzgebungs- und Gnadenabteilung im Justizministerium an, zunächst mit dem Titel eines „Geheimen Referendärs“.12
Im Januar 1806, wenige Tage nach der Erhebung Bayerns zum Königreich, zog der Strafrechtler also mit seiner Familie für achteinhalb Jahre nach München „in die Rosengasse nächst dem großen Markt“ (heute Rosenstraße, in unmittelbarer Nähe des Marienplatzes). Söhnchen Ludwig, am 28. Juli 1804 in Landshut geboren und dort, „da kein protestantischer Geistlicher zu haben war, nach katholischem Ritus getauft“13, war zu diesem Zeitpunkt eineinhalb Jahre alt. Paul Johann Anselm Feuerbach stürzte sich in die Arbeit. Er war heilfroh, der Universität entronnen zu sein, wo er schon fürchtete, auszutrocknen durch so viele „geistige Notzüchtigungen, die dem akademischen Lehrer Pflicht sind“.14 Es drängte ihn, praktisch tätig zu werden: „meine Ideen in das Reich der Wirklichkeit einführen“15 (mit frappierend ähnlichen Worten wird sich Ludwig Feuerbach nach den zwei Jahren Studium bei Hegel von seinem Meister verabschieden).
Als Mitglied des Geheimen Rats, des institutionalisierten Beraterkreises um König Max Joseph, befand er sich ab 1808 im Zentrum des innenpolitischen Geschehens.16 Sein Aufgabenbereich waren das Kriminalwesen, insbesondere Begnadigungssachen, und die Strafrechtsgesetzgebung. Er referierte oft und ausgiebig, und seine Vorträge hatten auch sprachliche Qualität, einen von ihnen nahm Hugo von Hoffmansthal sogar als Musterstück deutscher Prosa in sein deutsches Lesebuch auf. Schon im ersten Jahr seiner Tätigkeit bei der Regierung erreichte Feuerbach, dass die praktisch in ganz Europa der Vergangenheit angehörende Folter – „dieses furchtbare und blinde Ungeheuer“ – endlich auch in Bayern abgeschafft wurde. Bei der Bearbeitung der Gnadengesuche, die angesichts der barbarischen Strenge des noch geltenden Kreitmayrschen Strafgesetzbuches sehr häufig waren, hatte er den Eindruck gewonnen, dass die Tortur immer noch „das gewöhnliche gangbare Mittel“ der Geständniserpressung war, und dass die Richter sie aus „Bequemlichkeit“ anwandten, um sich die Mühen einer ordentlichen richterlichen Untersuchung zu ersparen.17 Am Ende des zweiten Jahres hatte er sein Strafrechtsbuch im wesentlichen fertiggestellt. Gleich erhielt er einen neuen Auftrag: Napoleon hatte „gewünscht“, dass auch Bayern den nach ihm benannten Code einführt. Der Strafrechtler sollte ihn an bayerische Gegebenheiten anpassen. Paul Johann Anselm Feuerbach machte sich „mit unerhörter Tatkraft“ (Radbruch) ans Werk, obwohl ihm klar war, dass das Unternehmen scheitern musste, weil das napoleonische Gesetzeswerk gravierende Auswirkungen auf die bestehende Gesellschaftsverfassung haben würde, nämlich die Abschaffung des Privilegienstaats und konstitutionelle Bindung der Monarchie: „Wohin Napoleons Gesetzbuch kommt, da entsteht eine neue Zeit, eine neue Welt, ein neuer Staat.“ Er rechnete dies der Regierung auch vor. Mit seiner Betonung des Grundsätzlichen weckte er zwar den Widerstand des Adels, andererseits erreichte er damit, dass diese Grundsätze in die erste Verfassung, die „Charte“ von 1808 eingingen, an deren Ausarbeitung er beteiligt war.18
Nach wenigen Monaten konnte Paul Johann Anselm Feuerbach seinen Entwurf zur Beratung vorlegen. Doch es gab so viele Widerstände, dass das Vorhaben scheiterte, und Feuerbach selbst bat den König, ihn vom Auftrag zu entbinden. Ersatzweise sollte nun der alte Codex Maximilianeus zum neuen Bürgerlichen Gesetzbuch umgestaltet werden. Zu zwei Dritteln fiel die Arbeit wieder dem Strafrechtler zu, der dafür nicht einmal die vorgesehenen sechs Monate brauchte – wonach auch dieses Unternehmen in kleinlichem Gezänk stecken blieb. Inzwischen durchlief das Strafgesetzbuch die Beratungen, bei denen ihn seine Hauptrivalen beinahe um die Autorschaft geprellt hätten. 1813 schließlich trat es in Kraft. Es wies weit über die Zeit hinaus: „bahnbrechend und vorbildlich“ (Radbruch), so vom Gedanken der Rechtsstaatlichkeit als Garantie der bürgerlichen Freiheit durchdrungen, dass es noch im 20. Jahrhundert den Nationalsozialisten suspekt war.19 Sein Grundsatz „nulla poena sine lege“ – keine Strafe ohne Gesetz – hat einen Standard geschaffen, hinter den es kein Zurück mehr gibt. Das Strafgesetzbuch wird „nicht nur zur Quelle, sondern auch zur Schranke der Strafe“, es verwirklicht „nicht nur den Schutz des Bürgers vor dem Rechtsbrecher, sondern auch den Schutz des Bürgers vor der Staatsgewalt, […] nicht nur den Schutz des Staates vor dem Rechtsbrecher, sondern auch den Schutz des Rechtsbrechers vor dem Staate, kurz den Rechtsstaat im Gebiete des Strafrechts“.20
Das Werk, das Feuerbach europaweit zu Berühmtheit verhalf, wurde zwar in Bayern so zerzaust, dass er selbst es kaum noch als sein Werk gelten lassen wollte, doch jenseits der blauweißen Grenzen hatte es gewaltigen Erfolg: In Oldenburg wurde es ein Jahr später fast unverändert übernommen, und die Strafgesetze fast aller anderen deutschen Staaten, auch einiger Kantone der Schweiz, sind von ihm beeinflusst. Noch 1886 wurde es in Argentinien eingeführt. Außerhalb Deutschlands trat es in Konkurrenz zum napoleonischen Code pénal von 1810.21