Читать книгу Der Dreißigjährige Krieg Band 1-3: Der Winterkönig / Der tolle Halberstädter / Der Hexenbrenner - Jörg Olbrich - Страница 8
ОглавлениеPrag, 24. Mai 1618
»Ich kann noch immer nicht fassen, dass Ihr diesen furchtbaren Sturz überlebt habt«, sagte Polyxena von Lobkowitz und sah ihren Gast kopfschüttelnd an.
Trotz des Tumultes am gestrigen Tag war die Gräfin, wie immer wenn sie Besucher im Haus hatte, perfekt zurechtgemacht. Ihre braunen Haare waren streng nach hinten gekämmt und am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden. Sie trug ein mit Blumen besticktes Kleid, dessen Kragen ihre Wangen zur Hälfte bedeckte.
Sie hatte die beiden Statthalter nach dem Anschlag in ihrem Palais aufgenommen und für die Pflege der Verletzten gesorgt. Nun saß sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Diepold von Lobkowitz und Jaroslav Borsita Martinitz im Speisesaal ihres Anwesens. An den Wänden des Raumes zeigten kostbare Porträts die lange Geschichte der Adelsfamilie und den Reichtum der von Lobkowitzes.
»Die allerseligste Jungfrau Maria hat uns mit ihrem Mantel in den Lüften gehalten und zur Erde getragen.« Martinitz hatte seinen geschwollenen Fuß zum Kühlen in einen Wassereimer gestellt. Ansonsten hatte er den Sturz wesentlich besser überstanden als sein Kollege und lediglich ein paar Kratzer im Gesicht und an den Händen.
»Wenn das so ist, muss das böhmische Volk von dieser Rettung erfahren«, erklärte Polyxena bestimmt. »Es ist wichtig, dass die Leute erkennen, dass der katholische Glaube der richtige ist und gottesfürchtige Menschen vor den protestantischen Rebellen geschützt werden.«
»Graf von Thurn und seine Mannen werden sich auch dadurch nicht aufhalten lassen«, gab Diepold von Lobkowitz zu bedenken.
»Kaiser und König werden den protestantischen Ständen diesen Frevel nicht durchgehen lassen«, entgegnete die Gräfin. »Sei du lieber froh, dass du vor tätlichen Angriffen bewahrt wurdest. Wien muss erfahren, was hier geschehen ist. Es müssen sofort Maßnahmen getroffen werden. Nicht auszudenken, was passiert, wenn die Rebellen ihre Macht in der Stadt erst einmal gefestigt haben.«
»Unser Sekretär ist auf dem Weg dorthin«, sagte Martinitz.
»Dann hoffen wir, dass er auch dort ankommt und der Kaiser die richtigen Schritte in die Wege leitet.«
Diepold von Lobkowitz nickte zustimmend. Martinitz wusste, dass er es nicht wagen würde, sich vor anderen Personen offen gegen sein Weib zu stellen. Er selbst akzeptierte den evangelischen Glauben durchaus neben den katholischen Werten. Vermutlich hatte ihn diese Tatsache davor bewahrt, ebenfalls aus dem Fenster geworfen zu werden. Für seine Gemahlin galt diese Einstellung aber genauso wenig wie für Martinitz und Slavata.
»Wie geht es unserem geschätzten Kollegen?«
»Er schläft noch und erholt sich von den Verletzungen«, antwortete die Gräfin. »Ihn hat es deutlich ärger getroffen als Euch.«
»Slavata hat sich an dem steinernen Gesims des untersten Fensters angestoßen und ist im Graben mit dem Kopf auf einen Stein gefallen. Ich bete zu Gott, dass er bald erwacht und eine schnelle Genesung erfährt.«
»Das hoffen wir alle«, sagte Diepold von Lobkowitz.
In der Tat hatte es Slavata von allen drei Opfern am schlimmsten erwischt. Martinitz selbst würde zwar noch ein paar Tage unter den Schmerzen leiden, im Vergleich zu seinem Amtskollegen ging es ihm aber den Umständen entsprechend gut.
