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Hamburg, Mittwoch, 18. Januar 1899

An diesem Abend, an dem man den Kopf des jungen Naturforschers Sebastian Kleine unter äußerst merkwürdigen Umständen gefunden hat, sitzt der große Johan Cesar Godeffroy noch spät in seinem halbdunklen Kontor am Hamburger Hafen und ärgert sich sehr.

»Eine Nacktschnecke! Ausgerechnet eine schleimige Nacktschnecke ...«, sagt er, und dabei kippt seine sonst so sonore Stimme in eine schrille Tonlage um. Hätte man nicht ein ansehnlicheres Tier aus Ozeanien nach ihm benennen können? Einen hintersinnigen Humor habe der junge Mann ja schon immer gehabt, aber das hier gehe denn doch zu weit. Er werde sich jedenfalls nicht zum Gespött an der Börse machen lassen. Schon gar nicht von seinen eigenen Leuten!

Im matten Schein einer Petroleumlampe streicht Godeffroy mit groben Bewegungen auf einem Fahnenabzug für die neue Ausgabe des Journals des Museums Godeffroy herum, bis sein Farbstift einen von roten Blitzeinschlägen zerstörten Artikel hinterlassen hat. Zufrieden blinzelt er schließlich über seine Lesebrille zu seiner Frau hinüber.

Emily Godeffroy hat ihren Mann vom Besuchersessel auf der anderen Seite des schweren Mahagonischreibtisches aus eher uninteressiert beobachtet. Sie zupft an ihrem fein gestreiften Taftkleid, das bei jeder Bewegung raschelt. Eine Perlenkette glänzt im tiefen Ausschnitt. Ihre graublonden Haare sind kunstvoll hochgesteckt. Emily Godeffroy hat sich schon für das Abendessen bei Bankier Wolfram von Berendonk zurechtgemacht.

Dreimal schlägt Godeffroy auf seine Schreibtischklingel.

»Holen Sie mir Museumskustos Doktor Schmalz!«, ruft er dem Kontordiener zu, der über den spiegelglatten Marmorfußboden herbeischlittert und dabei vergeblich versucht, die Silberknöpfe seiner blauen Livree zu schließen. Der Herr Kustos, so beeilt sich der Diener zu sagen, werde sich mit seinen Gehilfen wohl noch im Museumsspeicher auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufhalten. Dort sei am Nachmittag eine große Anzahl von Kisten und Säcken aus Ozeanien eingetroffen, wie er gehört habe.

»Schön, schön, dann holen Sie also den fleißigen Doktor Schmalz!«

Godeffroy wendet sich seiner Frau zu. »Eine schleimige Nacktschneckenart aus dem Urwald von Neuguinea hat unser allseits beliebter Jungforscher Sebastian Kleine also nach mir benannt. Was Besseres hat er wohl nicht gefunden? Oder er will mich auf den Arm nehmen!« Im Übrigen sei Kustos Schmalz ja wohl als Herausgeber des Museumsjournals überfordert, sonst würde er einen derartigen Unsinn nicht in Druck geben.

Emily Godeffroy tritt dicht hinter ihren Mann und drückt ihren weichen Busen gegen seine knochige Schulter.

Ihm fällt auf, dass ihre Haut nach Kölnisch Wasser riecht. Er mag diesen süßsäuerlichen Duft nicht. Wie oft soll er ihr das noch sagen? Seine Frau beugt sich weit vor, um den vom Rotstift entstellten Artikel entziffern zu können. Offenbar handelt er von neu entdeckten exotischen Pflanzen und Tieren, die von den Südseeforschern des Museums Godeffroy nach ihrem Auftraggeber und Mäzen benannt worden sind.

»Die Forscher und Wissenschaftler wollen dir mit solchen Namensgebungen doch eine Freude machen – im Lexikon und in den biologischen Lehrbüchern, überall wird dein Name stehen.«

»Ich will doch sehr hoffen, dass derartige Kriechtiere nicht der Grund sind, wenn ich eines Tages im Lexikon genannt werde.«

»Wie heißt denn diese neue Schneckenart eigentlich? Ich kann den Namen nicht mehr lesen, weil du so viel gestrichen hast.«

Zur Übung murmelt Johan Cesar Godeffroy zwei lateinische Worte ein paarmal tonlos vor sich hin, dann sagt er, jede Silbe betonend:

»Chromodoris Godeffroyana.«

»Das ist aber ein sehr schöner Name für eine Nacktschnecke«, erwidert Emily Godeffroy, »Schnecken sind ausgesprochen fleißige und nützliche Tiere. Solche Eigenschaften passen doch zu dir.« Der junge Herr Kleine habe das sicher nicht bösartig gemeint.

