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Häresie

Mit der Grundbedeutung ‚Wahl, Auswahl, Präferenz taucht der Begriff der Häresie (griech. airesis, lat. haeresis) in der griechischen und lateinischen Literatur der vorchristlichen Zeit auf. Bereits bei Epikur (†270 v. Chr.) und Polybios (†um 120 v. Chr.) dient er – ohne wertende Konnotation – zur Unterscheidung einer philosophischen Lehre, Schule oder Richtung. Schärfere Konturen gewinnt er dann in den Kontroversen innerhalb des Judentums und der christlichen Urgemeinde des ersten Jahrhunderts, die sich literarisch in den Schriften des Neuen Testaments niederschlagen. An vorchristliche Bedeutungen anknüpfend, verwendet die Apostelgeschichte den Begriff der Häresie zunächst wertneutral für die jüdischen Religionsparteien der Sadduzäer und Pharisäer (Apg. 5,17; 15,5). Wenn dort allerdings das Christentum aus jüdischer Sicht als haeresis angesprochen wird (24,14), unterliegt dem bereits deutlich eine negative Wertung. Ähnlich wertend – wenn auch ohne den Begriff der Häresie auskommend – ist die Semantik bei den Synoptikern in den Streitgesprächen zwischen Jesus und den Pharisäern, in denen sich die Parteien gegenseitig der Irrlehre bezichtigten (zum Beispiel Mt. 23,1ff.; Mk. 14,53–65). Den Schritt von der innerjüdischen zur innerchristlichen Kontroverse vollziehen die Paulus- und Pastoralbriefe, die vom Parteienzwist in den urchristlichen Gemeinden handeln. Für die christliche Theologie der folgenden Jahrhunderte boten vor allem zwei widersprüchliche Briefstellen Anlass zur Ausformulierung des christlichen Häresiebegriffs: Zum einen schrieb Paulus an die Gemeinde von Korinth (1 Kor. 11,19), es müsse Häresien geben (oportet et haereses esse), um die Rechtgläubigen zu prüfen. Zum anderen forderte der nachpaulinische Brief an Titus, für die Einigkeit in der Gemeinde von Korinth zu sorgen und zu diesem Zweck gegen Irrlehrer (haereticum hominem) vorzugehen. Diese seien nach zweimaliger Mahnung aus der Gemeinschaft auszustoßen (Tit. 3,10). Die Bezeichnung ‚Ketzer, mhd. ketzer, ketter, die im deutschen Sprachraum im 13. Jahrhundert üblich wurde, leitete sich von der hochmittelalterlichen Bewegung der Katharer ab.

Der Streit um Rechtgläubigkeit (Orthodoxie) und Andersgläubigkeit (Heterodoxie) berührte fundamental die kirchliche Entwicklung und das kirchliche Selbstverständnis. Bereits während der Verfolgungszeit traten christliche Theologen und regionale Bischofssynoden für die Einheit von Lehre und Kirche ein, indem sie Sonderwege und Abweichungen verurteilten (Irenäus, Tertullian). Doch erst die Verbindung mit der römischen Staatsmacht unter Kaiser Konstantin (306–337) bot der Kirche die institutionellen Voraussetzungen für die Durchsetzung des Einheitsgedankens. Die Theologie des 4. und 5. Jahrhunderts (Hieronymus, Augustinus) lieferte die verbindlichen Auslegungen der Heiligen Schrift und schuf damit den Rahmen, an dem sich die begriffliche und phänomenologische Beschreibung von Häresien zu orientieren hatte. Unter Mitwirkung der christlichen römischen Kaiser formierte sich das allgemeine (ökumenische) Konzil als höchste Entscheidungsinstanz in Glaubensdingen (zuerst 325 in Nizäa). Die anstaltlich organisierte Kirche gab sich zur gleichen Zeit ein am römischen Vorbild orientiertes Recht, in dem der Tatbestand der Ketzerei zu einer juristischen Größe erhoben wurde. Die Kommentare der Kirchenväter, die Ketzerkataloge der frühen Kirche sowie alte Synodal- und Konzilsbeschlüsse galten bis zum Ende des Mittelalters als wesentliche Autoritäten bei der theologischen Deutung und begrifflichen Erfassung von Häresien. Dies hatte zur Folge, dass die Namen und Inhalte spätantiker Häresien gleichsam als Leitmotiv in der kirchlichen Ketzerliteratur des Mittelalters immer wieder auftauchten und – häufig missverständlich – auf neue Erscheinungen bezogen wurden. So erscheinen die hochmittelalterlichen Katharer bei zeitgenössischen Kirchenleuten mehrfach unter den spätantiken Namen der Arianer oder Manichäer.