»Was gedenkt Ihr nun zu unternehmen?«, fragte die Gräfin und sah Martinitz herausfordernd an. »Im Moment dürfte es zu gefährlich sein, Euch offen in den Straßen Prags blicken zu lassen.«
»Das ist es in der Tat«, gab Martinitz zu. »Wir müssen auf Hilfe aus Wien hoffen. Ansonsten sind wir mit unseren wenigen treu ergebenen Soldaten den protestantischen Ständen hoffnungslos unterlegen. Bis dahin bitte ich Euch, mir und dem Grafen Slavata weiterhin Eure Gastfreundschaft zu gewähren.«
»Die habt Ihr, solange es von Nöten ist«, antwortete Polyxena. »Graf von Thurn wird es nicht wagen, ohne meine Erlaubnis auch nur einen Fuß in mein Haus zu setzen. Hier seid Ihr sicher.«
»Dafür bin ich Euch sehr dankbar. Darüber hinaus werden wir noch eine Möglichkeit finden müssen, zu erfahren, was die protestantischen Stände unternehmen und was in der Burg vor sich geht.«
»Darum werde ich mich kümmern, Martinitz«, sagte Diepold von Lobkowitz. »Im Gegensatz zu Euch kann ich mich frei in der Stadt bewegen. Von Thurn kann unmöglich alle katholischen Adeligen aus dem Weg schaffen, und ich denke auch nicht, dass dies seine Absicht ist. Ferdinand ist der wahre Feind der Protestanten. Nach seiner Wahl zum König von Böhmen hat er klar gegen den evangelischen Glauben Stellung bezogen und den Majestätsbrief in Frage gestellt. Damit hat er die Stände gegen sich aufgebracht und die Rebellion provoziert.«
»Sei trotzdem vorsichtig«, sagte Polyxena. »Niemand kann sagen, wie die Prager Bürger auf den gestrigen Tag reagieren werden. Wenn die Stimmung hochkocht, ist niemand mehr sicher.«
»Mach dir um mich keine Gedanken. Unser Volk ist zu großen Teilen katholisch. Es werden längst nicht alle gutheißen, was in der Prager Burg geschehen ist.«
Martinitz sah Diepold von Lobkowitz nach, als dieser den Raum verließ. Er wusste, dass sich der Mann nicht so leicht in Gefahr begeben würde. Eher redete er Graf von Thurn nach dem Mund, als dass er seinen eigenen Wohlstand riskierte. Martinitz selbst war zur Untätigkeit gezwungen. Für ihn war der einzige sichere Platz das Anwesen der Gräfin von Lobkowitz. Die Tatsache, dass die ihm vermutlich die meiste Zeit über Gesellschaft leisten würde, um etwas Abwechslung in ihr ansonsten tristes Leben zu bekommen, machte es für Martinitz wesentlich leichter, seine derzeitige Lage zu ertragen. Auch wenn die Gräfin die Fünfzig bereits überschritten hatte, sah man ihr dieses Alter keineswegs an. Außerdem war Polyxena klug und ließ sich nicht so leicht etwas vormachen.
***
»Warum habt Ihr selbst nicht den Vorsitz übernommen?«, fragte Graf Wenzel Wilhelm von Ruppau, sah sein Gegenüber stirnrunzelnd an und wischte sich mit der Hand eine der wenigen schon lange ergrauten Haarsträhnen weg, die noch auf seinem Kopf wuchsen.
