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Tagebuch Sebastian Kleine, Donnerstag, 14. April 1898

Am Tag danach wusste ich nicht, ob ich das alles nur in meinem vom Alkohol verwirrten Kopf geträumt hatte: die versuchte Vergewaltigung, mein schlagkräftiges Eingreifen und die zaghafte Annäherung zwischen Anna und mir.

Erst als Olga Tietjen, die Frau des Kapitäns, mir beim Frühstück in der Offiziersmesse für die Tapferkeit dankte, mit der ich Missionsschwester Anna geholfen und ihr möglicherweise das Leben gerettet hätte, ordneten sich meine Gedankensplitter zu einem Bild des Geschehens. Kapitän Tietjen berichtete Theobald und mir, seine Leute hätten die beiden Kerle vor ein paar Stunden geschnappt und in das Schiffsgefängnis neben dem Laderaum gesperrt, das für solch ein Gesindel vorgesehen ist.

»Da unten sind sie in der richtigen Gesellschaft, da gibt es eine Menge Ratten«, hat der Kapitän gesagt.

Schwester Anna stehe nach dem furchtbaren Erlebnis noch unter Schock, erklärte die Frau des Kapitäns auf meine Nachfrage. Sie wage sich noch nicht wieder aus ihrer Kabine. Sie bete viel. Sie lasse mich grüßen und mir danken.

Also versuchte ich, meine Gedanken abzulenken. Zusammen mit Theobald habe ich unser Schiff näher erkundet und jeden Einzelnen der 24 Mann Besatzung kennengelernt, vom Kapitän bis zu dem erst 16 Jahre alten Smutje Gustav, einem Küchenjungen aus Altona, der trotz seiner Jugend bereits seine dritte große Reise um die halbe Welt unternimmt. Theobald Kolber brachte mir die Kunst des Schachspiels bei, dessen Regeln ich aus der Schulzeit nur mühsam beherrsche. So verbrachten wir jeden Tag einige Stunden an dem karierten Brett.

Schon begann ich zu denken, Anna sei überhaupt nur eine Einbildung gewesen, eine Fata Morgana auf hoher See sozusagen, als ich die hübsche Schwester Gottes ganz unerwartet wieder zu Gesicht bekam.

Es war am neunten Abend nach jenem nächtlichen Ereignis, wir müssen uns in Höhe von Swakopmund befunden haben, der Hafenstadt an der kalten und rauen Küste im Norden unserer Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Ich glaubte, allein auf dem Achterdeck zu sein, und genoss einen jener unwirklich schönen Sonnenuntergänge, wie es sie wohl nur bei klarer Sicht auf den Weltmeeren gibt. Über mir sirrten die geblähten Segel gleichmäßig wie eine Nähmaschine im Wind, unser Schiffsbug durchschnitt rauschend das Wasser, aus dem ab und zu große Fische sprangen. Sogar Robben und Pinguine tauchten aus der eiskalten Meeresströmung auf. Ein paar Matrosen sangen an diesem Abend bei der Arbeit das vertraute Lied vom Hamburger Veermaster. Und zum Greifen nahe sank der gewaltige Sonnenball in die stahlblaue See. Plötzlich erschienen wie aus einer anderen Welt große Schatten über den Mastspitzen unseres Schiffes – Albatrosse, die größten Vögel der Meere, die nur auf der südlichen Halbkugel anzutreffen sind und die mit ihren gewaltigen Schwingen von mehr als drei Metern Breite oft monatelang ununterbrochen in der Luft und auf dem Wasser leben. Für jeden Seemann aus dem Norden, so hörte ich später, sei es immer wieder ein magischer Moment, wenn nach langer Reise die ersten Albatrosse am Himmel erscheinen.