Rechtlich gesehen, wurde nicht jede Abweichung von der einen, durch die Kirche gelehrten und vom Heiligen Geist inspirierten Glaubenswahrheit als Häresie verfolgt. Nur wer solche Irrtümer trotz Belehrung vor einem kirchlichen Gericht hartnäckig verteidigte, galt als Ketzer (klassisch bei Thomas von Aquin, Summa theol. II–II, q. 11, art. 1). Bereits bei Cyprian (†258) wurde zudem die Aufhebung der kirchlichen Gemeinschaft durch die Gründung einer Sondergruppe (Schisma) der Irrlehre gleichgestellt. Das mittelalterliche Kirchenrecht unterschied einerseits die Urheber und Verkünder einer Irrlehre sowie andererseits die Anhänger, Helfer und Verteidiger derselben (klassisch bei Hostiensis, Summa aurea zu X, 5, 7, 1). Nur die ersteren unterlagen der vollen Strenge der kirchlichen und weltlichen Ketzergesetzgebung. Die Unterscheidung wird auch von der modernen Forschung beibehalten: Hinsichtlich ihres Auftretens, Bildungshorizontes und ihrer Motivation sind die zumeist theologisch bewanderten Begründer einer Irrlehre (Häresiarchen) sowie die in Predigt und Mission tätigen Verkünder derselben deutlich von den zumeist laikalen Anhängern verschiedener sozialer Milieus zu unterscheiden (J. Le Goff). Einzelne Irrlehren – wie die Thesen Abaelards (†1142) – verblieben überdies ausschließlich im intellektuellen theologischen Milieu („hérésie savante“), andere – wie die Lehren der Katharer oder Waldenser – riefen große laikale Bewegungen hervor („hérésie populaire“).

Instrumentalisierung des Ketzerbegriffs

Für die Geschichte christlicher Häresien war der Anspruch der Kirche auf die Wahrheit in Glaubensdingen und ausschließliche Heilsvermittlung wesentlich. Vom Heiligen Geist auf die Pfingstkirche der Apostel und in apostolischer Sukzession auf die Bischöfe übertragen, sah sich allein die allgemeine (katholische) Kirche als Hüterin der einen Glaubenswahrheit. Wer innerhalb der Kirche das höchste Lehramt beanspruchte, unterlag historischen Wandlungen. Für das abendländische Mittelalter ist die Herausbildung des päpstlichen Primates von zentraler Bedeutung. Er mündete im Zeitalter der Kirchenreform in der von Petrus Damiani (†1072) und Papst Gregor VII. (1073–1085) vertretenen Auffassung, der Ungehorsam gegen päpstliche Dekrete sei selbst Ketzerei (O. Hageneder). Wie im Reformationszeitalter wurde der Ketzerbegriff auch zu dieser Zeit für die innerkirchliche Auseinandersetzung instrumentalisiert. Der Vorwurf der Ketzerei erfasste im 11. Jahrhundert mithin Simonisten, Nikolaiten und Papstfeinde. Wie die Ketzerurteile gegen Kaiser Friedrich II. (†1250), die französischen Mitglieder des Templerordens (nach 1307) oder Jeanne d’Arc (†1430) zeigen, geriet der Ketzervorwurf im späteren Mittelalter zunehmend zu einem Mittel des politischen Kampfes. Gegen die Politisierung und Entsachlichung der Häresiedebatte meldeten sich zeitgenössische Kritiker zur Wort. Der englische Franziskaner Wilhelm von Ockham (†1348/49) stellte fest: „Ein Irrtum im Glauben ist nicht deshalb Häresie, weil er von der Kirche verurteilt ist, sondern weil er dem Glauben zuwider ist.“