»Ihr seid für diese Aufgabe besser geeignet als ich«, antwortete Graf Matthias von Thurn. »Wir haben heute die Macht in dieser Stadt übernommen. Wenn wir diese behalten wollen, werden wir nicht umhin kommen, uns gegen einen Angriff der kaiserlichen Armee zu rüsten. Der wird früher oder später kommen.«
»Ihr wollt einen Krieg gegen das Kaiserreich führen?«
»Nicht, wenn es sich vermeiden lässt. König Ferdinand wird die gestrigen Ereignisse nicht ohne weiteres hinnehmen und den Kaiser davon überzeugen, unsere Rebellion niederzuschlagen. Darauf müssen wir uns vorbereiten. Daher sehe ich es als meine Aufgabe an, eine Armee aufzustellen und deren Oberbefehl zu übernehmen.«
»Ich sehe ein, dass dies notwendig ist«, sagte von Ruppau. »Dennoch erhoffe ich mir, zu einer friedlichen Lösung mit dem Kaiser zu gelangen.«
»Solange Ferdinand König von Böhmen ist, wird dies nicht gelingen.«
»Also wollt Ihr ihn absetzen?«
»Zunächst müssen wir Zeit gewinnen. Noch steht ein Großteil des katholischen Adels auf unserer Seite. Wir müssen unsere Macht stärken. Matthias wird nicht mehr ewig leben. Sollte Ferdinand dann zum neuen Kaiser gewählt werden, wird es einen Krieg in Böhmen geben.«
Die beiden Männer saßen allein im Sitzungssaal der Prager Burg, in dem tags zuvor noch die Statthalter ihre Arbeit verrichtet hatten, um die weiteren Schritte zu planen. Von Thurn war fest entschlossen, Ferdinand zuvorzukommen und wenn nötig, sogar mit einem Heer nach Wien zu ziehen. Mit ihrem Aufstand hatten sie eine Rebellion ausgelöst. Wenn sie jetzt kleinbeigaben, würde die Stellung der Protestanten in Böhmen noch schwächer werden, als sie es vorher gewesen war. Das durfte nicht geschehen.
Von Thurn wollte von Ruppau allerdings jetzt nicht zu viel von seinen Plänen mitteilen. Wichtig war es zunächst, Ordnung in die Regierung der Stadt zu bekommen. Alles Weitere würde er dem Vorsitzenden des neuen Direktoriums später erklären. Er hielt von Ruppau für einen intelligenten Mann, der sich darauf verstehen würde, die Geschicke des Landes in die Hand zu nehmen. Von Thurn durfte nicht riskieren, dass er vor der Größe seiner Aufgabe kniff und sich doch noch auf die Seite von König Ferdinand schlug. Dann wäre alles umsonst gewesen.
Im Sitzungssaal der Prager Burg hatten die Aufständischen in einer Versammlung ein Direktorium gewählt, in dem jeweils zehn Vertreter des Adels, der Ritter und der Bürger der Stadt ihren Platz fanden. Zum Vorsitzenden des Gremiums war Graf Wenzel Wilhelm von Ruppau gewählt worden. Damit waren die Statthalter des Königs abgesetzt.
»Ich erwarte regelmäßig Berichte über den Fortgang bei der Erstellung des Heeres«, sagte von Ruppau nach einer Weile.
»Selbstverständlich«, antwortete von Thurn. »Schließlich seid Ihr der Regent dieser Stadt.«
***
»Was ist passiert?«, fragte Philipp Fabricius und schaute verwirrt in das Gesicht einer ihm unbekannten jungen Frau, die über ihn gebeugt stand. »Wo bin ich hier? Wer seid Ihr?«
»Ihr stellt viele Fragen auf einmal«, antwortete die Unbekannte tadelnd. »Ich bin Magdalena Lava. Ihr seid hier in Sicherheit. Mehr braucht Ihr im Moment nicht zu wissen.«
»Wie lange habe ich geschlafen?«
»Einen ganzen Tag. Es ist fast Abend.«
Philipp sah sich in dem Raum, in dem er untergebracht war, um. Neben dem Bett stand eine schlichte Holztruhe, ansonsten war das Zimmer leer, aber sehr sauber. Nur langsam kehrten seine Erinnerungen wieder zurück. Die schrecklichen Szenen, die sich in der Prager Burg abgespielt hatten, nahmen in seinem Geist Gestalt an. Plötzlich fiel ihm alles wieder ein. Der Anschlag auf die Statthalter und ihn selbst, seine Flucht aus der Stadt. Der Kutscher musste ihn in ein Gasthaus gebracht haben. Sicher hatte der Mann Angst gehabt, dass ihm sein Fahrgast unterwegs verstarb und hatte die Reise deshalb unterbrochen.
