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An Bord der Emily Godeffroy haben die Passagiere ihr Reisegepäck aus den Kabinen an Deck geholt. Theobald Kolber, Sebastian Kleine und Anna Scharnhorst gehören zur ersten Gruppe, die das Fallreep herunterklettert. Kapitän Tietjen und seine Frau Olga winken ihnen nach. An der Außenwand der Emily Godeffroy haben zwei kleine Dampfboote festgemacht, die von Land gekommen sind. Daneben dümpeln die Kanus der Eingeborenen, die den Ankömmlingen geflochtene Blumen und tellergroße Muscheln und Schildkrötenpanzer verkaufen wollen. Während der kurzen Fahrt zum Ufer starren die Ankömmlinge fasziniert in das glasklare Wasser. Über den hellen, sandigen Meeresgrund huschen große und kleine Fische, ganze Schwärme schwimmen durch Korallenbänke und wogende Algenwälder.

An dem kurzen, ins Meer ragenden Anleger von Herbertshöhe sind inzwischen die Musikanten der Polizeitruppe zusammen mit einem kleinen Empfangskomitee der Kolonialverwaltung, der Mission und der Firma Godeffroy angetreten. Ein Papua-Polizist in deutscher Uniformhose und blankem Oberkörper schwingt einen armdicken Dirigentenstab und lässt das beliebte Stück »Muss i denn, muss i denn zum Städele hinaus ...« intonieren. Und als die weißen Herrschaften im Boot und auf dem Anleger über diesen musikalischen Fehlgriff herzlich lachen und applaudieren, verbeugt der Dirigent sich zweimal, weil er glaubt, seine Sache besonders gut zu machen. Dabei rutscht ihm seine preußische Pickelhaube vom Kopf ins Gesicht, was noch mehr Heiterkeit zur Folge hat.

Nur Anna bleibt ernst. Ihre Augen suchen die lange Reihe der fröhlichen Leute auf dem Anleger ab. Aber niemand winkt ihr gezielt zu. Und keiner der Männer hat Ähnlichkeit mit dem Mann auf ihrem Bild.

Sie erkundigt sich schließlich bei drei katholischen Ordensbrüdern, die am Ende des Anlegers stehen. Aber auch die haben keinen protestantischen Kollegen gesehen. Sie selber erwarten auch niemanden, nur die große Kiste da drüben, sagt einer, und zeigt auf einen Blechbehälter vom Ausmaß mehrer Schränke, der von einem quietschenden, gefährlich wackelnden Kran an Land gehoben wird. »Da ist ein Harmonium für unsere Missionsstation in St. Paul drin. Die soll dort in einigen Wochen zur Einweihung der neuen Kirche gespielt werden. Wenn Sie Lust haben, sind Sie in Gottes Namen herzlich eingeladen!«

Anna lächelt gequält und verunsichert.

Wo ist ihr Verlobter? Heinrich Althoff hat doch versprochen, sie persönlich abzuholen ...

Theobald Kolber wird von seinem Prokuristen Wigbert Elbertzhagen, dem stellvertretenden Leiter der Godeffroy-Faktorei in Herbertshöhe, in Empfang genommen. »Ein neuer Mitarbeiter des Museums Godeffroy wird wohl für längere Zeit bei uns wohnen«, sagt Kolber und stellt dabei Sebastian Kleine vor. »Herr Kleine wird mit mir zusammen einen besonderen Auftrag für unser Haus durchführen. Sagen Sie das auch den anderen Mitarbeitern und behandeln Sie ihn besonders zuvorkommend.«

Kleine lächelt ein wenig geschmeichelt, als sich der offenbar ältere Prokurist vor ihm verbeugt.

Ein dunkelhäutiger Polizeisoldat hat im Hintergrund gewartet. Er tritt vor und nimmt eine stramme Haltung an.

»Ein Brief für Herrn Theobald Kolber«, sagt er in gutem Deutsch und überreicht die Einladung zum Empfangsfest bei Queen Emma. Auch der Herr Kommandant Schmeile lasse Grüße ausrichten. Kolber dankt gequält, als er diesen Namen hört.

Die Emily Godeffroy lässt ihr Signalhorn ertönen, als nach zwei Stunden auch die letzten für Neuguinea bestimmten Passagiere von den Beibooten an Land gesetzt werden. Auf dem Anleger und auf dem kleinen Platz oberhalb der Anlegestelle, auf dem die Waren für den An- und Abtransport zwischengelagert werden, drängen die Ankömmlinge und die Leute, die auf sie gewartet haben, durcheinander. Kaufleute, Kolonialbeamte, Offiziere und Missionare, viele Männer und wenige Frauen sind gekommen. Es wird gelacht und vor Freude geweint. Kolber wird von vielen Leuten begrüßt und angesprochen – ein Mijnher Klaas van Oranje meldet sich nicht. Und doch wird er das Gefühl nicht los, dass dieser Mann in der Menge oder in der Nähe ist. Er fühlt sich beobachtet.

