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Mandragora (1975)
ОглавлениеDie Suche nach der magischen Untermauerung menschlichen Seins ist so alt wie die Menschheit selbst. Eine lange Tradition also. Doch wer diesem Drang nachgibt …
Zum wiederholten Mal hatte ich mir das rechte Knie an einem vorstehenden Felsbrocken blutig gestoßen, und mein Anzug war sicherlich auch bereits von oben bis unten voller Dreck. Da kroch ich in einer stockfinsteren Nacht auf allen vieren auf dem Erdboden herum und versuchte, diese verdammte Wurzel zu finden, die ich so dringend brauchte.
Mandragora nennt sie der Lateiner; im Volksmund kennt man sie eher unter dem Namen Alraune, ein geheimnisvolles, sehr seltenes Gewächs, das gewiss in absehbarer Zeit ausgerottet sein wird. Denn wo werden heute noch zum Tode Verurteilte gehenkt? Zwar ist noch nicht überall die Todesstrafe abgeschafft, doch dort, wo sie weiter ausgeführt wird, greift man eher zur Giftspritze oder jagt Stromstöße durch den Körper des Verurteilten; in Militärdiktaturen bevorzugen die Machthaber nach wie vor das Erschießungskommando.
Aber Hängen? Der Galgen mit seiner eindrucksvollen Silhouette gegen den grauen Morgenhimmel ist eine aussterbende Errungenschaft der menschlichen Kultur. Und mit ihr wird die Alraune aussterben; sie hat keine Überlebenschance mehr.
Denn nur an solchen Richtstätten, direkt unter dem Galgen, wächst das rare Kraut. Es heißt, die Alraune benötige kein Wasser und keinen Sonnenschein; lediglich ein wenig Sperma, das dem Gehenkten bei seinen letzten Todeszuckungen aus den Lenden tropft. Wo der Tropfen im Boden versickert, entwickelt sich noch in der gleichen Nacht die Mandragora, jene Pflanzenwurzel in Menschengestalt, die den magischen Künsten so heilig ist und für alle Alchimistenküchen des Mittelalters fast noch wichtiger war als der »Stein der Weisen«.
Es hatte sich als sehr schwierig erwiesen, in Europa einen Richtplatz zu finden, der noch genutzt wurde. Schließlich hatte mich die erfreuliche Nachricht aus dem serbischen Hochland erreicht. Dort nämlich, fernab jeder Zivilisation, hat sich der Brauch erhalten, unliebsames Gesindel nach einigen Tagen Haft ohne weitere Umstände aufzuhängen. Nach Eintreffen der Neuigkeit hatte ich mich sofort auf die Reise begeben und war auch wirklich zur rechten Zeit angelangt.
Nun kroch ich also in dieser Neumondnacht in einer mir unbekannten Gegend auf dem Boden herum und versuchte herauszubekommen, an welcher Stelle genau die Alraune aus dem Urgrund der Mutter Erde hervorschießen würde. Da Gehenkte oftmals noch ein wenig hin und her pendeln, war ein großer Radius abzusuchen.
Vom geduckten Kriechen schmerzte der Rücken, ich richtete mich auf, stieß aber sofort an die leicht schaukelnden Beine des unbekleideten Leichnams. Die alte Eiche, die zu seinem Galgen bestimmt worden war, hatte sehr niedrige Äste, sodass der Gehängte mit den Füßen fast den Erdboden berührte.
Seufzend bückte ich mich wieder, um meine beschwerliche Suche fortzusetzen. Gewisse Rituale sind nun einmal einzuhalten, will man die Zauberwurzel aufspüren; dazu gehört, dass Neumond herrschen muss und dass keinerlei künstliche Lichtquellen benutzt werden dürfen.
Ich wollte das blinde Herumtasten schon fast aufgeben, als ich mit den ausgestreckten Fingerspitzen der linken Hand an ein Büschel Blätter stieß, das mir in der Berührung irgendwie eigenartig vorkam. Vorsichtig tastete ich Blatt für Blatt ab. Richtig: Auf ihnen lagen kleine Erdkrümel. Sie waren darauf haften geblieben, als die Pflanze sich aus der feuchten Erde gebohrt hatte.
Das war sie. Mandragora!
