Читать книгу Der letzte Tanz im Paradies - Jürgen Petschull - Страница 14

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Sebastian Kleine starrt in sein leeres Weinglas, schon seit Anna Scharnhorst ihre Verlobung bekanntgegeben hat.

»Ist Ihnen nicht gut, junger Mann?«, fragt Olga Tietjen.

»Doch, doch, ich denke nur ein wenig nach«, sagt er wortkarg.

Theobald Kolber hebt sein bereits leeres Weinglas.

»Wenn Sie in Ihrer neuen Heimat sind, Fräulein Scharnhorst, kommen mein junger Freund und ich Sie eines Tages besuchen – Sie und Ihren künftigen Ehemann, denn wie der Zufall es will, werden wir in dieser Gegend beruflich zu tun haben.«

Als Sebastian Kleine ihn fragend ansieht, beugt er sich vor und sagt halblaut: »Malaguna liegt am Fuße des Varzin-Vulkanberges – das ist die Gegend, von der uns Johan Cesar Godeffroy am Tag unserer Abreise in Hamburg erzählt hat.«

Tagebuch Sebastian Kleine, Montag, 2. Mai 1898

Meine Gedanken und Gefühle waren nach der Offenbarung von Missionsschwester Anna über ihre bevorstehende Eheschließung ein wenig verwirrt. Einerseits wurde mir erst jetzt klar, dass ich im Begriff gewesen war, mich in Anna zu verlieben, andererseits kam ich zu der Einsicht, dass es gut ist, dass sie bereits gebunden ist. Es hätte nur allzu viele Verwirrungen in meinem Leben gegeben.

Erst seit sich meine Gefühle wieder beruhigt haben, kann ich mich wieder auf mein künftiges Leben und Arbeiten in Deutsch-Neuguinea vorbereiten.

Theobald Kolber hatte mich und meine Zuneigung zu Anna durchschaut. Er machte noch ein paar Scherze auf meine Kosten und sagte so etwas wie »Liebe kommt und Liebe geht«, und im Übrigen solle man Missionsschwestern im Allgemeinem und eine Frau mit einer so schwierigen Geschichte wie Anna Scharnhorst im Besonderen in Ruhe lassen. Es gelang ihm, mich von meinem diffusen Kummer abzulenken, indem er tage- und nächtelang von der wechselvollen Geschichte der Handelsreederei Godeffroy erzählte und von seinem eigenen Geschäften und Unternehmungen in der Südsee. So erfuhr ich, dass Theobald Kolber ursprünglich die Idee gehabt hat, ein Südseemuseum in Hamburg zu eröffnen und daraus ein erfolgreiches Nebengeschäft zu machen. Die Zeitschrift Journal des Museums Godeffroy sei nach Vorschlägen von Museumskustos Dr. Schmalz entstanden. Das Ansehen des Museums und des Journals verdanke man in erster Linie der Feld- und Forschungsarbeit sowie den fachkundigen und unterhaltsamen Artikeln der Naturforscher, die das Haus Godeffroy wohl ausgerüstet und mit guten Verträgen ausgestattet in die Südsee geschickt hat.

Diese Leute sind alle auf ihre Weise und auf ihrem Gebiet Koryphäen und ungewöhnliche Charaktere. Sie stammen aus verschiedenen Ländern. Der Schweizer Zoologe Eduard Graeffe sammelte zehn Jahre lang Tausende von Tieren, Pflanzen und ethnologischen Gegenständen auf Samoa. Von dem Amerikaner Andrew Garrett hatte ich bereits Berichte gelesen und seine haargenauen farbigen Zeichnungen exotischer Fische und Vögel bestaunt. Der Pole Stanislaus Kubary hatte während des Medizinstudiums seine Heimat aus politischen Gründen verlassen müssen und daraufhin halb Ozeanien bereist. Der Deutsche Eduard Dämel wurde von Godeffroy ins nördliche Australien geschickt. Der Forschungssammler Franz Hübner bearbeitete den Bismarckarchipel. Der deutsche Ornithologe Theodor Kleinschmidt entdeckte zahlreiche noch unbekannte Vogelarten, darunter auch die prächtigsten Paradiesvögel, die je gesehen worden waren. Am bekanntesten ist jedoch die einzige Frau unter Godeffroys Leuten: Amalie Dietrich. Sie hatte in Thüringen als eine Art Kräuterhexe angefangen und Apotheken und Ärzte ihrer Heimat mit seltenen Heilpflanzen aus dem Wald versorgt. Ein Geschäftsmann empfahl sie Johan Cesar Godeffroy, und der schickte sie nach Australien und in den Pazifik. Ihr Fleiß und Wagemut sind legendär. Ihre Arbeitsweise ist allerdings in Verruf geraten. Die ehrgeizige Frau soll ihre einheimischen Helfer beauftragt haben, Eingeborene von besonderem Interesse für die anthropologische Forschung umzubringen. Dann habe sie die Schädel, Knochen und ganze Skelette präpariert und nach Deutschland geschickt. Er könne sich das nicht so recht vorstellen, aber ihm sei diese Geschichte von glaubwürdigen Leuten zugetragen worden, erzählte Theobald Kolber.