Anna Scharnhorst sitzt indessen verloren am Rande des Geschehens auf ihrer Reisekiste. Die Sonne scheint heiß vom Himmel. Die Luft dampft vor Feuchtigkeit. Ihre Hände zerknüllen das Taschentuch, mit dem sie sich Schweiß und Tränen aus den Augen gewischt hat.

Als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürt, zuckt sie erschreckt zusammen.

»Ich bin’s nur«, sagt Sebastian Kleine.

»Mein Verlobter ist nicht erschienen.« Ihre geröteten Augen blinzeln gegen das Sonnenlicht zu ihm auf.

»Er wird schon noch kommen. Wenn Sie wollen, bleibe ich so lange bei Ihnen.«

Kurz darauf hastet ein Mann über den staubigen Uferweg zum Anlegeplatz, ein gut aussehender Mann mit gestutztem Bart, Ende dreißig, Anfang vierzig. Er spricht ein paar Leute an und nähert sich dann zögernd Anna Scharnhorst und Sebastian Kleine. Seine helle Hose ist verschmutzt, sein Hemd verschwitzt. An seinem Hals hängt ein silbernes Jesuskreuz. Er sieht erschöpft und verlegen aus.

»Sind Sie Fräulein Anna Scharnhorst, die Verlobte des protestantischen Missionars Heinrich Althoff?«, fragt der Mann.

Anna sieht ihn an. »Sind sie nicht ...?«

»Nein«, sagt er, »ich bin nicht Heinrich Althoff. Ich bin ein katholischer Bruder von ihm, meine Station liegt nicht allzu weit von seiner entfernt. Er hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass er nicht selber kommen kann, weil ...«

Enttäuscht blickt Anna den Überbringer der schlechten Nachricht an.

»Was ist ..., ist etwas passiert?«

»Er hat Malaria ..., nichts Schlimmes ..., einer der üblichen Fieberschübe. Das dauert nur ein paar Tage, dann wird er wieder auf den Beinen sein und nach Herbertshöhe kommen und Sie abholen.«

Anna setzt sich. Sie sieht aus, als sei ihr schwindelig geworden. Sie verbirgt ihr Gesicht in beiden Hände. Sebastian Kleine weiß nicht, wie er sich verhalten soll.

Was denn los sei? Warum so traurig? Theobald Kolber steht plötzlich neben ihnen. Kleine erklärt die Situation.

»Nun ja, das ist zwar nicht schön für Sie, Fräulein Scharnhorst, aber offen gesagt, auch nicht so dramatisch, wie es vielleicht für Sie klingt. Malaria hat hier beinahe jeder von uns. Das Fieber kommt und geht auch nach ein paar Tagen wieder. Chininpulver und ein paar Glas Gin helfen gewöhnlich schnell. Bis ihr Künftiger höchstpersönlich und quicklebendig erscheint, werden wir ein schönes Quartier für Sie finden. Und es wird Herrn Kleine und mir ein Vergnügen sein, Sie zum Empfangsfest bei Queen Emma mitzunehmen. Das wird Sie hoffentlich auf andere Gedanken bringen.«

Mit der zweispännigen Kutsche, die einen Gepäckwagen hinter sich herzieht, fahren die drei Passagiere der Emily Godeffroy über die Hauptstraße von Herbertshöhe, die am Ufer der Blanchebai entlang verläuft. Vor dem Gebäude der deutschen Neuguinea-Compagnie biegt der Kutscher in eine sandige Seitenstraße ein. Die Pferde halten schnaufend vor einem großen, doppelstöckigen Holzgebäude mit einem noch neu glänzenden, zweistufigen Blechdach, mit Erkern und Türmchen an den Ecken. Eine breite Terrasse im Erdgeschoss und eine umlaufenden Veranda in der ersten Etage mit geschnitzten Balustraden verleihen dem Gebäude den Charme einer barocken tropischen Villa. Vor dem breiten Eingang wehen die Flaggen des Deutschen Reiches, der Vereinigten Staaten von Amerika und des Königreiches Samoa. Über dem Portal hängt ein Holzschild mit eingeschnitzten Buchstaben.

»Hotel Fürst Bismarck«, liest Anna.

»Das erste Haus am Platze«, erklärt Theobald Kolber. Das Hotel gehöre Queen Emma. Seit der Eröffnung vor einem Jahr sei es ständig ausgebucht, weil es nur zehn Zimmer habe, aber er werde sehen, was sich machen lässt.