Jetzt bedurfte es nur noch einer geringen Anstrengung, die kostbare Wurzel mit aller gebotenen Sorgfalt auszugraben. Keine der verästelten Nebenwurzeln durfte nennenswert beschädigt werden, wollte ich der Wurzel nicht einen erheblichen Teil ihrer magischen Kräfte rauben.
Der Rückweg in die bescheidene Landgaststätte, in der ich ein einfaches Zimmer bezogen hatte, war für mich eine Strecke des stillen Triumphes. Jetzt konnte ich, endlich, meine Experimente fortsetzen und, wenn alles gut ging, zu einem erfolgreichen Ende bringen.
»Jetzt bist du ein gemachter Mann«, sagte ich zu mir, denn der Fund beschäftigte mich sehr, und ich musste einfach einige Gedanken loswerden. »Du wirst in die Geschichte der Menschheit eingehen als einer der größten und mächtigsten Männer aller Völker und Zeiten. Die heutige Moderne mit all ihrer sogenannten Aufgeklärtheit – was wird sie staunen, wenn ihre Urängste, die lange verdrängten, wiederauferstehen! Denn in jedem Menschen steckt ein magischer Kern. Du kannst es ihnen zeigen, dass die Magie lebt und dass die Angst davor nicht unbegründet ist.«
So sprach ich mit mir, bis ich mit meiner Beute in meinem Zimmer war. Dort wickelte ich die Wurzel vorsichtig aus dem feuchten Tuch, in dem ich sie transportiert hatte, damit sie nicht austrocknete, und legte sie vor mich auf den Tisch. Liebevoll, ja fast zärtlich, säuberte ich sie von den letzten Erdkrumen, die ihr noch anhafteten.
Ich betrachtete sie aufmerksam, drehte und wendete sie nach allen Seiten.
Die Mandragora hatte tatsächlich große Ähnlichkeit mit einem winzigen, ungefähr acht Zentimeter großen Menschlein. Oben trug die Wurzel eine Verdickung, einem Kopf gleich; ich glaubte sogar, Augen und Mund erkennen zu können. Zwei stärkere Nebenwurzeln an den Seiten bildeten die Arme. Unten spaltete sich die Alraune, sodass auch für die Beine gesorgt war.
Total erschöpft, aber glücklich, legte ich mich schließlich aufs Bett und schlief wie ein Toter.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich sehr schwach. Die Anstrengungen der vergangenen Nacht waren wohl etwas zu viel gewesen. Auch schien das Herumkriechen auf dem feuchten Boden meiner Gesundheit nicht gerade zuträglich gewesen zu sein; ich hatte eine heißen, fiebrigen Kopf und einen rauen Hals.
Heute, in der selbstkritischen Rückschau, ist mir klar geworden, dass ich bereits damals unter dem Einfluss der Unheilwurzel stand, aber an jenem Morgen führte ich alles lediglich auf eine Erkältung zurück. Also beschloss ich, einige Tage länger in jenem Gasthof zu bleiben und mich auszukurieren. Ein Entschluss, der sich als verhängnisvoller Irrtum herausstellen sollte.
Die Tage vergingen, und es wollte mir noch immer nicht besser gehen. Mein Zimmer verließ ich praktisch überhaupt nicht mehr, kaum dass ich mich einmal zum Fenster schleppte und aus trüben Augen in die Ferne starrte – ohne etwas zu erkennen. Das Essen und was ich sonst noch benötigte, ließ ich mir jeden Tag von den Wirtleuten oder vom Hausknecht heraufbringen.
Schließlich muss mein Verhalten den guten Leuten, die sich im Laufe der Zeit offensichtlich Sorgen zu machen begannen, seltsam vorgekommen sein, denn eines Tages wartete man gar nicht mehr ab, bis ich die Tür geöffnet hatte. Als ich heraustrat, stand das Bestellte bereits vor mir auf der Fußmatte.
Aber auch das war mir inzwischen gleichgültig geworden. Ich versank immer mehr in einer die Glieder und das Denkvermögen beschwerenden Lethargie. Mein Sorgen und Hoffen galt einzig und allein der Mandragora, die ich täglich über Stunden hinweg betrachtete. Bis – ja, bis ich eines Morgens schweißgebadet erwachte.