»Ich muss so schnell wie möglich weiter«, sagte er mit müder Stimme. Erst jetzt merkte er, wie ausgetrocknet sein Mund war. Obwohl er in einem Bett lag und man ihn dick zugedeckt hatte, fror er entsetzlich. Egal wie schwer ihm aber der weitere Weg nach Wien fallen würde, er durfte nicht hierbleiben.
»Ihr müsst zunächst wieder zu Kräften kommen«, entgegnete Magdalena mit entschlossener Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Ich werde Euch nicht aus diesem Zimmer herauslassen. Zumindest heute nicht.«
»Ich habe eine wichtige Nachricht, die so schnell wie möglich in Wien ankommen muss. Wenn mein Auftrag erfüllt ist, kann ich mich immer noch ausruhen.«
»Nein. Ihr werdet mindestens noch eine Nacht in diesem Bett bleiben. Tot werdet Ihr Eure Nachricht nicht übermitteln können.«
Ein Blick in die Augen der jungen Frau reichte Philipp aus, um zu erkennen, wie ernst es ihr mit ihren Worten war. Ihm fiel auf, wie schön Magdalena war. Sie hatte lange braune Haare und ihre ebenfalls braunen Augen schienen unergründlich zu sein. Er schätzte, dass sie etwa so alt war wie er selbst. Höchstens ein Jahr jünger.
Philipp sah Magdalena weiter an. Er spürte, dass er sich sehr leicht in das zarte Gesicht mit dem herzlichen Lächeln verlieben könnte, wusste aber auch, dass dafür nicht der richtige Zeitpunkt war. In Prag hatte er sich nie viel aus den jungen Frauen gemacht. Seine Karriere als Sekretär war immer das einzig Wichtige für ihn gewesen. Jetzt hatte er das Gefühl, einen Engel vor sich zu haben.
Er versuchte sich aufzusetzen, legte sich aber sofort wieder zurück auf das Kissen, als sein Körper an fast allen Stellen zu schmerzen begann.
»Seid Ihr immer noch der Meinung, dass Ihr heute weiterreisen wollt?«, fragte Magdalena und sah ihren Gast mitfühlend an.
»Es geht nicht darum, was ich will. Ich muss so schnell wie möglich nach Wien. Mein Name ist übrigens Philipp Fabricius.«
»Ich weiß. Das hat mir der Kutscher bereits gesagt.«
»Wo ist er?«
»Unten im Schankraum.«
»Könnt Ihr ihm sagen, dass er die Pferde einspannen soll?«
»Nein. Ihr werdet heute nicht mehr abreisen. Es wird bald dunkel und dann ist die Fahrt viel zu gefährlich. Wir leben in unsicheren Zeiten. Sicher wollt Ihr nicht mit irgendwelchen Wegelagerern darüber streiten, ob sie Euch weiterfahren lassen oder nicht. Schon gar nicht in Eurem Zustand. Ich werde Euch jetzt eine Suppe holen. Wenn Ihr nicht mehr im Bett liegt, wenn ich wiederkomme, binde ich Euch daran fest.«
Magdalena wartete Philipps Antwort nicht ab und verließ den Raum. Der Sekretär nutzte die Gelegenheit, seinen Körper näher zu untersuchen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er bis auf ein paar Verbände völlig unbekleidet war. Er konnte nur hoffen, dass es der Kutscher gewesen war, der ihn ausgezogen hatte und nicht Magdalena. Danach fragen würde Philipp allerdings nicht, seine Lage war peinlich genug.