Ketzerverfolgung

Historische Wandlungen und vielfältige regionale Variationen sind auch bei der Verfolgung und Bestrafung von Ketzern festzustellen. Vorläufer der kirchlichen Ketzerverfolgung sind in der römischen Gesetzgebung der vor- und frühchristlichen Zeit zu sehen: Zwar tolerierte der römische Staat religiösen und kultischen Pluralismus; der dogmatische Zwang war dem antiken Götterglauben fremd. Doch traten die römischen Behörden entschieden für den Schutz der religiös-kultischen Ordnung, insbesondere auch des für das Staatswesen wichtigen Kaiserkultes, ein. So wurden Gotteslästerung (Blasphemie), Tempelraub (Sakrileg) oder Verweigerung öffentlicher Opfer für den Kaiserkult mit schweren Strafen bedroht. Die frühchristlichen Gemeinden, die selbst bis zum Beginn des 4. Jahrhunderts durch den Vorwurf der Opferverweigerung staatlichen Verfolgungen ausgesetzt waren, tendierten bei inneren Glaubensstreitigkeiten zum Gewaltverzicht. Die frühe Theologie plädierte im Sinne von Mt. 13,30: „Lasset beides wachsen bis zur Ernte (i.e. Weizen und Unkraut)“ dafür, die Ketzer dem endzeitlichen Strafgericht Gottes zu überlassen (A. Angenendt). Erst in der nachkonstantinischen Epoche nahm die Kirche zunehmend die staatliche Hilfe bei der Ketzerverfolgung bishin zur Ketzertötung in Anspruch. Inwieweit die christlichen Gemeinden Ketzern mit Toleranz, Duldung oder gewaltsamer Verfolgung begegneten, hing gleichwohl lange Zeit vom Ermessen örtlicher Bischöfe, staatlicher Behörden oder regionaler Synoden ab. Erst im Zeitalter der Kirchenreform verstärkte sich im Abendland die Zentralisierung der kirchlichen Gesetzgebung und Rechtsprechung, die bereits vor der Einführung der päpstlichen Inquisition im 13. Jahrhundert zu einem härteren und vereinheitlichten Vorgehen gegen Ketzer führte.

Vor dem Hintergrund ketzerischer Massenbewegungen schärfte auch die Theologie des 12. und 13. Jahrhunderts ihren Blick für das Häresieproblem. Große Prediger wie der Zisterzienser Bernhard von Clairvaux (†1153) oder der Franziskaner Berthold von Regensburg (†1272) zogen gegen die Ketzer zu Felde. Diese galten als „Abgesandte des Teufels“, „Füchse im Weinberg des Herrn“, „Kinder der Finsternis“, „Krebsgeschwür“ oder als „räudige Schafe inmitten der gläubigen Herde“ (A. Patschovsky). All diese Bilder warnten vor der Gefahr der Verführung und des notwendigen Heilsverlustes, wenn man sich in die Gefolgschaft von Irrlehrern begab. Ihre Verfolgung und Vernichtung ließ sich aus der Sicht der Kirche mithin als pastorales Anliegen begründen. Aus der Sicht vieler Betroffener diente der Ketzervorwurf freilich hauptsächlich dem kirchlichen Machterhalt. Der französische Franziskaner Bernhard Délicieux (†nach 1320) soll bei seiner Vernehmung am königlichen Hof in Paris im Jahre 1303 gesagt haben, heutzutage könnten sich selbst die Apostel Petrus und Paulus nicht vor der päpstlichen Inquisition retten. Da unbestritten viele Ketzeranklagen und -urteile über die Frage des rechten Glaubens hinaus in innerkirchliche Machtstrukturen, Interessen weltlicher Herrscher und die Fehlbarkeiten der von Menschen getragenen Institution Kirche reichten, ist es eine wichtige Aufgabe dieses Buches, die Zuschreibungen von Ketzerei in ihren jeweiligen historischen Kontext zu stellen.

Ketzerei und Inquisition im Mittelalter

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