Читать книгу Der Dreißigjährige Krieg Band 1-3: Der Winterkönig / Der tolle Halberstädter / Der Hexenbrenner - Jörg Olbrich - Страница 16
ОглавлениеBöhmen, 03. Juli 1618
»Was ist hier nur passiert?«, fragte Magdalena mit Tränen in den Augen und deutete auf die abgebrannten Häuser des kleinen Ortes. Alles lag in Trümmern. In den Gassen lagen kaputtgeschlagene Stühle, Töpfe und Werkzeuge. Selbst die Kirche war nicht verschont worden und bildete nun ohne Dach den traurigen Mittelpunkt des Dorfes. Wo aber waren die Bewohner?
»Ich hatte so etwas befürchtet«, sagte Philipp und legte Magdalena tröstend den Arm um die Schultern. »Dieses Ausmaß der Zerstörung habe ich aber nicht erwartet.«
»Du hattest Recht, wir hätten nicht hierherkommen sollen. Meine Heimat existiert nicht mehr. Wer um Gottes Willen tut so etwas? Bisher habe ich geglaubt, dass sich der Krieg noch verhindern lässt. Hier sieht es aber so aus, als wäre er bereits in vollem Gange.«
»Es sind die Söldner auf dem Weg nach Prag. Leider unterscheiden sie nicht zwischen Freund und Feind.«
»Wenn das so ist, sind wir nirgendwo in diesem Reich mehr sicher.«
Philipp antwortete nicht. Er wollte Magdalena nicht das Gefühl geben, dass er es bereute, sie in ihre Heimat begleitet zu haben. Nach dem Abend, an dem sie ihm eröffnet hatte, Prag verlassen zu wollen, war Magdalena noch schweigsamer geworden als vorher. Philipp hatte schließlich vorgeschlagen, zum Gasthaus ihrer Eltern zu reiten und gehofft, dass Magdalena mit ihm nach Prag zurückkam, wenn sie sah, dass sie hier nichts mehr ausrichten konnte. Es tat ihm entsetzlich leid, dass er ihr diesen grauenvollen Anblick nicht hatte ersparen können.
Philipp hatte sich bei Polyxena von Lobkowitz zwei Pferde geliehen und sie gebeten, ihn für ein paar Tage aus dem Dienst zu entlassen. Zunächst war die Gräfin eher skeptisch gewesen, hatte aber schließlich zugestimmt, als Philipp ihr den Grund für seine Bitte erklärt hatte. Er und Magdalena waren am frühen Morgen losgeritten und hatten ihr Ziel gegen Nachmittag erreicht. Ohne Kutsche ließ sich der Weg bedeutend schneller bereisen.
Am Gasthaus von Magdalenas Eltern hatte sich nichts verändert. Zu Philipps Erleichterung hatte man allerdings die Leichen weggeschafft. Sie waren zum Dorf geritten, weil Magdalena herausfinden wollte, wo man die beiden beerdigt hatte. Als sie die ersten Ruinen sahen, waren sie von den Pferden gestiegen und hatten diese an einem Baum festgebunden.
»Es können aber doch nicht alle umgekommen sein«, sagte Magdalena mit trauriger Stimme.
»Stimmt. Irgendjemand muss die Toten bestattet haben.«
Philipp fing sich für diese Bemerkung einen bösen Blick ein und bereute sofort, dass er nicht sensibler reagiert hatte. Er litt mit Magdalena, aber es fiel ihm schwer, seine Gefühle zu zeigen.
»Lass uns durch den Ort gehen, vielleicht finden wir doch noch jemanden, der sich aus Angst davor versteckt hat, dass die Leute zurückkehren könnten, die dieses Unheil zu verantworten haben.«
»Ich hoffe wirklich, dass hier noch jemand ist.«
Die beiden gingen durch die einzige Straße, die mitten durch den kleinen Ort führte. Menschen sahen sie nicht. Zu Philipps erneuter Erleichterung aber auch immer noch keine Toten. Es musste schon eine Weile her sein, dass dieses Dorf verwüstet worden war. Nach der Hitze der letzten Tage hätten die Leichen keinen schönen Anblick geboten.
»Willst du die einzelnen Häuser durchsuchen?«, fragte Philipp Magdalena, als sie den Ort durchquert und noch immer nichts gefunden hatten.