Während ich also bequem und ein wenig versteckt in einem der Rettungsboote saß und erschaudernd diese betörenden Eindrücke aufnahm, erschien unser zweiter Offizier Hinnerk Onken, ein dicker, fröhlicher Ostfriese, an Deck. Zu meinem Erstaunen kniete er am Großmast nieder, faltete die Hände und blickte zu den Albatrossen empor. Dabei sprach er offenbar ein Gebet, doch wurden seine Worte vom Winde verweht, so dass ich nichts verstehen konnte. Die zweite, für mich noch größere Überraschung war, dass noch ein anderer Mensch den betenden Seemann beobachtete. Dieser Mensch war schmal und blass, trug ein blaues Kleid und saß nur ein paar Meter von mir entfernt hinter etlichen Kisten und Bergen von dickem Tauwerk. Als sich unsere Blicke trafen, lächelte Anna mir schüchtern zu. Und als ich ihr zuwinkte und etwas sagen wollte, legte sie ihre Finger auf den Mund, zum Zeichen, dass wir den andächtig betenden Seemann nicht stören sollten. Wir versuchten beide vergeblich seine Worte mitzuhören. Später bat ich Hinnerk Onken sein Gebet zu wiederholen. Es hat viele Strophen, die erste geht so:

»Ich bin der Albatros, der am Ende der Welt auf dich wartet.

Ich bin die vergessene Seele der toten Seeleute ...

Aber sie sind nicht gestorben im Toben der Wellen.

Denn heute fliegen sie auf meinen Flügeln in die Ewigkeit ...«

Dieses Gebet spreche er bei jeder Reise in dieser Gegend – denn hier habe er eines Nachts vor acht Jahren seinen besten Freund, Lüder aus Bremen, verloren. Der hatte bei aufbrisendem Sturm seine Nachtwache angetreten. Danach habe man ihn nie wieder gesehen. Wahrscheinlich hat ihn während der Sturmnacht ein Kavenzmann, wie die Seeleute die riesigen Wellen nennen, über Bord gerissen. Und sosehr man auch bei nachlassendem Sturm die noch immer aufgewühlte See absuchte – es war natürlich hoffnungslos. Lüder tauchte nie wieder auf. Stattdessen seien die ersten Riesenvögel am Himmel erschienen, die Albtrosse, die »vergessenen Seelen der Seeleute«.

Anna war von dieser Geschichte zu Tränen gerührt. Sie sagte, sie werde den toten Seemann und den lebenden Hinnerk in ihr Abendgebet einschließen.

Nach diesem zweiten denkwürdigen Zusammentreffen sahen Anna und ich uns häufiger. Meist waren Theobald oder die Kapitänsfrau Olga Tietjen dabei. Wir vermieden es alle, über das Geschehen in der Nacht nach der Äquatortaufe zu reden. Dennoch spürte ich Annas Dankbarkeit und glaubte Zeichen der Zuneigung in kleinen Gesten und Blicken zu empfangen. Bei mir verstärkte sich ein Gefühl, das ich schwer bestimmen kann. Wahrscheinlich ist es mehr als Freundschaft, vielleicht eine Vorstufe des Verliebtseins. Besonders bei den romantischen Sonnenuntergängen auf hoher See ertappte ich mich dabei, dass ich sie am liebsten an mich gezogen und geküsst hätte. Und mehr als das. Allerdings verbiete ich mir selber derartige Gelüste, denn schließlich ist sie eine Missionsschwester und daher irgendwie unberührbar. Und dennoch geschah es, dass sich unsere Gefühle und unsere Körper so nahe kamen, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte.

Bei blankem, blauem Himmel und gutem Wind hatten wir das bei den Seeleuten sonst so gefürchtete Kap der Guten Hoffung umsegelt. Doch ein paar Tage danach fiel das Barometer dramatisch. Der Wind drehte auf Ostnordost. Unaufhaltsam lief unsere Emily Godeffroy in eine schwarze Wetterfront hinein, die sich vor uns über den ganzen Horizont ausbreitete. Zwei Stunden vor der Zeit brach an diesem Abend schlagartig eine von Blitzen durchzuckte Finsternis herein. Der Sturm pfiff und heulte um die Masten und Rahen und wimmerte schrecklich in den Wanten. Sturzbäche ergossen sich in immer kürzeren Abständen über die Reling. Mal hob sich der Bug, mal das Heck steil aus dem tobenden, schäumenden Wasser. An Deck hatten sich die Seeleute angeschnallt, damit sie nicht über Bord gefegt werden konnten.