Trotz seiner beginnenden Kopfschmerzen und der immer noch großen Müdigkeit zwang sich Philipp dazu, wach zu bleiben. Ihm war klar, dass er höchstens eine Tagesreise von Prag entfernt war. Er war also noch lange nicht außer Gefahr. Magdalena musste ihm mehr über sich erzählen. Er wollte nicht befürchten müssen, dass sie ihn nach einem falschen Wort an einen protestantischen Adeligen verriet.
Die junge Frau kehrte schneller zurück, als Philipp erwartet hatte. In der Hand hielt sie eine Schale mit einer dampfenden Flüssigkeit.
»Ich habe Euch eine Hühnerbrühe warm gemacht.«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Ihr müsst etwas essen, wenn Ihr wieder zu Kräften kommen wollt.«
»Kann ich bitte zunächst einen Becher Wasser bekommen?«
»Natürlich.«
Philipp setzte sich leicht auf, und Magdalena legte das Kissen so zurecht, dass er sich mit dem Kopf darauf abstützen konnte. Dann hielt sie ihm einen Becher mit Wasser an die Lippen.
»Danke«, sagte Philipp, nachdem er ein paar kleine Schlucke getrunken hatte. »Erzählt mir, wo ich hier bin.«
»Wir sind im Gasthaus meiner Eltern. Es liegt etwas abseits der Handelsroute, wird aber häufig von Reisenden besucht. Im Moment seid Ihr und Euer Kutscher die einzigen Gäste.«
»Warum seid Ihr noch hier?«
»Wie meint Ihr das?«
»Eine so hübsche Frau hat doch sicher zahlreiche Verehrer. Warum seid Ihr bei Euren Eltern geblieben?«
»Weil sie mich brauchen. Außerdem war bisher kein Mann hier, der es wert gewesen wäre, mit ihm fortzugehen. Ich bin katholisch erzogen und werde nicht mit dem erstbesten Kerl mitgehen, der mich umwirbt. Und jetzt wird gegessen.«
Philipp musste innerlich lächeln, als er sah, dass Magdalena leicht errötet war. Dabei hatte er sie mit seinen Fragen nicht kokettieren wollen. Er wusste jetzt aber, dass sie den richtigen Glauben hatte und ihn sicher nicht an die Protestanten verraten würde. Die Wirtstochter nahm einen Löffel mit Suppe und hielt ihn an seinen Mund. Die Brühe war warm, aber nicht zu heiß. Philipp spürte schnell, wie gut es ihm tat, etwas davon zu essen. Als die Schale zur Hälfte leer war, konnte er nicht mehr.
»Ihr müsst jetzt schlafen«, erklärte Magdalena bestimmt. »Ich werde zwischendurch immer wieder nach Euch schauen. Wenn das Fieber morgen verschwunden ist, könnt Ihr Eure Reise fortsetzen.«
***
»Den Kerl muss uns die Heilige Jungfrau Maria persönlich geschickt haben«, sagte Jakub Lava und rieb sich die schwieligen Hände.
»Wie kommst du darauf?«
»Er wird uns unsere Sorgen nehmen, mein Kind.«
Magdalena saß mit ihren Eltern in der Küche beim Essen. Es gab einen Gemüseeintopf mit einem Rest Hühnerfleisch vom Vortag. Die Einrichtung war karg. Die Familie hatte gerade das Nötigste, um sich mit ihrem Gasthof am Leben zu halten. Magdalenas Eltern standen die Sorgen ins Gesicht geschrieben. Die langen arbeitsreichen Jahre hatten sie gezeichnet. Johannas Haare waren ergraut, Jakub hatte schon lange keine mehr. In den letzten Wochen waren nur wenige Besucher gekommen. Überall im Reich war zu spüren, dass sich die Lage zwischen den Protestanten und dem böhmischen König zuspitzte. Die Familie wusste nicht genau, was am gestrigen Tag in Prag vorgefallen war. Der Kutscher, der am späten Abend mit seinem kranken Fahrgast bei ihnen angekommen war, hatte von einer Rebellion in der Stadt gesprochen.