»Das ist doch ein besonders netter und amüsanter junger Mann. Bei unserem Neujahrsempfang in Blankenese sind die Damen jedenfalls ganz hingerissen gewesen von seinem Charme und von der Begeisterung, mit der er von seinen Plänen berichtet hat.«

»Ja, ja, ein Liebling der Damen ist unser Sebastian Kleine ja bekanntermaßen, ein Frauenheld, ein Herzensbrecher.« Godeffroy putzt sich umständlich die Nase.

»Wo hält sich der Herr Kleine denn zurzeit eigentlich auf?«, fragt seine Frau.

»Irgendwo im Urwald von Neupommern, im Bismarckarchipel, in Deutsch-Neuguinea also. Nach den letzten Nachrichten, die wir von ihm haben, ist er von einer Missionsstation aus in das noch unerforschte Landesinnere aufgebrochen.« Dort solle Kleine auch versuchen, für den verehrten Professor Virchow und dessen anthropologische Forschungen Totenschädel eines tropischen Steinzeitstammes zu beschaffen, der erst unlängst entdeckt worden sei.

»Ich hoffe jedenfalls sehr«, sagt Godeffroy, »dass wir bald einen Expeditionsbericht für unser Museumsjournal bekommen. Solche Abenteuergeschichten interessieren die Leute ja ganz außerordentlich.«

Mut habe er und intelligent sei er auch, der Herr Sebastian Kleine, deshalb habe er ihm und seinem Generalbevollmächtigten Theobald Kolber einen für die Firma ungemein bedeutsamen und nicht ungefährlichen Auftrag anvertraut.

»Was für einen Auftrag?« Fragend sieht Emily Godeffroy ihren Mann an. Doch der weicht ihrem Blick aus. Godeffroy blickt angestrengt aus dem großen Sprossenfenster, hinter dem jetzt eine Gaslaterne aufflammt und ihr Licht von der Straße in den Kontorraum wirft. Der Schein fällt auf ein paar Dutzend Ölgemälde, die Rahmen an Rahmen die Wände füllen und allesamt stolze Windjammer auf den Meeren der Welt abbilden: Drei- und Viermaster mit geblähten Segeln und flatternden Flaggen am Heck, die einen goldenen Falken auf rotem Hintergrund zeigen, das Wappentier der Reederei Johan Cesar Godeffroy & Sohn.

»Hier, lies das doch mal, das ist wenigstens ein erfreulicher Beitrag«, sagt Godeffroy schließlich. Er reicht seiner Frau ein Exemplar der Times of London, das wie zufällig auf der grünen Lederplatte seines Mahagonischreibtisches gelegen hat.

Auf der dritten Seite ist ein Artikel mit einem Lesezeichen markiert. »Germany’s King of the South Seas« lautet die Überschrift. Daneben ist ein kleines Foto des deutschen Südseekönigs abgebildet: ein Mann Mitte bis Ende fünfzig, mit dunklem Jackett, aus dessen unmodischem Revers ein steifer Hemdkragen drängt, der von einer dunklen Fliege zusammengehalten wird. Ein schmaler Mund, eine markante Nase und dunkle Augenbrauen geben dem Gesicht eine kräftige Strenge. Durch dicke Brillengläser blicken zusammengekniffene Augen den Betrachter missmutig an.

»Du hättest ruhig ein bisschen lächeln können.«

»Der Fotograf hat fast eine Stunde für das Bild gebraucht, immerzu ist das Blitzlichtpulver zu früh losgegangen, dabei ist mir das Lächeln gründlich vergangen.«

Emily Godeffroy liest aufmerksam den Bericht der berühmten Londoner Zeitung.

»Johan Cesar Godeffroy«, so heißt es da, »ist einer der reichsten und mächtigsten Männer der Hansestadt Hamburg und des ganzen deutschen Reiches. Ihm gehören Stahl- und Kupferwerke, er besitzt Werften, Bankbeteiligungen und internationale Aktienpakete. Aber anders als die deutschen Industriemagnaten Krupp oder Thyssen ist dieser hanseatische Großunternehmer obendrein noch der größte Handelsreeder Europas: Man nennt Godeffroy auch den ›Deutschen König der Südsee‹, weil er mit einer Flotte von mehr als 40 großen Frachtseglern das Im- und Exportgeschäft mit den Inseln des Pazifik beherrscht.« Wie man höre, wolle Godeffroy nun auch noch groß in das Diamantengeschäft einsteigen.