Ein mehrfach wiederkehrender Albtraum hatte mich gequält, in dem die Alraunwurzel zum Leben erwacht war. In einer dieser Sequenzen hatte sie sich vor mir aufgebaut und gesagt:
»Du bist mein Meister, denn du hast mich aus dem Gefängnis der Erde befreit. Ich will getreulich meine Aufgabe erfüllen, die mir gestellt ist.« Und später, als ich immer wieder ungläubig und nicht verstehend den Kopf geschüttelt hatte, war sie in ihrer Rede fortgefahren.
»Es ist schon lange in Vergessenheit geraten, dass wir Wurzelwesen den Geist dessen übernehmen, aus dessen Todesschweiß wir entstanden sind. Der Gehenkte an der Eiche, unter der du mich nächtens ausgegraben hast, war ein Mörder. Und eben das wird meine Aufgabe sein: Ich muss dich töten, so wie jener getötet hat. Denn du bist zwar mein Meister, weil du mich der Erde entrissen hast, doch Macht über mich besitzt du nicht.« Und damit war die Wurzel an mir hochgesprungen und hatte versucht, mir in den Hals zu beißen.
Ich war aus dem Traum hochgeschreckt und hatte nach dem Licht getastet. Unter dem hellen Kegel der Lampe konnte ich mich sicher fühlen. Was für ein Unsinn auch, dieser Traum! Die Mandragora lag auf dem Tisch, wo sie hinge …
Halt doch! Wo war sie? Ich sprang aus dem Bett, die Wurzel war verschwunden. Nur das leere Tuch, in das ich sie immer gewickelt hatte, war noch vorhanden. Ein stechender Schmerz am Hals ließ mich zusammenzucken. Es war ein Schmerz, der vom Hals ausgehend bis in mein Herz stach und mich in Todesangst versetzte.
Ich fasste an den Hals – und griff auf Holz. Die Alraunwurzel! Mit einer wilden Bewegung wischte ich sie von der Haut. Und starrte entsetzt auf meine Hand, die voll Blut war. Voll von meinem Blut!
Das war kein Traum, das war die Wirklichkeit! Die schreckliche Wurzel war zum Leben erwacht und wollte mich töten. Auf meiner Stirn stand kalter Schweiß, der Mund war trocken. Ich spürte Ratlosigkeit, ja Verzweiflung.
Ich blickte an mir hinunter. Mein Pyjama war über und über blutbefleckt. Dann erstarrte ich, denn die Alraune versuchte es aufs Neue. Diesmal nagte sie an meinem freien, unbedeckten Knöchel. Ich schlug nach ihr, doch sie wich aus und sprang zur Seite. Nur um mich sogleich aus einer anderen Richtung wieder anzufallen.
Das ging die ganze lange Nacht hindurch so weiter. Kaum war es mir gelungen, die mörderische Wurzel abzuwehren, da musste ich schon wieder auf der Hut sein, wo sie es wohl diesmal versuchen würde.
Inzwischen bin ich am ganzen Körper von Bissen und blutenden Rissen übersät. Ich merke, wie ich zunehmend schwächer werde. Die Wunden schmerzen und das austretende Blut gerinnt nur noch sehr langsam. Von Zeit zu Zeit überkommt mich Resignation, aus der ich durch den nächsten Biss wieder aufgeschreckt werde.
Ich habe mehrfach versucht wegzulaufen, doch die Alraune ist gewandter und schneller als ich. Der Blutverlust macht mir zu schaffen. Ich habe mich zur Tür geschleppt und versuche sie zu öffnen. Aber die Wurzel sitzt auf dem Riegel und belauert mich; ich kann die Sperre nicht zurückschieben, ohne mich der Gefahr auszusetzen, dass meine Adern am Handgelenk aufgerissen werden. Ich habe Angst, nicht vor dem Tod, der unausweichlich scheint, sondern vor diesem Wurzelwesen.
Jetzt sitze ich am Tisch und schreibe mein Erlebnis auf, zur Warnung für alle, die nach Ähnlichem streben. Jeder soll wissen, wie gefährlich es ist, nach der magischen Basis des Seins zu forschen. Und welches unvermeidbare Risiko jeder eingeht, der sich im Eigeninteresse der Unnatur bedienen will.
Der Geist, den ich gerufen habe, lässt mich nicht mehr los. An meiner Brust hängt die Mandragora und beißt und zerrt an mir. Und ich habe nicht mehr die Kraft, sie abzuwehren. Bald wird sie sich bis zu meinem Herzen durchgefressen haben.
Dann werde ich endlich erlöst sein.