»Es bleibt uns nichts anderes übrig. Wenn hier noch jemand ist, müssen wir ihn finden. Aber wir bleiben zusammen.«
Sie nahmen sich Haus für Haus vor, fanden aber nichts, was ihnen weiterhalf. Räuber mussten das Dorf nach seiner Zerstörung geplündert und alles Brauchbare mitgenommen haben. In den leergeräumten Vorratskammern fanden sie noch nicht einmal mehr ein Stück Brot.
»Jetzt bleibt uns nur noch die Kirche«, sagte Philipp am Ende erschöpft. Magdalena folgte ihm durch den Eingang. Beide sahen entsetzt, dass selbst der Altar von den Räubern geschändet worden war. Der komplette Innenraum der Kirche war zerstört. Dort, wo einmal kostbare Verzierungen gehangen hatten, gab es jetzt nur noch kahle, verrußte Wände.
»Noch einen Schritt weiter und ihr seid tot.«
Philipp erschrak. Die Frauenstimme war aus dem hinteren Teil der Kirche gekommen, der in völliger Dunkelheit lag. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass die Unbekannte ihre Drohung wahrmachen würde. Was auch immer an diesem Ort geschehen war, wenn es Überlebende gab, mussten diese sehr vorsichtig auf Fremde reagieren.
»Ich bin es: Magdalena.«
»Lava?«
»Ja.«
»Ich dachte, du wärst tot.« Eine junge Frau mit langen, verdreckten Haaren und völlig verschmutzter Kleidung trat aus der Dunkelheit und blieb vor Magdalena stehen. »Du bist es tatsächlich«, sagte sie überrascht und senkte ihre Muskete.
»Das ist Karla«, sagte Magdalena, noch während sie auf die Frau zuging und sie in den Arm nahm. »Ich bin so froh, dass du lebst!«
»Wer ist der Kerl bei dir?« Das Misstrauen war deutlich aus Karlas Stimme herauszuhören.
»Sein Name ist Philipp Fabricius. Er hat als Sekretär für die Statthalter in der Prager Burg gearbeitet, bevor es zum Aufstand gekommen ist.«
»Deine Eltern haben davon erzählt, bevor das hier alles passiert ist. Sie sagten, dass du mit ihm nach Wien gereist bist.«
»Das ist richtig. Als wir zurückgekommen sind, lag unser Gasthaus schon in Trümmern. Was in Gottes Namen ist hier geschehen?«, fragte Magdalena um einen ruhigen Tonfall bemüht.
»Es begann im Kloster. Es wurde von einer Horde von fast fünfzig bewaffneten Männern überfallen. Sie kamen in der Morgendämmerung und trieben die Jesuiten aus ihren Betten. Einige der Mönche wurden sofort getötet. Die anderen flohen in Richtung Dorf.«
»Wo sie aber auch nicht in Sicherheit waren«, vermutete Philipp.
»Nein. Das waren sie nicht.« Karlas Stimme klang verbittert. Sie musste eine schreckliche Zeit hinter sich haben, wenn sie seit dem Überfall alleine im Dorf geblieben war.
»Die Horde hat unseren Ort überrannt. Die Männer unterschieden nicht mehr zwischen Bewohnern und Mönchen. Wer ihnen zu nahe kam, wurde gnadenlos erschlagen. Sie hatten Fackeln dabei und brannten alles nieder. Nicht einmal vor unserer Kirche haben sie haltgemacht.«
»Und vor dem Gasthaus meiner Eltern auch nicht«, sagte Magdalena traurig.
»Ich war dort …«, sagte Karla. »Doch leider kam jede Hilfe zu spät.«
»Wo sind die anderen Dorfbewohner?«, fragte Philipp, der sah, wie Magdalena mit den Tränen kämpfte und nicht sprechen konnte.
»Einige wurden ermordet«, antwortete Karla. »Nachdem die Horde verschwunden war, kamen Räuber, die schauen wollten, ob im Ort noch etwas zu holen ist. Es kam zu erbitterten Kämpfen, die viele der Bauern nicht überlebt haben. Die anderen sind weggegangen, nachdem wir die Toten beerdigt haben. Sie suchen in den anderen Orten nach einer Bleibe und Arbeit.«
»Dann bist nur noch du hier?«, Philipp war verwundert darüber, dass die junge Frau trotz der furchtbaren Ereignisse im Dorf geblieben war. Sie hatte großes Glück gehabt, dass sie den Plünderern nicht in die Hände gefallen war.