Mister Godeffroy, so schreibt die Times weiter, hätte sich überdies als Mäzen der Wissenschaft großes Ansehen erworben. »Für sein Hamburger Ozeanien-Museum haben von ihm angestellte Naturforscher und Sammler bereits Tausende von exotischen Ausstellungsstücken zusammengetragen, präparierte Pflanzen und Tiere, Masken und Kultgegenstände, ja sogar Skelette und Schädel pazifischer Ureinwohner.« Und als Verleger gebe Godeffroy eine aufwendige populärwissenschaftliche Zeitschrift heraus, das Journal des Museums Godeffroy. Eine Publikation, die seinen Ruhm mehren werde.

»Trägt dieser Artikel nicht ein bisschen arg dick auf?«

Emily Godeffroy betrachtet ihren Mann so aufmerksam, als habe sie ihn längere Zeit nicht gesehen. Der wirkt hinter seinem mächtigen Schreibtisch kleiner, als er ist, und er misst gerade mal 1,72 Meter. Sein schüttereres Haar hat er streng gescheitelt und in dünnen Strähnen von links nach rechts über den Schädel gekämmt. »Deutschlands König der Südsee«, so befindet Emily Godeffroy, stellen sich die Leser der Times vermutlich eindrucksvoller vor. Aus der Nähe betrachtet wirkt ihr Mann eher wie sein eigener Buchhalter – die Ärmelschoner, die er stets bei der Schreibtischarbeit überstreift, verstärken diesen Eindruck noch.

»Es stimmt doch alles, was in der Times steht.«

Godeffroy schnieft, schnäuzt sich lautstark und faltet sein Taschentuch wieder sorgsam zusammen.

»Na ja, fast alles jedenfalls – aber du musst den Artikel ja nicht unbedingt in deiner Gesellschaft herumzeigen, man liebt in Hamburg ja eher das britische Understatement, wie du weißt.«

An der Börse, so habe er gehört, sei die Times schon durch die Hände der wichtigen Leute gegangen. Besonders die Sache mit den Diamanten habe eingeschlagen wie ein Blitz. Und auch in England zeitige der Artikel bereits Wirkung, denn die dortige Barings Bank werde nun wohl endlich der Firma Godeffroy & Sohn den schon vor Monaten erbetenen Großkredit gewähren, eine halbe Million Pfund Sterling immerhin.

Ohne anzuklopfen, betritt ein kleiner Herr mit großem Schnauzbart das Kontor des Großunternehmers, selbstbewusst und offenbar bester Laune.

Museumskustos Dr. Hubert Schmalz nimmt sich gern einige kleine Freiheiten heraus, um seine besondere Stellung im Unternehmen zu demonstrieren: In weniger als zwei Jahren hat er das neu gegründete Museum Godeffroy zu einer Attraktion gemacht, sowohl für das gewöhnliche Publikum wie auch für das Bildungsbürgertum. Presse und Fachwelt sind beeindruckt von der Darbietung und Reichhaltigkeit der Ausstellungsstücke, die von bisher unbekannten Insekten und in Spiritus eingelegten Schlangen bis zur originalgetreuen Nachbildung einer Steinzeitmenschen-Siedlung reicht. Ganz besonderes Interesse finden die Skelette und Totenköpfe von Kannibalen aus Neuguinea. Die Leute gruseln sich halt gerne, wie Schmalz zu sagen pflegt.

Ein halbes Dutzend wissenschaftliche Mitarbeiter, ein paar Hilfskräfte und sieben auf den Inseln des Pazifik tätige Forscher und Sammler sind ihm unterstellt. Und vor drei Monaten hat Godeffroy seinem vielseitig begabten Museumsleiter eine weitere Aufgabe übertragen: die Herausgabe einer aufwendigen Zeitschrift, die unter dem schlichten Titel Journal des Museums Godeffroy viermal im Jahr erscheinen soll, auf teurem Papier gedruckt, mit Fotografien und farbigen Zeichnungen. Wissenschaftliche Beiträge sollen die Fachwelt aufhorchen lassen und Abenteuergeschichten die gewöhnlichen Leser faszinieren. An diesem Nachmittag hat die Druckerei Probeabzüge der neuen Ausgabe zur Begutachtung angeliefert.

»Halten Sie diesen Beitrag hier für eine gute Idee?« Godeffroy fuchtelt mit der Druckfahne herum.

Kustos Schmalz blickt ihn verständnislos an.

»Welchen Beitrag?«

»Diesen hier, das wird auf keinen Fall gedruckt!«

Schmalz schweigt, wie von selbst ballen sich seine Hände zu Fäusten.