Ich fand in meiner Kajüte keinen Halt mehr. Wie ein Kautschukball wurde ich zwischen den Wänden, zwischen Boden und Decke hin und her geworfen. Von Panik erfasst, stemmte ich die Tür auf und hangelte mich an Deck. Im selben Moment krachte ein gewaltiger Brecher auf die Mitte des Schiffs. Ein zweiter Kavenzmann folgte, ein dritter und ein vierter. Trillerpfeifen ertönten. Kommandos waren in dem Höllenlärm nicht zu verstehen. Schwere Holzteile trieben an Deck herum und zerfetzten die Persenning, die über die Luken gespannt war. Eines der Rettungsboote riss sich vor meinen Augen aus seinen Befestigungen los, rutschte und raste über das Deck, schlug die Brücke in Stücke und zertrümmerte das Ruderhaus, in dem eben noch zwei Seeleute in ihrem schwarz glänzenden Ölzeug gestanden hatten. Nirgendwo fanden meine Hände einen Halt. Trümmerteile trafen meinen Körper. Dann spürte ich einen Schlag an meinem Kopf. Mein letzter Eindruck war, dass ich über Bord in die tosende See geschleudert wurde.

Drei endlose Stunden lang, so habe ich später erfahren, brodelte die Hölle. Dann war die größte Gewalt des Sturms vorüber. Das Heulen ließ nach. Das Schiff kehrte in eine stabile Lage zurück. Besatzungsmitglieder und die männlichen Auswanderer arbeiteten bis zur Erschöpfung an den Lenzpumpen. Entgegen allen Befürchtungen war der Bootskörper unbeschadet geblieben.

Als ich wieder zu mir kam, hörte ich die asthmatischen Schreie des Esels, der in meiner Kindheit auf unserem Hof an der Unterelbe mit den Pferden zusammengelebt hatte. Es war allerdings das Quietschen der Pumpen.

Es dauerte eine Weile, bis ich meine Lage begriff. Ich hing bereits halb über Bord in einem der Sicherheits-Fangnetze, das die Seeleute »Leichennetz« nennen, weil es verhindern soll, dass Menschen im Sturm über Bord gespült werden. So ein Netz hatte mich gerettet. Nun zappelte ich hilflos darin herum wie ein gefangener Fisch. An meiner Stirn klaffte eine Wunde. Blut drang in meine Augen, so dass ich alles durch einen roten, schlierigen Vorhang sah. Meine Lippen waren aufgeplatzt. Mein Brustkorb schmerzte höllisch, vermutlich waren ein paar Rippen gebrochen. Jedenfalls hörte ich mich um Hilfe rufen, denn selber konnte ich mich nicht aus dem gerissenen und mehrfach um mich geschlungenen Netz befreien. Niemand hörte mich. Niemand bemerkte mich. Alle Mann waren damit beschäftigt, Wasser zu pumpen und die Schäden des Sturms zunächst provisorisch zu reparieren.

Das Nächste, was ich durch den blutroten Vorhang vor meinen Augen ausmachen konnte, war eine Hand, die ein Messer hielt. Ich glaubte, man wolle mich umbringen. Ich schrie noch lauter um Hilfe als zuvor. Doch jemand durchschnitt das Netz mit dem Messer. Zunächst konnte ich meinen Kopf befreien und dann mühsam herauskriechen. Beinahe wäre ich dabei doch noch über Bord gegangen, doch zwei Hände zogen mich zurück, so dass ich wie ein nasser Sack auf das glitschige Schiffsdeck plumpste. Jetzt erkannte ich undeutlich, dass mich ein leibhaftiger Engel gerettet hatte – ein Engel in der Gestalt von Missionsschwester Anna Scharnhorst. Der Engel lächelte und sprach zu mir: »Offenbar hält der liebe Gott seine Hand schützend über uns, erst haben Sie mich gerettet und nun bin ich Ihnen zu Hilfe gekommen. Es scheint, unser Schicksal ist miteinander verknüpft.«

Diese Worte haben sich mir eingeprägt.

Der letzte Tanz im Paradies

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