»Nein. Der Pater ist auch noch hier. Er ist verletzt und liegt im hinteren Teil der Kirche. Ich kümmere mich um ihn.«
»Können wir mit ihm sprechen?«, fragte Philipp.
»Er schläft und wird nur noch selten wach. Sie haben ihm eine Klinge in den Bauch gerammt. Ich habe ihn verbunden und ihm zu essen und zu trinken gegeben. Trotzdem wird er jeden Tag ein bisschen schwächer. Ich fürchte, dass er sterben wird. Ich habe versucht, ihn von hier wegzubringen, aber das konnte ich alleine nicht schaffen. Jetzt ist es zu spät dafür.«
»Wir werden dir helfen!«, sagte Magdalena. Sie schien ihre Fassung zurückerlangt zu haben und machte auf Philipp einen entschlossenen Eindruck.
»Ich sage doch, es ist zu spät«, sagte Karla traurig. »Kommt mit. Wir gehen zu ihm.«
Die junge Frau führte die beiden in den hinteren Teil der Kirche. Ein Nebenraum wurde von zwei Kerzen so weit beleuchtet, dass zumindest Umrisse schemenhaft zu erkennen waren. Der Pater lag in einer Ecke auf einem provisorischen Lager. Er bemerkte nicht, dass Karla nicht alleine zu ihm zurückkehrte, und rührte sich nicht. Als Philipp den leblosen Körper sah, kam ihm ein furchtbarer Verdacht. Langsam schritt er auf den Pater zu und ging neben ihm in die Hocke.
»Er ist tot«, stellte Philipp vorsichtig fest, nachdem er einen Blick in die gebrochenen Augen des Paters geworfen hatte.
Karla stieß einen entsetzten Schrei aus und warf sich neben der Leiche auf den Boden. Philipp wollte ihr gerne helfen, wusste aber nicht, was er tun sollte. Endlich reagierte Magdalena. Sie setzte sich neben die Frau, die weinend auf dem Boden lag, und nahm sie in den Arm. Weil er das Gefühl hatte, die beiden zu stören, entschloss sich Philipp, nach draußen zu gehen und dort auf die jungen Frauen zu warten.
***
Philipp saß vor der Kirche auf der Treppe und hing trüben Gedanken nach. Der Ort war zu einem Geisterdorf geworden. Das Grauen hatte sich wie ein Teppich über die Ruinen gelegt. Der Sekretär schaute fröstelnd zur Kirchentür, als die beiden Frauen schließlich ins Freie traten.
»Wir müssen den Pater begraben«, sagte Magdalena leise.
»Das werden wir tun«, stimmte Philipp zu. Er wollte Magdalena den Arm um die Schulter lege, traute sich aber nicht so recht, sich ihr zu nähern. »Wo finden wir Werkzeug?«, fragte er stattdessen.
»Ich hole einen Spaten«, antwortete Karla und ging mit gesenktem Kopf an der Kirche vorbei zu einem kleinen Haus, dessen Dach ebenfalls vollständig verbrannt war.
Magdalena führte Philipp zum Friedhof. Der Sekretär konnte den Schmerz seiner Begleiterin fast körperlich spüren. Auch ihm selbst tat es unendlich weh zu sehen, was in diesem Ort geschehen war, obwohl er keinen der Menschen gekannt hatte, die hier gelebt hatten. Waren das die Vorboten eines unvermeidlichen Krieges? Mussten die Bauern im Reich nun für den Machtwechsel in Prag bezahlen?
»Wo liegen meine Eltern?«, fragte Magdalena, als Karla mit dem Spaten auf dem Friedhof ankam.
»Die Gräber sind im hinteren Teil.« Die junge Frau ging voran und sie erreichten den Bereich, an dem siebzehn neue Gräber zu sehen waren. Magdalena ging zu den Holzkreuzen, die ihr zeigten, wo ihre Eltern ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Mit gesenktem Kopf blieb sie vor den beiden Hügeln stehen.
Philipp und Karla blieben zurück und ließen Magdalena in Ruhe, während die sich in einem letzten Gebet von Vater und Mutter verabschiedete.