»Die Zeiten sind schwer«, sprach Jakub weiter. Er stand auf, ging zu seiner Tochter und legte ihr die Hände auf die Schulter. »Die Leute sprechen von einem möglichen Krieg. Wir haben keine Ersparnisse mehr und werden das Gasthaus nicht behalten können, wenn niemand mehr zu uns kommt und für Essen und Unterkunft bezahlt. Unser Gast scheint eine wichtige Person zu sein. Sicher hat er genug Geld, um uns für unsere Mühen großzügig zu entlohnen.«
»Er sagt, dass er so schnell wie möglich nach Wien reisen muss«, sagte Magdalena. »Wir können ihn nicht lange gegen seinen Willen in unserem Haus festhalten.«
»Das habe ich auch nicht gesagt. Wenn er wirklich eine wichtige Botschaft für den Kaiser hat, dürfen wir seine Mission nicht in Gefahr bringen. Im Gegenteil: Wir müssen ihm helfen! Je schneller die Rebellion der Protestanten niedergeschlagen wird, umso eher kehrt der Friede in unser Reich zurück. Und damit auch die Besucher in unser Gasthaus.«
Magdalena sah ihren Vater nachdenklich an. Normalerweise sprach er nicht viel. Selten hatte sie ihn so lange reden hören. Dennoch verstand sie nicht, was genau sie tun sollten. Sie schaute zu ihrer Mutter, die ihrem Blick jedoch auswich. In diesem Moment wusste sie, dass ihre Eltern bereits eine Entscheidung getroffen hatten.
»Was soll ich tun?«
»Du fährst mit diesem Fabricius nach Wien und sorgst dafür, dass er unterwegs nicht stirbt.«
»Ihr schickt mich weg?« Magdalena sah ihren Vater entsetzt an. Warum wollte er, dass sie das Gasthaus verließ?
»Nein, mein Kind. Du sollst ja nicht in Wien bleiben. Der Sekretär aus Prag wird dich aber großzügig für diesen Dienst entlohnen. Vielleicht schaffen wir es mit dem Geld, unser Gasthaus zu behalten.«
»Was, wenn Fabricius nicht will, dass ich ihn begleite?«
»Es wird dir schon etwas einfallen, wie du ihn überzeugen kannst. Die Entscheidung ist gefallen. Ihr werdet morgen aufbrechen.«
***
Als Philipp am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich zwar deutlich besser, merkte aber, dass er immer noch Fieber hatte. Die Prellungen, die er sich bei dem Sturz aus dem Fenster zugezogen hatte, schmerzten nach wie vor bei jeder Bewegung. Am meisten machte ihm sein linker Ellenbogen zu schaffen. Noch immer konnte er den Arm kaum bewegen. Als er sich aufsetzte, spürte er leichten Schwindel, kämpfte aber dagegen an. Er musste seine Reise heute fortsetzen. Egal wie schwer ihm das auch fallen mochte.
Durch das Fenster fielen die ersten Sonnenstrahlen, und Philipp konnte sich in dem Zimmer umsehen. Er erschrak, als sein Blick plötzlich auf Magdalena fiel, die neben seinem Bett auf einem Stuhl schlief. Hatte sie etwa die ganze Nacht bei ihm gesessen?
Die Wirtstochter schien zu bemerken, dass Philipp sie beobachtete, und öffnete die Augen.
»Geht es Euch besser?«
»Ein bisschen.« Philipp stellte die Beine auf den Boden und wollte aufstehen, als ihm einfiel, dass er unbekleidet war. Verlegen sah er Magdalena an. »Wo sind meine Sachen?«
»Sie waren völlig verdreckt. Meine Mutter hat sie gewaschen und die Löcher gestopft. Ich kann sie Euch holen.« Magdalena machte keine Anstalten aufzustehen und sah Philipp stattdessen skeptisch an. »Wollt Ihr heute wirklich aufbrechen? In Eurem Zustand werdet Ihr Wien nicht lebend erreichen.«
»Ich habe Euch doch gesagt, dass ich dringend dorthin muss. Ich habe eine sehr wichtige Nachricht für den Kaiser. In Prag gab es einen Aufstand und er muss so schnell wie möglich davon erfahren. Ich kann nicht länger bleiben.«
»Werdet Ihr später nach Prag zurückkehren?«
»Ich habe es vor.«
»Wie lange wird das dauern?«
»Ich weiß es nicht genau. Eine Woche vielleicht. Höchstens zehn Tage.«
»Dann werde ich Euch begleiten.«
»Ihr werdet was?« Philipp sah Magdalena überrascht an. Er hatte damit gerechnet, von ihr weitere Vorträge zu hören, dass er so krank nicht weiterreisen konnte, nicht aber mit diesem Vorschlag.