»Nacktschnecken mit meinem Namen ... Sind Ihren Herren Forschern nicht ein paar bedeutsamere oder wenigstens ansehnlichere Tiere über den Weg gelaufen, die sie nach ihrem großzügigen Arbeitgeber benennen könnten?«

Schmalz gewinnt seine Fassung zurück.

»Sie haben da offenbar etwas falsch verstanden«, sagt er beherrscht, »es gilt in Kreisen der Wissenschaft als große Ehre, wenn neu entdeckte Kreaturen gleich welcher Art, Geschöpfe Gottes, wenn Sie so wollen, nach einem Forscher oder nach einem Mäzen der Forschung benannt werden.«

»Nacktschnecken ...« Godeffroy trompetet wieder in sein Taschentuch.

»Wenn Sie eine andere Tierart bevorzugen«, sagt Schmalz nun süffisant, »auf der Insel Mioko vor der Küste von Neuguinea haben unsere Leute bisher unbekannte Wildschweine mit einem ungewöhnlichen Rüssel entdeckt.«

Johan Cesar Godeffroy pumpt seine Backen auf, als wolle er seinen aufmüpfigen Museumskustos mit einem gewaltigen Luftstoß aus dem Raum blasen, doch das Lachen seiner Frau unterbricht ihn. Die Luft entweicht tonlos aus seinem gespitzten Mund.

»Sehr amüsant, Herr Doktor Schmalz, wirklich sehr amüsant. Ihre Frohnatur hat mir schon immer gefallen – aber nun mal im Ernst und damit das klar ist: Dieser Artikel hier wird selbstverständlich nicht das Licht der Öffentlichkeit erblicken!«

Schmalz schließt und öffnet seine Hände.

Ob er diesen Bericht hier in der Times of London gelesen habe?

Schmalz nickt zögernd.

»Den könnten wir anstelle dieser Nacktschnecken-Geschichte nachdrucken, auszugsweise wenigstens.« Godeffroys Stimme klingt versöhnlich.

Der Museumskustos baut sich jedoch kerzengerade vor seinem Schreibtisch auf und wippt auf seinen Zehenspitzen. Sein Schnauzbart zittert vor Erregung.

»Unter diesen Umständen werden Sie auf meine weitere Mitarbeit in Ihrem Hause verzichten müssen, Herr Godeffroy. Ich verantworte für Sie keine Wirtschaftszeitung und kein Börsenblatt, sondern ein anspruchsvolles naturwissenschaftliches Journal – oder gar keines ...!«

Godeffroy blickt auf, erst wütend über den unbotmäßigen Auftritt, dann mit erkennbarem Respekt vor der aufrechten Haltung seines Angestellten.

»Ist ja gut, Doktor Schmalz, ist ja gut. Sie wissen doch, wie sehr ich Ihre Arbeit schätze.«

Schmalz sieht Godeffroy unverwandt an. Und der fühlt sich unwohl unter dem bohrenden Blick dieses kleinen, intelligenten Mannes, der ihn zu durchschauen scheint. Und tatsächlich sieht Schmalz in diesem Moment nicht den großen, reichen, mächtigen Unternehmer vor sich, den Konzernherrn und Südseekönig Johan Cesar Godeffroy, sondern den ehrgeizigen Abkömmling französischer Flüchtlinge, den Hugenotten-Sohn, der in der abgeschotteten Gesellschaft hanseatischer Kaufleute noch immer einen besonderen Platz erobern will. Er weiß, dass Godeffroy nach mehr strebt als die gewöhnlichen reichen Pfeffersäcke und Kaffeebarone, deren Lebenswerk gemeinhin darin besteht, ihre Waren möglichst billig einzukaufen und so teuer wie möglich zu verkaufen. Das rein Kaufmännische sei, so hat Godeffroy ihm einmal nach zwei, drei Glas Burgunder anvertraut, ja keine Tätigkeit, die einem kreativen Menschen Erfüllung bieten könne. Ja, geradezu armselig sei das bloße Reichwerden im Vergleich zu dem, was Dichter und Philosophen, was Maler und Baumeister, Ärzte und Wissenschaftler an schöpferischer Arbeit leisteten.

Als Gründer eines Museums, als Mäzen der Wissenschaft und nun auch als Herausgeber und Verleger eines naturwissenschaftlichen Journals will Godeffroy schon zu Lebzeiten den Grundstein für sein künftiges Denkmal in der Hansestadt legen.