Karla wies Philipp am Ende der Reihe mit den frischen Erdhaufen eine Stelle, an der das neue Grab ausgehoben werden sollte. Er nahm ihr den Spaten ab, ging zu der Stelle und begann zu graben. Schnell spürte er die Schweißtropfen auf der Stirn. Er atmete schwer, wollte sich aber auf keinen Fall von einer der beiden Frauen ablösen lassen. In seinem bisherigen Leben hatte Philipp nur sehr selten körperliche Arbeit leisten müssen und stattdessen viel Zeit an seinem Schreibtisch verbracht. Die ungewohnte Tätigkeit forderte ihren Tribut, lenkte ihn aber wenigstens etwas ab. Gerne hätte sich Philipp seines Hemdes entledigt, wusste aber, dass er das an diesem Ort nicht durfte.
Endlich war das Grab tief genug und Philipp stieg aus dem Loch heraus. Dankbar nahm er Karla einen Becher mit Wasser ab und leerte ihn in einem Zug. Die beiden Frauen ließen ihn einen Moment verschnaufen, bevor alle gemeinsam zurück in die Kirche gingen, um den Leichnam zu holen.
»Hast du eine Decke?«, fragte Philipp, der den Geistlichen nicht einfach so in die Erde legen wollte. Wenn es schon keinen Sarg gab, wollte er den Körper des Toten wenigstens ein bisschen schützen. Er hätte es nicht geschafft, auch nur einen Spaten voll Erde auf die Leiche zu werfen, wenn das verzerrte Gesicht des Paters noch zu sehen gewesen wäre.
Als Karla mit einer Decke zurückkehrte, wickelten sie den Toten mit vereinten Kräften darin ein und trugen ihn auf den Friedhof. Wieder ergriff Philipp den Spaten und übernahm es, das Grab zuzuschaufeln. Als er mit seiner Arbeit fertig war, war er völlig verschwitzt und am Ende seiner Kräfte. Es war bereits spät am Abend, aber immer noch sehr warm.
»Was willst du jetzt machen?«, fragte Magdalena, nachdem sie ein letztes Gebet für den Toten gesprochen hatten, und schaute Karla traurig an.
»Ich werde nicht hierbleiben. Meine Eltern sind weitergezogen. Ich habe versprochen, mit dem Pater nachzukommen, wenn es ihm besser geht. Jetzt ist er tot und es gibt nichts mehr, was ich hier noch ausrichten kann. Ich werde den Ort morgen verlassen. Wenn du willst, kannst du mit mir kommen.«
Philip erschrak. Bisher war er fest davon ausgegangen, dass Magdalena nach dem Besuch in ihrer Heimat mit ihm zurück nach Prag reisen würde. Wenn sie sich jetzt Karla anschloss, konnte es sein, dass er sie doch noch endgültig verlor. Sie kannten sich erst seit wenigen Wochen. Dennoch war Magdalena zum wichtigsten Menschen in seinem Leben geworden. In den ersten beiden Wochen hatte sich der Sekretär in die Wirtstochter verliebt. Und obwohl die vergangenen Tage für beide sehr schwierig gewesen waren und auch, wenn die Stimmung zwischen ihnen sehr getrübt war, hatten sie diese Zeit gemeinsam überstanden.
»Ich werde zurück nach Prag gehen«, sagte Magdalena zu Philipps Erleichterung. »Es gibt nichts mehr, was mich hier hält. Gestern dachte ich noch, dass ich lieber wieder in meiner Heimat leben möchte. Jetzt weiß ich, dass sie nicht mehr vorhanden ist.« Die Gesichtszüge der jungen Frau wirkten wie erstarrt und ihre Stimme schien jegliches Leben verloren zu haben.
»Dann trennen sich unsere Wege wohl endgültig«, sagte Karla. »Ich werde die Nacht noch in der Kirche bleiben und morgen aufbrechen.«
»Wir werden noch einmal zu den Resten des Gasthauses reiten und dort übernachten«, sagte Magdalena und nahm Philipp damit die Entscheidung ab, ob sie den Rückweg noch in der Nacht antreten sollten. »Leb wohl, Karla. Ich hoffe, wir werden uns eines Tages unter glücklicheren Umständen wiedersehen.« Die beiden Frauen umarmten sich und blieben einige Sekunden in dieser Haltung stehen. Beide schienen zu spüren, dass sie sich niemals wiedersehen würden.
Auch Philipp verabschiedete sich und verließ mit Magdalena gemeinsam den Ort. Als sie den Baum erreichten, an dem sie die Pferde festgebunden hatten, waren diese verschwunden.