»Ihr müsst heute weiter. Das verstehe ich. Allein werdet Ihr Euer Ziel aber nicht erreichen.«
»Der Kutscher ist bei mir.«
»Er wird sich nicht um Euch kümmern können. Ihr habt die Wahl. Entweder bleibt Ihr hier, oder ich komme mit.«
»Das wollt Ihr wirklich tun?« Noch immer war Philipp von Magdalenas Vorschlag völlig überrascht. Auch wunderte er sich darüber, wie selbstsicher die junge Frau ihm gegenüber auftrat. Offensichtlich wusste sie genau, was sie wollte.
»Ja. Natürlich mache ich das nicht umsonst. Pro Tag, an dem wir unterwegs sind, zahlt Ihr meinem Vater einen Taler. Die ersten sieben bekommt er im Voraus.«
Ach, daher weht der Wind, dachte Philipp und lächelte Magdalena an. »Wie kommt Ihr darauf, dass ich so viel Geld habe?«
»An Eurer Kleidung kann man erkennen, dass Ihr nicht arm seid. Auch wenn die Sachen in einem erbärmlichen Zustand sind, müssen sie einmal teuer gewesen sein. Wenn Ihr so ohne Weiteres beim Kaiser vorgelassen werdet, bekleidet Ihr sicher ein hohes Amt.«
Dumm ist sie nicht. Philipp musste zugeben, dass ihm der Gedanke, die weitere Reise gemeinsam mit Magdalena anzutreten, durchaus gefiel. »Was wird Euer Vater dazu sagen?«
»Er ist einverstanden. Wir brauchen das Geld.«
»Ihr habt also bereits mit ihm gesprochen.«
»Ja. Ich wusste, dass ich Euch nicht würde überzeugen können, noch eine weitere Nacht hierzubleiben.«
Wieder musste Philipp anerkennen, dass Magdalena sehr genau wusste, was sie wollte. Natürlich ging es ihrer Familie um die Bezahlung. Er konnte sich gut vorstellen, wie schwer es sein musste, mit den Einnahmen aus dem Wirtshaus zu leben. Es kamen sicher weniger Gäste hierher, als Magdalena zugegeben hatte. Den geforderten Preis konnte er bezahlen. Später würde er das Geld von Slavata oder Martinitz zurückverlangen.
»Könnt Ihr mir dann jetzt bitte meine Sachen holen?«
Magdalena musste lachen. Sofort verliebte sich Philipp in den Klang. Er würde alles daran setzen, die junge Frau während der nächsten Tage für sich zu gewinnen. Der Weg nach Wien war weit, und er war fest entschlossen, die Zeit zu nutzen.
Eine Stunde später saßen Philipp und Magdalena in der Küche. Die Wirtsleute hatten dem Sekretär noch ein reichhaltiges Frühstück aufgetischt, von dem er allerdings nicht viel essen konnte. Jakub Lava hatte sich von dem Sekretär die sieben Taler auszahlen lassen und ihn eindringlich gewarnt, gut auf seine Tochter aufzupassen. Philipp hatte dem Mann versichert, dass seiner Tochter nichts geschehen würde. Von Johanna Lava bekamen sie noch ein gut gefülltes Paket mit Reiseproviant. Dann stand der Abfahrt nichts mehr im Wege.