Von einigen heftigen tropischen Gewittern abgesehen, durchsegelten wir bei meist ruhiger See und kräftigem Wind den Indischen Ozean und nahmen Kurs auf Australien.

Während des letzten Teils unserer Reise studierte ich intensiv die mitgebrachten wissenschaftlichen Werke sowie einige spannende Erlebnisberichte internationaler Forscher und Entdecker. Besonders gefesselt hat mich das umfangreiche Tagebuch unseres großen Deutschen Georg Forster, der vor mehr als hundert Jahren mit dem englischen Seehelden Captain James Cook die ganze Welt und speziell den Pazifik bereist hat. Forsters Aufzeichnungen mit dem Titel »Eine Reise um die Welt« sind sogar von Johann Wolfgang Goethe in hohen Tönen gepriesen worden. Manchmal träume ich davon, dass auch mein eigenes Tagebuch einmal zu solchem Ruhm gelangen wird.

In zwei bis drei Tagen, so verkündete Kapitän Tietjen bei einem gemeinsamen Abendessen in der Offiziersmesse, würden wir unser Ziel erreichen. Immerhin mehr als eine Woche früher, als in Hamburg berechnet worden sei. Herr Godeffroy werde sich freuen, wenn er davon höre, denn das englische Geschäftsprinzip »time is money« gelte ganz besonders für die internationale Frachtschifffahrt.

Am nächsten Tag kamen tatsächlich schon die ersten kleineren Inseln des Bismarckarchipels in Sicht.

Bei Sonnenuntergang zeigte Kapitän Tietjen auf ein Palmeneiland, auf das er sein einäugiges Messing-Fernrohr gerichtet hatte. Das sei die Insel Kabokan.

»Wollen Sie mal unseren deutschen Robinson Crusoe sehen?«, fragte er Anna Scharnhorst und mich, dabei lachte er und reichte sein Fernrohr zunächst an Anna. Als sie es mit Hilfe des Kapitäns auf einen bestimmten Punkt am weißen Sandstrand dieser Insel fixiert hatte, rief sie aufgeregt. »Ich sehe eine Hütte. Und an einem Mast davor weht ein großes Tuch. Lebt da wirklich ein Schiffbrüchiger, der uns ein Zeichen geben will?«

»Richten Sie das Okular ein wenig mehr nach links«, sagte der Kapitän.

»Oh Gott, da ist tatsächlich ein Mann. Ein weißer Mann offenbar. Der winkt uns zu!«

»Hat er einen langen Bart?«

»Ja, tatsächlich, einen langen Bart hat er!«

»Was hat er denn an?«

»Das kann ich nicht erkennen«, sagte Anna, dann rief sie plötzlich: »Oh Gott, oh Gott. Er hat gar nichts an ... Der Mann ist ja splitternackt!«

Der Kapitän klatschte lachend in die Hände. Anna gab mir das Fernglas.

Ich sah den Nackten auch.

»Das ist ein Landsmann von uns«, erklärte Tietjen, »ein Apotheker aus Nürnberg. August Engelhardt heißt er.«

Inzwischen war Theobald Kolber zu uns gestoßen. Er kannte diesen Engelhardt und ist auch schon auf der Insel gewesen. Engelhardt habe das Südseeidyll günstig von Queen Emma gekauft und zu seinem persönlichen Paradies erklärt. Der Mann ernähre sich nur von Kokosnüssen und habe einen sogenannten »Sonnenorden« gegründet. In esoterischen Zeitschriften in Deutschland habe er ein oder zwei Dutzend Jünger angeworben, die in den nächsten Monaten zu ihm auf seine Insel kommen sollen. Das seien Naturfreunde, Anhänger der Freikörperkultur, Gegner des technischen Fortschritts und der zunehmenden Hetze und Geschwindigkeit unseres Lebens in Europa.