»Nehmen Sie doch Platz, mein lieber Doktor Schmalz«, sagt er nun mit einladender Geste. Dabei weist er auf einen der ledernen Besuchersessel und blättert eine Weile wortlos in dem Andruckexemplar des Museumsjournals.

»Sie wissen, wie sehr ich Ihre Arbeit schätze, zum Beispiel diesen Artikel hier über die neuesten Forschungen meines Berliner Freundes Professor Virchow, den haben Sie ganz ausgezeichnet redigiert. Den habe ich vorher nicht verstanden, und nun haben Sie mir und unseren Lesern bereits im Vorwort erklären können, worum es dabei im Grunde eigentlich geht.«

Er wendet sich an seine Frau, sagt: »Hör doch mal Emily, wie klar unser Herr Schmalz das formuliert hat«, und fährt dann wie ein Vortragsredner mit auf- und abschwellender Stimme fort: »Die Hypothese, dass der Vorfahr des Menschen sich von ausgestorbenen Affenarten abzweigt, würde erst dann in der Wissenschaft anerkannt werden können, wenn Zwischenformen beziehungsweise Übergänge von jenem Proanthropos zu den heutigen Menschen irgendwo entdeckt werden würden.«

»Was ist ein ..., ein Pro-anthro-pos?«

Emily Godeffroy dehnt die Silben des fremden Wortes.

»Der Proanthropos ist unser Urahn – der Affenmensch«, sagt Schmalz.

Er lockert seine Hände und knackt vernehmlich mit den Fingergelenken, ein Geräusch, bei dem Emily Godeffroy jedes Mal zusammenzuckt.

»Das heißt also, unser hochverehrter Professor Virchow könnte möglicherweise mit Hilfe dieser Schädel aus der Südsee, die ihm unsere fleißigen Forscher beschaffen, die Theorie seines englischen Kollegen Darwin unterstützen, wonach die Menschheit vom Affen abstammen soll. Hält er die primitiven Eingeborenen in Papua-Neuguinea für eine Art Zwischenstufe der Entwicklung des Affenmenschen zum zivilisierten Menschen? Sehe ich das richtig?«

»Ja, so ungefähr könnte man es vielleicht ausdrücken, gnädige Frau.« Schmalz nickt beflissen. Virchow verfüge inzwischen für seine umfassenden Forschungen über eine der größten Schädelsammlungen der Wissenschaft.

»Du hast dich aber erstaunlich gut mit dieser Materie beschäftigt«, sagt Godeffroy und sieht seine Frau verblüfft an.

»Der junge Herr Kleine hat mir und meinen Freundinnen bei unserem Empfang in Blankenese von Expeditionen und von Schädelforschungen erzählt, bevor er zu seiner Reise nach Ozeanien aufgebrochen ist. Es war für uns Damen faszinierend, weil er mit so großer Begeisterung gesprochen hat.«

»Schön, schön.« Godeffroy blättert wieder in seinem Journal. »Möglicherweise haben unsere Leute da unten auf den Inseln des Pazifik tatsächlich das Missing Link gefunden, wie die Engländer sagen: das bisher noch fehlende Beweisstück, dass wir Menschen tatsächlich von den Affen abstammen. Das wäre eine wirkliche Sensation, von der unser Haus profitieren würde, ganz besonders unser Journal hier.«

Und erst heute, sagt Kustos Schmalz, seien zusammen mit Hunderten von neuen Pflanzen- und Tierpräparaten auch wieder hochinteressante Totenschädel aus Neuguinea eingetroffen. »Dieses Forschungsmaterial wird bereits von einem jungen Wissenschaftler in Augenschein genommen, der zusammen mit Professor Rudolf Virchow ...«

Es klopft. Godeffroy dreht seinen Kopf zur Tür und ruft ungehalten: »Herein!«

Ein junger Mann in grauweißem Kittel bittet, vom Laufen noch außer Atem, um Entschuldigung für die Störung, nennt undeutlich seinen Namen und erklärt, er müsse Doktor Schmalz dringend bitten, unverzüglich in das Museum zurückzukommen.

»Es ist ... Es ist etwas passiert.«

»Was ist passiert?«, fragt der Museumskustos in barschem Ton.

Unsicher blickt der junge Mann zu Godeffroy hinüber und sagt dann an den Museumskustos gewandt: »Bitte kommen Sie schnell, Doktor Schmalz.«

»Was ist denn los, Sie stören in einer wichtigen Besprechung.«

»Mit einem der Schädel stimmt etwas nicht ... Es ... Es ist etwas damit. Etwas sehr Unheimliches ...«

Der letzte Tanz im Paradies

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