Nach zehn Minuten kommt Kolber zurück. Dem Herrn Hoteldirektor Hellweg sei es eine Ehre, sie begrüßen zu dürfen, sagt er. Der Kutscher hebt ihr Reisegepäck, eine schwere Holzkiste mit Vorhängeschloss, ächzend vom Wagen und schleppt sie ins Hotel. Anna folgt ihm.

Die Missionsschwester bezieht ein geräumiges, hell möbliertes Zimmer, dessen bodentiefes Fenster auf die Veranda hinausgeht. Von hier aus hat man einen schönen Blick in den tropischen Park. In einer Voliere, so groß wie ein Gartenpavillon, flattern Dutzende von kleinen Vögeln herum. Und zwei große Papageien, der eine grün, der andere rot, hocken auf ihren Stangen. Die beiden könnten sprechen, erklärt der Hoteldirektor. Das werde sie bald selber vernehmen.

Als der Kutscher ihr Gepäck abgestellt hat, erfrischt Anna sich an der mit einem Spiegel versehenen Waschkommode. Sie legt ihre Luther-Bibel und ihr Gebetbuch auf den Nachttisch. Als sie auf die Veranda hinaustritt, beginnen die Papageien zu kreischen. Der Rote ruft immer wieder »Deutschland! Deutschland!« Der Grüne antwortet jedes Mal: »Über alles!« Anna Scharnhorst lacht. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft.

Auch Sebastian Kleine ist mit seinem Quartier zufrieden. Sein Zimmer ist spartanisch, aber zweckmäßig eingerichtet. Bett, Schrank und Stuhl, eine Schreibtischplatte unterm Fenster. Durch das kleine Fenster ist zwischen der Seitenwand der Faktorei und einem Lagerschuppen das Meer zu sehen. In der flirrenden Hitze taucht der Einbaum eines einheimischen Fischers auf, der unbeweglich mit erhobenem Speer in dem wackligen Gefährt steht und auf Beute lauert. Über dem Bett hängt ein blasses Aquarell vom winterlichen Hamburger Hafen mit dem schneebedeckten Michel im Hintergrund. Gemeinschaftsdusche und Plumpsklo sind nur ein paar Schritte entfernt in einem Nebengebäude auf dem Hof. Und hinter einem hohen, aber durchsichtigen Bambuszaun liegt in einem Garten mit großer Rasenfläche das Wohnhaus von Theobald Kolber. Es sieht aus wie eine verkleinerte Ausführung des Hotels Fürst Bismarck. Mitten auf dem Rasen steht eine mannshohe Figur aus Holz mit Palmenblättern und Federn, halb Mensch, halb Riesenvogel. Eine Kultfigur des Tolai-Stammes von der Küste, wie Kleine später erfährt. Schon gegen sechs Uhr abends wird es dunkel. Der Südost-Passat, der tagsüber die warmfeuchte Luft vor sich hergetrieben hatte, schläft ein.

Bei Tagesanbruch donnern drei Kanonenschüsse über die Bucht. Ein Kreuzer des großen deutschen Kaisers signalisiert weithin hörbar seine Einsatzbereitschaft. Die Eingeborenen sollen eingeschüchtert werden, nachdem es unlängst zu einigen Überfällen auf weiße Pflanzer gekommen ist. Einer von Sebastian Kleines Mitbewohnern im Gästehaus schreit »Scheißmarine! Ruhe da draußen, verdammt noch mal!«

Vom Kanonendonner aufgeschreckt, kreischen und schnattern die beiden großen Papageien und die bunten, kleinen Vögel vor Anna Scharnhorsts Hotelzimmer durcheinander. Anna wacht schweißgebadet auf. Sie versucht, ihren Traum in Erinnerung zu behalten, und hat zugleich Angst davor: Als Missionsschwester ist sie in einem Urwalddorf gewesen, bei einem gefürchteten Kannibalenstamm. Die Menschenfresser waren mit Bögen und Speeren bewaffnet. Sie hatten schulterlanges, verfilztes Haar, in dem die Knochen ihrer getöteten Feinde steckten. Auch der Häuptling trug solchen Kriegsschmuck – doch er hatte eine helle Haut. Seine Augen waren blau. Sein Haar war blond. Als Anna ihn nach seinem Namen fragte, antwortete er auf Deutsch: »Ich bin Gustav Wilhelm Fischer.«

Als Anna diesen Namen hörte, hat sie laut geschrien.

Gustav Wilhelm Fischer – so hieß doch ihr leiblicher Vater. Sie hat den Namen ein Jahr vor ihrer Abreise zum ersten Mal heimlich in den alten Briefen gelesen, die ihre Mutter ganz unten in einem Wäscheschrank versteckt hatte.

Der letzte Tanz im Paradies

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