Wenn wir einmal Zeit hätten, so meinte er, könnten wir die Insel und ihre eigenwilligen deutschen Bewohner ja mal besuchen.

Eigentlich sei das nämlich ein interessanter und gebildeter Mensch, dieser seltsame Herr Engelhardt aus Nürnberg, der habe sogar ein Piano auf seine Insel mitgenommen. Vor Sonnenuntergang pflege er am Strand auf recht gefällige Weise Klavierstücke von Mozart und Schubert zu spielen. Die Eingeborenen würden der Musik still und ergriffen lauschen.

Am Morgen danach, am 25. Mai 1898, wurden wir alle von lautem Gelächter und großem Geschrei geweckt, das sich zu einem Chor kräftiger Männerstimmen vereinigte. Ich sah, wie ein Dutzend unserer Matrosen an der Backbordseite standen, ihre Mützen und allerlei Gegenstände in die Luft warfen und dazu immer wieder in den Refrain ausbrachen:

»Hurra! Hurra ...! Ein dreifach kräftiges Hurra ...« Der Männerchor schloss mit: »Es lebe der Kaiser! Es lebe unser deutsches Vaterland!«

Einige Besatzungsmitglieder und eine Gruppe von Passagieren hatten sich andächtig um Missionsschwester Anna geschart, die mit dem Rücken am Großmast in der Schiffsmitte stand und ein Gebet sprach:

»Gelobt sei der Herr, der uns beschützt hat. Gepriesen seien unser Kapitän Tietjen und seine tüchtigen Seeleute, die uns sicher ans andere Ende der Welt gebracht haben.« Und dazwischen ertönte vom Himmel her, vom Aussichtskorb an der Mastspitze, in kurzen Abständen immer wieder der begeisterte Ruf des Mannes im Ausguck: »Land in Sicht! Land in Sicht!«

Theobald Kolber trat an meine Seite, schüttelte meine Hände und umarmte mich.

Wir starrten in den milchigen Frühdunst, der sich allmählich lichtete. Gemeinsam bestaunten wir die Szenerie, die sich unseren Augen bot. Es war wie in einem Theater, wenn sich der Vorhang langsam hebt und das Bühnenbild zum ersten Mal sichtbar wird. Über dem spiegelglatten blauen Wasser tauchten noch verschwommen und allmählich härter und deutlicher werdend die Konturen einer noch etliche Kilometer entfernten Küste auf. Der Kapitän bestätigte, dass wir tatsächlich auf unser Ziel zusteuerten: Deutsch-Neuguinea, Neupommern, die Gazelle-Halbinsel und die halbrunde weiße Bucht, die Blanchebai genannt wird, lagen direkt vor uns.

Der erste Eindruck erinnerte mich an eine Stelle im Reisetagebuch von Georg Forster, an der die Anfahrt seines Schiffes auf die Küste einer Pazifikinsel in diese Worte gefasst wird:

»Ein Morgen war’s, schöner hat ihn schwerlich je ein Dichter beschrieben, an welchem wir die Insel vor uns sahen. Der Ostwind, unser bisheriger Begleiter, hatte sich gelegt; ein vom Lande wehendes Lüftchen führte uns die erfrischendsten und herrlichsten Wohlgerüche entgegen und kräuselte die Fläche der See.

Waldgekrönte Berge erhoben ihre stolzen Gipfel in mancherlei majestätischen Gestalten und glühten bereits in den ersten Morgenstrahlen der Sonne. Unterhalb derselben erblickte das Auge eine Reihe von niedrigen, sanft abhängenden Hügeln, die den Bergen gleich, mit Waldung bedeckt und mit anmutigem Grün schattiert waren. Eine halbe Meile vom Ufer verlief eine Reihe von Klippen parallel zum Lande hin ...

Noch erschien alles im tiefsten Schlaf Allmählich aber konnte man unter den Bäumen eine Menge von Häusern und Kanus sehen, die auf den sandigen Strand gezogen waren. Nunmehr fing die Sonne an, auch die Ebene zu beleuchten. Die Einwohner erwachten und die Aussicht begann zu leben. Kaum bemerkte man das große Schiff an der Küste, so eilte man unverzüglich nach dem Strande herab, stieß die Kanus ins Wasser und ruderte auf uns zu ...«

Genauso war es.

Forsters Schilderung hatte ich beinahe wortwörtlich verinnerlicht, und ich habe sie wohl leise vor mich hin gesprochen, als die Emily Godeffroy die letzte Seemeile mit bereits gerafften Segeln zu unserem Ziel zurücklegte.

Der letzte Tanz im Paradies

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